Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2019

Glogauer Gymnasiasten als Luftwaffenhelfer im 2. Weltkrieg

 Fortsetzung aus NGA 3/2019

von Dr. Karl-Maria Heidecker

 




Während dieser Berliner Zeit entdeckte ich die Fähigkeit zu einer übersinnlichen Wahrnehmung. Ich bekam in meinem Oberbauch immer wieder ein merkwürdiges, vorher nie gekanntes Gefühl der Unruhe. Es erfolgten nicht täglich Angriffe auf Berlin. Aber ich bemerkte, dass dieses Gefühl unabhängig von meinen Wetter- und Windkenntnissen immer an Tagen auftrat, an denen in der folgenden Nacht ein schwerer Angriff auf Berlin geflogen wurde, bei dem die gegnerischen Flugzeuge über unsere Stellung die Stadt anflogen. Das war so regelmäßig, dass ich meinen Kameraden auf Grund dieses Gefühls die Voraussage machte, dass in der Nacht wieder ein schwerer Angriff erfolgen würde. Diese Voraussagen trafen mit 100%iger Sicherheit danach ein. Ich muss also auf irgendeine Weise gespürt haben, wenn die feindlichen Flieger ihre Einsatzbefehle für den nächsten Berlinangriff erhielten und mit den entsprechenden Vorbereitungen dazu begannen. Dieses Phänomen habe ich nur in Berlin erlebt und später nie mehr bei einer anderen Gelegenheit.

In der ersten Zeit in Berlin kamen die feindlichen Angriffe weiterhin immer in der Nacht. Deshalb erhielten wir bei Tage mehrfach die Erlaubnis unseres Batteriechefs, die Stellung zu Stadtausfahrten zu verlassen. Am Sonntagvormittag durften wir mit Bus und S-Bahn nach Köpenick zum Gottesdienst fahren. Einmal bekamen wir in der Woche einen freien Nachmittag, der um 12 h beginnen sollte. Ich hatte mich erkundigt, dass die Opernaufführungen in der „Staatsoper Unter den Linden“ wegen der dauernden abendlichen Fliegeralarme mittags um 13 h begannen. Da wir über eine Stunde für die Anfahrt zur Oper benötigten und außerdem mindestens dreißig Minuten vor Aufführungsbeginn im Opernhaus sein mussten, um noch Karten zu bekommen, schwindelten wir unserm Chef vor, wir hätten schon Karten für eine Aufführung. So wurde uns erlaubt, bereits um 11 h in die Stadt zu fahren. Sieben Jungens von uns waren zur dieser Fahrt aufgebrochen. Vor der Opernkasse stand bereits eine lange Schlange, so dass unsere Hoffnung, noch Karten zu bekommen erheblich sank. Aber plötzlich sprach mich ein Offizier an und fragte, ob ich Karten brauchte. Ich sagte ja, aber ich hätte am liebsten sieben Karten. Da gab er mir zur Antwort: „Ich habe genau sieben Karten, drei im ersten Rang und vier im obersten Rang.“ Wir waren überglücklich und erlebten eine friedensmäßige Aufführung von Mozarts „Figaros Hochzeit“ mit Maria Cebotari in der Rolle der Susanna und Willi Domgraf-Fassbaender als Figaro. Das war eine wunderbare Aufführung und mein letztes Opernerlebnis vor dem Kriegsende.

Ab April 1944 flogen Amerikaner und Briten Tagesangriffe auf Deutschland. Ich konnte den Flugzeugen mit meinem Zielfernrohr in die Bombenschächte sehen und wusste, dass unsere 8,8-Flakgeschütze nur bis in eine Höhe von etwas über 8 000 m schießen konnten. Höher flogen unsere Granaten nicht. Ich wusste auch als Mitglied am Kommandogerät, dass die Flugzeuge inzwischen in einer Höhe von 10 000 m ihre Angriffe flogen. Wir konnten nur „Sperrfeuer“ schießen, also Schüsse abgeben, die unterhalb der feindlichen Flugzeuge explodierten, was wenig wirkungsvoll war. Nur die größten Flakgeschütze mit Kaliber 12,8 cm erreichten diese Höhe. Aber davon gab es nur vier Geschütze auf dem Berliner Zoobunker und eine Eisenbahnbatterie. Das war viel zu wenig für eine wirksame Verteidigung der deutschen Hauptstadt.

