Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 11, November 2019


Unsere Oder

Lust, Leid und Schicksal-1.Fortsetzung aus NGA10/19 und Schluss

von Hans Niekrawietz und Hans J. Gatzka

 




Das Wasser der Oder blieb unser Element, auch später noch, als ich mit einem selbstgebauten Segel, das ich im Vorschiff eines Paddelbootes takelte, auf den überschwemmten Oderwiesen kenterte. Dieses Manöver ging nur deshalb gut aus, weil die Wiesen, je nach Bodenstruktur, meist nur knietiefes Wasser bedeckte - jedenfalls bei folgender Geschichte. Ein bodenloser Leichtsinn war es schon allein deshalb, weil ich nur eine, wenn überhaupt, ungenaue Vorstellung von der Kraft eines Segels, insbesondere aber vom Segeln überhaupt hatte. Mein Liege- und Startplatz war das Floß vor der Oderterrasse, welches auch dem Besitzer, Herrn Wieland, gehörte. Ich driftete also, ganz euphorisch gestimmt, weil das Segel gut stand, zunächst über die Stromoder, aus dem toten Flussarm kommend. Es war, wie gesagt Hochwasser, und die Strömung drückte mich wie eine Walze in Richtung Brücke. Da kam schon ein leichtes Schlucken auf, denn ich sah mich mutterseelenallein auf der Wasserfläche, die mir plötzlich aus der Perspektive des winzigen Paddelbootes unübersehbar schien. Ob ich Oberau noch wahrgenommen habe, scheint mir fraglich.
Da passierte es, denn Unsicherheit ist ein schlechter Steuermann und Angstgefühle haben an Bord wenig Sinn, wenn der Wind um die Ohren pfeift. Und er pfiff, denn es war Herbst! Eine Bö erfasste mein Segel, und anstatt die Schot aus der Hand zu lassen hielt ich gegen. Das Boot schlug um und ich stand - Neptun sei Dank - auf den Oderwiesen, bis zum Bauch im Wasser, nicht ohne vorher auch einen „Taucher' gemacht zu haben, also durch und durch. Im Oktober hatte die Oder jedoch keine Badetemperatur mehr! Als ich das Notwendige geborgen hatte, zum Glück auch das Paddel, zog ich nass und frierend, und ganz klein, wieder an das andere Ufer zurück, mit Kurs auf die Wieland'schen Terrassen.


>Die Eisenbahnbrücke über die Oder<

Eigentlich stellte ich mich gar nicht so dumm an im Umgang mit einem Boot, musste wohl aber - meine Erfahrungen am Objekt machen, und, weil es ja so einfach schien - welch' ein Irrtum - blieb es nicht bei dieser einen Kenterung. Nein es wurde noch gefährlicher als ich eines sonntags mit meinem Freund Rudi und seinem Koffergrammophon in die Oder stach. Bei schönstem Sonnenschein legten wir von besagtem Floß ab und paddelten mit kräftigem Schlag in Richtung Weidisch, also gegen die Strömung. Das erste Stück des in leichtem Linksbogen verlaufenden Durchstichs, bis wir die ersten Buhnen erreichten, war immer recht kräftezehrend. Weiter oberhalb, etwa ab dem Stichkanal, der rechts zur Schiffswerft führte, durchfuhren wir das meist stille Wasser in Ufernähe zwischen den Buhnen. Nur an den Buhnenköpfen musste man kraftvoll in die Paddel greifen und schnell reagieren, weil sonst die Bugspitze nach Steuerbord abdrehte. Diesen Trick hatte man aber schnell heraus, spätestens nach dem dritten Anlauf. Wir paddelten also unserem Sonntagsvergnügen entgegen bis uns die Landschaft zwischen zwei Buhnen gefiel. Dort gingen wir ins Sonnenbad, mit viel „Nivea-Nußöl“ und lauschten den Klängen des damals beliebtesten Vokalsextetts, den Comedian Harmonists oder vielleicht auch der nicht weniger populären Rosita Serrano mit der fast ein wenig frivolen Stimme. „Wochenend und Sonnenschein" so schepperte es bei aller Mühseligkeit eines Koffergrammophons damaliger Technik bis in den frühen Abend. Dann aber düsterte eine schwarze Wand aus der Richtung des Klautscher Lochs über den Oderwald und mahnte zum Aufbruch. Möglichst schnell musste es gehen und in der Hektik der ersten Paddelschläge schlugen auch schon einige unsanfte Böen über unsere Köpfe und als wir das Fahrwasser erreicht hatten, machte der Wind sein Spiel mit uns, die Tour wurde zur Tortur. Ein abwärts unter Motor fahrendes Schiff mit einem Lastkahn im Schlepp schien uns die Rettung. Mit hohem Tempo kam er heran und wir gingen in Position, am Beiboot des Schleppkahns festzumachen. (!) Welch' wahnwitzige Idee es war, wussten wir Sekunden später. Wir schafften zwar das Andockmanöver und konnten uns beide an der Bordwand des Beiboots festhalten aber der Sog des sehr schnell dahin-gurgelnden Motorkahnes war so stark, dass uns unser Paddelboot wie eine schlecht sitzende Unterhose vom Körper glitt. Wir retteten uns in das verzurrte Beiboot und sahen das kieloben schwimmende Gefährt in das rauschende Kielwasser des Schleppers abschaukeln, Paddel, Sitzkissen und -lehnen und alles, was das umschlagende Boot von sich gab, schwamm daneben oder dahinter, soweit es schwimmfähig war.
Mit einem Sprung ins Wasser versuchten wir zu retten, was zu retten war. Dabei wurden wir von einigen Wassersportlern, die von Land aus die Katastrophe bemerkt hatten, unterstützt. Sie waren ebenfalls in den Strom gesprungen, um zu helfen!


