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Während
dieser Berliner Zeit entdeckte ich die Fähigkeit zu einer
übersinnlichen Wahrnehmung. Ich bekam in meinem Oberbauch immer
wieder ein merkwürdiges, vorher nie gekanntes Gefühl der Unruhe. Es
erfolgten nicht täglich Angriffe auf Berlin. Aber ich bemerkte, dass
dieses Gefühl unabhängig von meinen Wetter- und Windkenntnissen
immer an Tagen auftrat, an denen in der folgenden Nacht ein schwerer
Angriff auf Berlin geflogen wurde, bei dem die gegnerischen
Flugzeuge über unsere Stellung die Stadt anflogen. Das war so
regelmäßig, dass ich meinen Kameraden auf Grund dieses Gefühls die
Voraussage machte, dass in der Nacht wieder ein schwerer Angriff
erfolgen würde. Diese Voraussagen trafen mit 100%iger Sicherheit
danach ein. Ich muss also auf irgendeine Weise gespürt haben, wenn
die feindlichen Flieger ihre Einsatzbefehle für den nächsten
Berlinangriff erhielten und mit den entsprechenden Vorbereitungen
dazu begannen. Dieses Phänomen habe ich nur in Berlin erlebt und
später nie mehr bei einer anderen Gelegenheit.
In der ersten Zeit in Berlin kamen die feindlichen Angriffe
weiterhin immer in der Nacht. Deshalb erhielten wir bei Tage
mehrfach die Erlaubnis unseres Batteriechefs, die Stellung zu
Stadtausfahrten zu verlassen. Am Sonntagvormittag durften wir mit
Bus und S-Bahn nach Köpenick zum Gottesdienst fahren. Einmal bekamen
wir in der Woche einen freien Nachmittag, der um 12 h beginnen
sollte. Ich hatte mich erkundigt, dass die Opernaufführungen in der
„Staatsoper Unter den Linden“ wegen der dauernden abendlichen
Fliegeralarme mittags um 13 h begannen. Da wir über eine Stunde für
die Anfahrt zur Oper benötigten und außerdem mindestens dreißig
Minuten vor Aufführungsbeginn im Opernhaus sein mussten, um noch
Karten zu bekommen, schwindelten wir unserm Chef vor, wir hätten
schon Karten für eine Aufführung. So wurde uns erlaubt, bereits um
11 h in die Stadt zu fahren. Sieben Jungens von uns waren zur dieser
Fahrt aufgebrochen. Vor der Opernkasse stand bereits eine lange
Schlange, so dass unsere Hoffnung, noch Karten zu bekommen erheblich
sank. Aber plötzlich sprach mich ein Offizier an und fragte, ob ich
Karten brauchte. Ich sagte ja, aber ich hätte am liebsten sieben
Karten. Da gab er mir zur Antwort: „Ich habe genau sieben Karten,
drei im ersten Rang und vier im obersten Rang.“ Wir waren
überglücklich und erlebten eine friedensmäßige Aufführung von
Mozarts „Figaros Hochzeit“ mit Maria Cebotari in der Rolle der
Susanna und Willi Domgraf-Fassbaender als Figaro. Das war eine
wunderbare Aufführung und mein letztes Opernerlebnis vor dem
Kriegsende.
Ab April 1944 flogen Amerikaner und Briten Tagesangriffe auf
Deutschland. Ich konnte den Flugzeugen mit meinem Zielfernrohr in
die Bombenschächte sehen und wusste, dass unsere 8,8-Flakgeschütze
nur bis in eine Höhe von etwas über 8 000 m schießen konnten.
Höher flogen unsere Granaten nicht. Ich wusste auch als Mitglied am
Kommandogerät, dass die Flugzeuge inzwischen in einer Höhe von
10 000 m ihre Angriffe flogen. Wir konnten nur „Sperrfeuer“
schießen, also Schüsse abgeben, die unterhalb der feindlichen
Flugzeuge explodierten, was wenig wirkungsvoll war. Nur die größten
Flakgeschütze mit Kaliber 12,8 cm erreichten diese Höhe. Aber davon
gab es nur vier Geschütze auf dem Berliner Zoobunker und eine
Eisenbahnbatterie. Das war viel zu wenig für eine wirksame
Verteidigung der deutschen Hauptstadt.
