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Genau
besehen war besagter Platz die meiste Zeit des Jahres eine
versteppte Ödfläche, die sich am Schützenhaus vorbei bis hinunter an
das Oderufer ausbreitete. Eine Pflasterstraße und ein Bürgersteig
vor der Front des Schützenhauses endete abrupt, etwa 80 Meter vor
dem Flussufer. Ging man nach links, etwa 100 Meter weiter, mündete
der Platz in einen Uferweg, der nach Beichau führte.
Nach Osten wurde das Platzgebilde vom Bahndamm und der
Eisenbahnbrücke begrenzt, deren Gleise nach Fraustadt, Lissa und
weiter nach Posen führten. Stand man auf dieser wild-wuchernden
Grasnarbe mit dem Blick über die Oder, so bot sich allerdings ein
sehr eindrucksvolles Panorama. Die Brücke verschmolz mit dem Blick
zum Dom, wenn man nach rechts schaute. Fast geradeaus sah man in die
Mündung der Alten Oder, an deren Ufer sich der wuchtige Malakow über
die Landschaft in Richtung Rabsen abhob.
>Schützenhaus Glogau, Inh. Erich Paedelt<
Der Malakow und seine Umgebung stand oft im Mittelpunkt unserer
jugendlichen Entdeckerfreude. Einen uralten Baum gab es damals dort,
dessen Äste den Ufersaum überragten und uns zu munterem, vielleicht
auch nicht ganz ungefährlichem Spiel animierten. Wir kletterten
hinauf ins Geäst, hangelten uns bis über die Wasserfläche und ließen
uns in die Fluten der Alten Oder fallen.
>Oderpartie, Blick auf das Schützenhaus<
Zu buntem Leben und Treiben erwachte die verträumte Öde des
Schützenplatzes einmal im Jahr zum Pfingstfest. Dann spazierten und
flanierten wohl alle Glogauer, jung und alt, zum „Rummel" an der
Oder, in den er sich stets um diese Zeit verwandelte. Die Glogauer
Schützengilde von 1513 feierte mit großem Aufmarsch und Zeremoniell
ihr alljährliches Schützenfest. Um die Ehre des Schützenkönigs
wurden die Gewehre in der großen Schießhalle in Anschlag auf die
Scheiben, insbesondere auf die „Königsscheibe", gebracht. Gottlob zu
absolut friedlichem Vergnügen und der in Glogau ältesten Tradition
eines Vereins, einer Gilde, verbunden.
Die Entstehung der Schützengilde, so schrieb Heimatfreund Wilhelm
Herdzina im November 1963, geht auf die Bogenschützen, die St.
Sebastiansbrüder, später die Gilden der Armbrustschützen zurück. Sie
rekrutierten sich aus freien, angesehenen Bürgern der Stadt, die
bereit waren ohne Sold das Gemeinwesen zu schützen und zu
verteidigen. Volkstum, Brauch und Sitte waren die Pfeiler der
Heimatpflege, der sich die Schützenvereine und so auch die Glogauer
Schützengilde verpflichtet fühlten.
Vor diesem moralischen Hintergrund lässt sich auch das
Traditionszeremoniell begreifen, welches die Glogauer Schützen bei
ihrem alljährlichen Fest inszenierten. Geprägt durch die Privilegien
von 1534, deren letzte Fassungen im 18. Jahrhundert von Friedrich
dem Großen eine erweiterte Festschreibung erhielten, beging die
Glogauer Gilde ihr großes Schützenfest. Die ganze Stadt nahm Anteil
daran, es gehörte einfach zum Leben in unserer Heimat. Die Umzüge
und Aufmärsche mit den großen Blaskapellen, vor und nach der
Proklamation des Schützenkönigs fanden in aller Öffentlichkeit
statt. Es wurde zum Fest der Glogauer. Eingebunden in diese
Festlichkeiten waren auch die Stadtoberen bis hin zum
Oberbürgermeister und dem Stadtkommandanten.