>Die Oder mit Blick auf das Schloss und die Hindenburgbrücke.
Zeichnung: Hans-J. Gatzka<

Innerhalb ganz kurzer Zeit war unser Boot geborgen und viele Teile seiner Innereien. Das Grammophon blieb jedoch auf dem Grund der Oder liegen als Wegezoll an Neptun entrichtet. Sein Plattenteller dreht sich noch heute zu seinem Pläsier und von der alten Schellackscheibe gurgelt noch immer Rosita ihren Hit von der Musik, die dazu spielt.
Des Dramas Höhepunkt sollte allerdings erst später zur wahren Horrorszene finden. Meines Freundes Schlüsselbund mit den Wohnungs- und Geschäftsschlüsseln, die ihm über das Wochenende anvertraut waren, mussten gleichfalls zum Treibgut geworden sein. Auch letzte Hoffnungen, sie hier oder dort noch aufzufinden, zerstoben im Abendwind. Den Gang der Geschichte, insbesondere am Montagmorgen auszumalen erübrigt sich, denn ich schreibe ja über unsere Oder.

Die Oderterrassen, der Ruderclub „Neptun" und ein Stück weiter des Weges, der Glogauer Segelclub, sollten bei dem wasserreichen Thema nicht unerwähnt bleiben. Bei den Ruderern und Seglern war ich leider nur Gast oder Zuschauer. Voller Bewunderung sah ich die schlanken Ruderboote in ihren Halterungen im Bootslager des Clubgebäudes hängen und so manche Crew vom Schwimmsteg ablegen.
Einige „Schläge" mit einer Jolle habe ich auch mit Rudi Wieland „über den Teich geschoben", aber so richtiges Segelvergnügen ließ wohl die Oder kaum zu. (?) - Man möge mir verzeihen, wenn ich das so schreibe. Ich habe nach dem großen Treck nach Westen schönere, fast klassische Reviere kennengelernt, auf denen die Kreuz- oder Holstrecke nicht durch Dammböschungen zu Wende oder Halse zwangen. Die Oderterrasse lernte ich schon als kleiner Bub kennen. Bei einem Feuerwerk war es, dessen schreckliche Knallerei, so schön diese auch anzusehen ist, mir ein für allemal die Lust daran verdarb. Noch heute vermag mich so ein pyrotechnisches Spektakel nicht einmal aus dem Sessel zu heben, um bis ans Fenster zu gehen. Vielleicht liegt das ja aber auch daran, dass mir die eisenhaltige Variante noch immer in den Knochen sitzt.
Unbesehen solcher Erinnerungen gab sich der nächtliche Blick von der erhöht liegenden Oderterrasse auf den Strom oftmals von märchenhafter Schönheit. Dann nämlich, wenn ein ganzer Schleppzug im leichten Bogen des Durchstichs vor Anker lag. Die Positionslichter der Schiffe, nicht selten acht oder zehn an der Zahl, lagen wie eine Lichterkette im spiegelnden Wasser. Wie ein Bühnenbild lag es vor den Oderwiesen, bis hoch hinauf in Richtung Weidisch
In der Oderterrasse machte ich auch meinen „Fahrtenschein" auf dem Tanzparkett. Irgendwann begann es, musste ja schließlich auch damit begonnen werden! Auch hier war die Oder dabei, die man selbst beim Tango nicht aus den Augen verlor. Die Synkopen des Saxophons, die dann gratis über den Strom zogen, werden auch die Schiffer erfreut haben, wenn sie ihren sommerlichen Feierabend vor Anker an Bord erlebten.