Oben hatte ich schon von dem Bombenangriff berichtet, bei dem die
große Wohnbaracke unserer Nachbarbatterie zerstört wurde. Unser
Betreuungslehrer Reichel wohnte nur 500 m von unserer Stellung
entfernt in einem Privathaus zur Untermiete. Aus Furcht, dass ein
Blindgänger hochgehen und ihn verletzen könnte, traute er sich nach
diesem Angriff drei Tage lang nicht, in unsere Stellung zu kommen
und nach uns zu sehen. Eine Gruppe unserer Mütter war eher bei uns,
als er. Das war meiner Mutter zu viel. Sie fuhr mit einer anderen
Mutter nach Breslau zum Provinzial-Schulkollegium und bewirkte dort,
dass Herr Studienrat Reichel im Mai 1944 von uns abgezogen wurde.
Wir wurden zu dieser Zeit ein letztes Mal verlegt. Wir kamen von
unserer Batterie fort und wurden in der polnischen Provinz Posen zum
Schutz eines Flugplatzes nahe der Stadt Schroda eingesetzt. Hier
waren wir mit leichten Flakgeschützen ausgerüstet, die nur gegen
Tiefflieger eingesetzt werden konnten. Diese Geschütze hatten
Granaten vom Kaliber 3,7 cm. Als Betreuungslehrer erhielten wir
Herrn Studienrat Dr. Alois Schnabel, den besten Lehrer unserer
Schule. Er unterrichtete uns in Deutsch und Latein, in Griechisch,
Geschichte, Erdkunde und natürlich in seinem Spezialfach Musik.
Außer uns Glogauern waren auch Gymnasiasten aus Hirschberg an diesem
Flugplatz eingesetzt. Sie wurden von einem sehr guten Mathematik-
und Physiklehrer betreut, der auch uns unterrichtete. Er verstand
es, mit wenigen Hilfsmitteln wie einem Bierdeckel, einer Spiralfeder
und einem Magneten uns physikalische Vorgänge eindrucksvoll
darzustellen, so dass wir sie auch ohne echte Experimente begreifen
konnten. Durch diese beiden hervorragenden Lehrer hatten wir von
Montag bis Freitag täglich fünf Stunden richtigen, guten Unterricht.
Am Nachmittag hatten wir Zeit, unsere Schulaufgaben zu machen und
richtig zu lernen. Nach der großen Enttäuschung durch Herrn Reichel
haben wir in dieser Zeit wirklich noch sehr viel gelernt. Als wir im
September 1944 von der Flak entlassen wurden, erhielten wir die
Versetzung in die oberste Klasse. Damit bekamen wir, als wir zum
Militär eingezogen wurden, den „Reifevermerk“. Das war eine
Bescheinigung unserer Schule, die zum Ausdruck brachte, dass zu
erwarten sei, dass wir bei normalem Schulverlauf das Abitur
erfolgreich bestanden hätten. Diese Bescheinigung berechtigte schon
zum Studium an der Universität.
Militärdienst hatten wir nur am Samstag, an dem wir exerzierten,
Geschützreinigung vornahmen und auch theoretische Schießübungen am
Geschütz durchführten. Unser Zugführer war Her Wachtmeister
Durstmüller aus dem österreichischen Waldviertel. Er war ein
einfältiger Mensch. An unserm Flugplatz hatten wir in den Baracken
keinen elektrischen Strom, sondern Petroleumlampen. Wir waren ohne
Radio, denn Batterie-Radios gab es damals noch nicht. Zeitungen
kamen zu uns erst mit einigen Tagen Verspätung. So erfuhren wir von
dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erst drei Tage später durch
Urlauber, die wieder zu uns zurückkehrten. Als Herr Durstmüller von
dem Attentat hörte, war sein öffentlich ausgesprochener Kommentar:
„Nu, wehns geglückt wäre, dann wären wir jetzt alle zu Hohse!