Das große Schießfest mit dem Königsschießen fand in den
Baulichkeiten des Glogauer Schützenhauses statt. Dort befand sich
die große neue Schießhalle mit 50 Schießständen verschiedener Weiten
und Disziplinen von 50-180 m. Die neue Halle wurde im Jahre 1925,
wie es heißt, „in großzügigster Weise" erbaut. Anlässlich des
Gildefestes, welches immer am Donnerstag vor Pfingsten mit einem
festlichen Aufzug der Schützen begann, eröffnete auch das turbulente
Spektakel der Schausteller, die ihre Vergnügungswelt für die Bürger
der Stadt aufgebaut hatten. Betrat man über den Bahnübergang, nahe
dem alten Bahnhof, den Platz, klang einem unüberhörbar jenes
Tongemisch aus Orgel, Leierkasten und Lautsprechern entgegen, als
kämpften Note für Note gegeneinander. Die Melodien der letzten und
aktuellen Filmmusiken dröhnten dudelnd über den Platz. Das gesamte
Repertoire der Strauß- und anderer Walzerkönige kam von den Walzen
der Drehorgeln, vermischt mit dem Schnarren der Glücksräder. Das
Stakkato der Männer und Frauen, die hinter ihren knallbunten
Pappfassaden die großen „Weltsensationen" zu bieten hatten, füllte
den Rest der Vergnügungsarena. Ich sehe noch heute jenen Moderator
vor, besser über mir, der stets die Linnendessous der „Dicken Berta"
wie ein großes Tischtuch zur Animation des „geschätzten Publikums"
als Trophäe ausbreitete. Wenn ich, meiner Erinnerung folgend, mit
fünfzig Pfennig Taschengeld in der Faust über den Platz gehe, wird
das alles noch einmal sehr lebendig. Die ersten Schritte führten auf
der rechten Seite an einigen Ständen vorbei, die allerlei Tand feil
hielten, kaum etwas für Jungen in meinem Alter. Schon eher
interessierte mich auf der linken Seite ein mittelgroßes Karussell,
dessen Betreiber immer auf der Suche nach „preiswerten
Antriebskräften" war. Das Schmuckstück hatte nämlich keinen Motor
für seinen Drehbetrieb. Es musste oberhalb der bunten Verkleidung,
von einem Laufboden aus, in Bewegung gebracht werden. 2-3 Jungen
konnten das Karussell ganz gut und ohne größeren Kraftaufwand in
Schwung bringen. Auf Kommando vom Chef des Karussells legten wir uns
„in die Riemen", das heißt, wir schoben das Ding auf seinen
Rundkurs, bis die kleinen Reiter und Feuerwehrfahrer vor Vergnügen
jubelten. Das Abbremsen des Karussells war ebenfalls „Chefsache",
denn die drehende Schwungmasse entwickelte enorme Kräfte.
Gegen Honorar, dessen Höhe mir heute nicht mehr geläufig ist, habe
ich mich manchmal, je nach Lage der Eigenfinanzen, für 2-3 Stunden
auf den Betriebsboden verdingt. Mit dem jeweiligen Erlös ging ich
dann an das andere Ende des Platzes in Richtung Beichau. Dort
nämlich stand der Autoscooter. Damals Inbegriff von Hochtechnik auf
einem Rummelplatz. Für uns Knaben der Superlativ des Vergnügens. Die
ersten Fahrversuche hinter einem richtigen Autolenkrad fanden somit
hinter dem Schützenhaus statt, wenngleich mit elektrischem Antrieb
und auf begrenzter Fläche.