>Die Glogauer Jugend beim Eislauf auf der Oder<

Das Leben und Treiben auf unserer Oder war bestimmt von der Schifffahrt, die, so schien es, unaufhörlich berg- oder talwärts unterwegs war. Der Strom war zu einer bedeutenden Wirtschaftsader Deutschlands gewachsen.
1939 verkehrten 3202 Dampfer und Frachtschiffe auf der 650 Kilometer langen Schifffahrtsstrecke zwischen Cosel und Stettin. Sie beförderten ca. 1 Million to Güter, meist in Talfahrt. Das ergab oftmals auch Gedränge auf dem Wasser, bei dem die Rudergänger auf ihren Kähnen und Dampfern Maßarbeit leisten mussten, denn das Längenmaß der Oderschiffe lag zwischen 34,5 und 67.0 Metern. Havarien waren zwar die Seltenheit, aber nicht immer vermeidbar. So verlangte eine Stelle im Oderlauf, auf dem Glogauer Stadtgebiet, bis zu ihrer Beseitigung allerhöchste Aufmerksamkeit vom Mann am Ruder. Ein Pfeiler der Eisenbahnbrücke war ein gefürchtetes Hindernis, an dem, so erinnere ich mich, ein auf Talfahrt befindlicher, voll beladener Frachtkahn zerbrach.
Schlimm genug, einzugestehen, dass dieses tragische Unglück für uns Kinder eine Sensation war. Sowohl von der Brücke als auch vom Ufer am Schützenhaus konnten wir den Folgen der Katastrophe und den Rettungsarbeiten zuschauen. Der Kahn war regelrecht in zwei Stücke zerbrochen und lag mit seiner Ladung auf Grund. Das Heckteil mit der Kabine der Schiffersleute stand quer zum Flusslauf und war vom Druck des auflaufenden Wassers hoch umspült. Ich sehe noch die Schiffersfrau auf den Resten ihrer Habe stehen, ein Kind im Arm und einen Hund zur Seite. Angst und Entsetzen im Gesicht.
Die Enge der Fahrrinne, durch Niedrigwasser zum besonderen Risiko geworden, kostete des Schiffers Existenz. Auf diese oder ähnliche Weise konnte die Oder ihre Opfer auch unter den Fahrensleuten fordern.
Odergeschichten wie wir sie alle erlebten, die wir den Strom vor über fünf Jahrzehnten unseren Heimatstrom nennen durften - von Oderberg bis an das Stettiner Haff. […]


Oderschifffahrt

Freude soll die Schaffenden versöhnen,
fern von Alltag und Alltäglichkeit.
Ruht heut, ihr Maschinen, schweigt, Sirenen,
rede du allein, Vergangenheit!
Lob den Vätern, die den Anfang schufen
und die ruheloses Wanderblut
ferner Ahnen an den Fluß gerufen
und nur eins besaßen: Wagemut.
Treidler zogen ihre schweren Schuten
aus der Frühe in den Abend hin.
Doch aus Tagesmühn und Sonnengluten
wuchs der Söhne neuer Anbeginn.
Knirschend drehten sich die ersten Kräne,
Dampfer reckten ihre Schlote auf,
und die stillen Züge bunter Kähne
wandern flußab und flußhinauf.
Silos wuchsen aus dem Grund der Erde,
und die Werft erdröhnte in dem Lied
von des Menschen Mühsal und Beschwerde
und der Zeit, die wie der Strom entflieht.

Hans Niekrawietz




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