(Hause)“.
Um unsern Flugplatz standen viele Bombenflugzeuge und es lagen
Bomben in Stapeln in deren Nähe. Die Flugzeugbesatzungen waren
erfahrene, hochdekorierte Flieger. Aber es gab kein Flugbenzin für
die Maschinen. Nur alle zwei bis drei Wochen wurden die Motoren
angelassen, damit sie wieder einmal durchgeschmiert wurden und
weiterhin einsatzfähig blieben. Lediglich unser Batteriechef und der
Flugplatzkommandant leisteten es sich, ab und zu mit einem Fieseler
Storch einen kleinen Rundflug zu unternehmen. Es gab einige
„Giganten“ an unserm Platz. Das waren große wie Segelflugzeuge
gebaute Transportflugzeuge, in denen ein ganzes großes Flakgeschütz
oder ein Lastwagen befördert werden konnte. Diese Flugzeuge waren
ursprünglich für eine Invasion in England gebaut worden und sollten
als Segelflugzeuge mit Lasten beladen von entsprechenden
Motorflugzeugen nach England geschleppt werden, wo sie selbständig
landen sollten. Nachdem sie nicht zum Einsatz gekommen waren, hatte
man sie nach dem Frankreichfeldzug mit je sechs französischen
Beutemotoren bestückt. An unserm Flugplatz wurden Flugzeugführer im
Fliegen dieser Maschinen ausgebildet. Aber die Motoren gerieten sehr
leicht in Brand. Beim Anlassen der Motoren richtete jedes Mal die
Platzfeuerwehr ihre Rohre auf den anzulassenden Motor, damit sie im
Brandfalle sofort löschen konnten. Der Prüfungsflug für diese
Flugzeugführer sollte von Schroda nach Österreich gehen. Unser
Wachtmeister Durstmüller versuchte zweimal, durch so einen
Prüfungsflug in seine österreichische Heimat zu einem Kurzurlaub zu
kommen. Beim ersten Mal kam er aber nur bis Schlesien. Dort musste
das Flugzeug notlanden wegen brennender Motoren. Beim zweiten
Versuch kam das Flugzeug bis in die Tschechei und musste dort aus
dem gleichen Grund notlanden. Herr Durstmüller kehrte danach mit dem
Zug wieder zu uns zurück.
Unser Flugplatz Schroda lag einige Kilometer von der Stadt Schroda
entfernt. Da wir in ständiger Alarmbereitschaft sein mussten,
durften wir unsere Stellung nicht verlassen. So konnten wir an Sonn-
und Feiertagen keinen Gottesdienst in einer Kirche mitfeiern. Unser
Glogauer Kaplan Heinrich Theissing hatte uns auf solche Situationen
vorbereitet. Er hatte für uns eine Messandacht ausgearbeitet, bei
der wir mit Hilfe des Schott-Messbuchs alle Messtexte beten und
aufnehmen konnten. So versammelte ich an jedem Sonntag eine Gruppe
von Interessierten um mich und zog mich mit ihnen an einen stillen
Ort zurück, wo wir gemeinsam eine Messandacht hielten nach dem
Motto: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin
ich mitten unter ihnen.“ Wir sangen zur Einleitung gemeinsam ein
Kirchenlied und beteten die Gebete der Heiligen Messe gestützt auf
den Schott durch, hörten die Lesung und das Evangelium. An Stelle
der Wandlung beteten wir sinngemäß: „Herrgott, durch die
gegenwärtigen Umstände können wir heute leider nicht an einer von
einem Priester gefeierten heiligen Messe teilnehmen. Aber in unserer
Heimatgemeinde wird die heilige Messe auch für uns
mitgefeiert. Schließe uns in diese Messfeier mit ein und lass
uns an den Gnaden dieses heiligen Opfers teilhaben, auch wenn wir
jetzt viele Kilometer entfernt von unserer Heimat sind. Und gib uns
bald wieder die Gelegenheit, real an der heiligen Messe
teilzunehmen.“ Auf diese Weise haben wir versucht, den Sonntag zu
heiligen. In dieser Zeit bin ich mit meinen Freunden Bernhard
Streibel und Gerhard Lakomy sehr zusammengewachsen.