In Nachbarschaft zu diesem Autospaß stand meist die Achterbahn oder
das Riesenrad. Beide Fahrgeschäfte hatten damals schon erhebliche
Ausmaße. Man konnte sie nicht überhören, besonders den Betrieb der
Achterbahn, deren Fahrgäste ihr Fahrgefühl im Auf und Ab der Wagen
lautstark artikulierten. Luftschaukeln, Wurststände und Eisbuden,
machten die Entscheidung, wofür nun letzten Endes auch der letzte
Groschen auszugeben sei, nicht leichter. „Türkischer Honig",
erinnere ich mich, lag rosa und weiß schimmernd in einem mächtigen
Block auf einem Holzbock. Mit einem besonderen Messer, das aussah
wie ein Halbmond, schabte jemand mit rotem Kopfputz etwas von dem
süßen Honigblock in ein Papier. Welch ein exotischer Genuss! Eine
ganz besondere Eisspezialität wurde am Ende der Pflasterstraße auf
der rechten Seite, vor Augen der Eisliebhaber zubereitet. Mehrere
Eismaschinen drehten sich ständig im Hintergrund des Eisstandes,
deren Rührwerke jeweils gleichzeitig eine Scheibe rotieren ließen,
auf denen spiralförmige Linien aufgebracht waren. Bei der schnellen
Drehbewegung der Scheiben ergab sich der optisch reizvolle Effekt
einer Endlosspirale. Das Kettenkarussell, flankiert von der
Riesenstellage einer Los-„bude", vollgepackt mit Tand und
Jahrmarktkitsch, stand zur Brücke hin und sorgte für so manches
Unwohlsein, dem man, einmal im Kettensitz hängend und festgezurrt
nicht mehr entfliehen konnte. „Das Karussell, es dreht sich immer,
immer rundherum ...", ein Schlager dieser Zeit, mag heute noch
solch' flaue Erinnerungen wachrufen. Der Blick hinunter „auf das
Volk" wurde zur drehenden Schieflage mit rasch wechselnder
Bildfolge. Von den Oderbrücken bis zur Stadtkulisse, den Rummelplatz
und wieder über die Oder von vorn flog man in den Hängesitz
gepresst. Schießbuden, „drei Schuss 30 Pfennig hier"! - Eine
Papierrose mit Glimmerrändern und ähnliches forderten die Ehre
mannhafter Kavaliere heraus und so manches Mal war dann die „Knarre"
schuld, wenn die Rose nicht vom Stengel fiel. In einem Irrgarten
oder Lachkabinett, ein aus Zerrspiegeln angelegtes Labyrinth, konnte
man sein eigenes Konterfei auf die Maße von Oliver Hardy bis Charly
Chaplin bringen, alle Zwischenmaße eingeschlossen.
>Schützenfest in Glogau<
„Auf den Lucas" konnte man am Oderufer hauen. Sich mit dem
Holzhammer abreagieren bis es oben knallte an der Kraftmesslatte.
Ich habe solches besser nicht probiert, denn meine Statur war zu
diesen Zeiten eigentlich gar keine. Der „Lucasmann“ hätte mir wohl
den Hammer auch für's doppelte Geld nicht in die Hand gegeben.
„Komm' wieder, wenn Du etwas auf den Rippen hast", würde er wohl
gesagt haben. Deshalb sah ich mir das Zelt mit den „stärksten
Männern der Welt" auch nur von außen an und bewunderte die
Muskelprotze mit ihrem athletischen Gehabe auf der Bühne vor dem
Zelt. Immer wieder riskierten waghalsige Herausforderer aus „dem
geschätzten Publikum" einen Kampf mit einem dieser Mannsbilder im
knappen Dress über der Heldenbrust.
Mich interessierte und faszinierte inzwischen viel mehr die Bemalung
der Pappfassaden dieser Schau- oder Scheinwelt. Ein undefinierbarer
Plakatismus kam in diesen Bemalungen zum Ausdruck, der so ziemlich
vor nichts zurückschreckte. Romantische Szenen voller Blüten und
Blumen. Elfenhafte Traumgestalten in üppiger Aufmachung und wehenden
Schleiern wechselten mit den dramatischen Bildern verstoßener Liebe
und den Rachegebärden der Rivalen. Anleihen in der Klassik und aus
dem Stilkatalog vieler anderer Epochen färbten die Verkleidungen der
Zelte und Buden.
So schön, so bunt, so fernvergessen. Nie wieder war es so schön auf
einem Schützenfest wie in unserem Glogau an der Oder.
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