In der Zeit am Flugplatz Schroda erlebten wir keinen Fliegerangriff.
Nur einmal beobachteten wir von weitem mit Ferngläsern einen
abfliegenden Bomberverband, der einen Angriff auf Oberschlesien
geflogen hatte. Aber dieser ließ uns erfreulicherweise unbeachtet. -
Wir hatten in Schroda keinen Ausgang. Um uns etwas Abwechslung und
Unterhaltung zu bieten, durften wir ab und zu einen Film im
Flugplatzkasino anschauen. So wurden uns damals u.a. die
Rühmann-Filme: „Die Feuerzangenbowle“ und „Quax, der Bruchpilot“
gezeigt. In diesem Kasino gab es plötzlich Zigaretten zu kaufen, die
auch an Rauch erpichte Luftwaffenhelfer abgegeben wurden. Es zeigte
sich aber, dass diese Zigaretten schimmelig waren und deshalb den
Rauchern keine allzugroße Freude bereiteten. – Meine Mutter kam mich
mit meinen Geschwistern im Sommer 1944 zweimal in Schroda besuchen.
Sie fand in der Stadt in einem Hotel dazu ein Quartier und ließ sich
mit einer Taxe zu unserer Stellung fahren. Von hier aus durften wir
einen nahegelegenen großen Gutshof mit einem schönen obstreichen
Garten besuchen, in dem ich zum ersten Male schwarze Johannisbeeren
sehen und kosten konnte.
Im August 1944 fingen wir an, uns auf einen Erdkampf vorzubereiten.
Wichtige Ziele in unserer Umgebung wurden angemessen und ihr
Beschuss theoretisch durchgeprobt. Gott sei Dank brauchten wir das
nie praktisch anwenden, denn ehe die Russen in diese Gegend
vordrangen, wurden wir am 8.September 1944 von der Flak entlassen
und durften als Zivilisten nach Hause fahren. Hier dauerte es für
mich bis Anfang November, bis ich zum Reichsarbeitsdienst und
anschließend ab 6.1.1945 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Die freie
Zeit bis zum Beginn des Arbeitsdienstes nutzte ich weiter zu eigenen
Studien der anorganischen und organischen Chemie im Hinblick auf ein
späteres Medizinstudium, bei dem ich entsprechende Kenntnisse in
diesen Fächern aufweisen musste.
Ähnliche Gemeinschaftserfahrungen wie wir Glogauer Gymnasiasten
haben wohl die meisten Luftwaffenhelfer erworben. Das zeigte sich
mir beim Arbeitsdienst, den ich in Schlesien in dem Dorf Korsenz bei
Trachenberg abzuleisten hatte. Von unserer Flakeinheit waren wir nur
noch sechs gemeinsam in dieser Einheit. Die anderen stammten zum
großen Teil aus Westdeutschland und sollten einmal Gelegenheit
haben, nicht dauernd Luftangriffe zu erleben. In meiner
Arbeitsdiensteinheit von etwa 200 Mann aber waren Dreiviertel
ehemalige Luftwaffenhelfer. Obwohl wir uns erst in Korsenz kennen
lernten, waren wir ehemaligen Luftwaffenhelfer binnen kurzem eine
verschworene Gemeinschaft, die sich gemeinsam gegen Schikanen
unserer Vorgesetzten zur Wehr setzen und sich nicht alles gefallen
ließen. Wer von den Vorgesetzten mit uns gut auskommen wollte und
erreichen wollte, die uns gesetzten Ziele zu erreichen, der musste
uns anständig behandeln. Wer uns schikanierte, biss bei uns auf
Stein. Dieses Gefühl: Zusammenhalt macht stark, war eine wichtige
Erfahrung für unser ganzes Leben.
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