Oben hatte ich schon von dem Bombenangriff berichtet, bei dem die große Wohnbaracke unserer Nachbarbatterie zerstört wurde. Unser Betreuungslehrer Reichel wohnte nur 500 m von unserer Stellung entfernt in einem Privathaus zur Untermiete. Aus Furcht, dass ein Blindgänger hochgehen und ihn verletzen könnte, traute er sich nach diesem Angriff drei Tage lang nicht, in unsere Stellung zu kommen und nach uns zu sehen. Eine Gruppe unserer Mütter war eher bei uns, als er. Das war meiner Mutter zu viel. Sie fuhr mit einer anderen Mutter nach Breslau zum Provinzial-Schulkollegium und bewirkte dort, dass Herr Studienrat Reichel im Mai 1944 von uns abgezogen wurde.

Wir wurden zu dieser Zeit ein letztes Mal verlegt. Wir kamen von unserer Batterie fort und wurden in der polnischen Provinz Posen zum Schutz eines Flugplatzes nahe der Stadt Schroda eingesetzt. Hier waren wir mit leichten Flakgeschützen ausgerüstet, die nur gegen Tiefflieger eingesetzt werden konnten. Diese Geschütze hatten Granaten vom Kaliber 3,7 cm. Als Betreuungslehrer erhielten wir Herrn Studienrat Dr. Alois Schnabel, den besten Lehrer unserer Schule. Er unterrichtete uns in Deutsch und Latein, in Griechisch, Geschichte, Erdkunde und natürlich in seinem Spezialfach Musik. Außer uns Glogauern waren auch Gymnasiasten aus Hirschberg an diesem Flugplatz eingesetzt. Sie wurden von einem sehr guten Mathematik- und Physiklehrer betreut, der auch uns unterrichtete. Er verstand es, mit wenigen Hilfsmitteln wie einem Bierdeckel, einer Spiralfeder und einem Magneten uns physikalische Vorgänge eindrucksvoll darzustellen, so dass wir sie auch ohne echte Experimente begreifen konnten. Durch diese beiden hervorragenden Lehrer hatten wir von Montag bis Freitag täglich fünf Stunden richtigen, guten Unterricht. Am Nachmittag hatten wir Zeit, unsere Schulaufgaben zu machen und richtig zu lernen. Nach der großen Enttäuschung durch Herrn Reichel haben wir in dieser Zeit wirklich noch sehr viel gelernt. Als wir im September 1944 von der Flak entlassen wurden, erhielten wir die Versetzung in die oberste Klasse. Damit bekamen wir, als wir zum Militär eingezogen wurden, den „Reifevermerk“. Das war eine Bescheinigung unserer Schule, die zum Ausdruck brachte, dass zu erwarten sei, dass wir bei normalem Schulverlauf das Abitur erfolgreich bestanden hätten. Diese Bescheinigung berechtigte schon zum Studium an der Universität.

Militärdienst hatten wir nur am Samstag, an dem wir exerzierten, Geschützreinigung vornahmen und auch theoretische Schießübungen am Geschütz durchführten. Unser Zugführer war Her Wachtmeister Durstmüller aus dem österreichischen Waldviertel. Er war ein einfältiger Mensch. An unserm Flugplatz hatten wir in den Baracken keinen elektrischen Strom, sondern Petroleumlampen. Wir waren ohne Radio, denn Batterie-Radios gab es damals noch nicht. Zeitungen kamen zu uns erst mit einigen Tagen Verspätung. So erfuhren wir von dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erst drei Tage später durch Urlauber, die wieder zu uns zurückkehrten. Als Herr Durstmüller von dem Attentat hörte, war sein öffentlich ausgesprochener Kommentar: „Nu, wehns geglückt wäre, dann wären wir jetzt alle zu Hohse! (Hause)“.

Um unsern Flugplatz standen viele Bombenflugzeuge und es lagen Bomben in Stapeln in deren Nähe. Die Flugzeugbesatzungen waren erfahrene, hochdekorierte Flieger. Aber es gab kein Flugbenzin für die Maschinen. Nur alle zwei bis drei Wochen wurden die Motoren angelassen, damit sie wieder einmal durchgeschmiert wurden und weiterhin einsatzfähig blieben. Lediglich unser Batteriechef und der Flugplatzkommandant leisteten es sich, ab und zu mit einem Fieseler Storch einen kleinen Rundflug zu unternehmen. Es gab einige „Giganten“ an unserm Platz. Das waren große wie Segelflugzeuge gebaute Transportflugzeuge, in denen ein ganzes großes Flakgeschütz oder ein Lastwagen befördert werden konnte. Diese Flugzeuge waren ursprünglich für eine Invasion in England gebaut worden und sollten als Segelflugzeuge mit Lasten beladen von entsprechenden Motorflugzeugen nach England geschleppt werden, wo sie selbständig landen sollten. Nachdem sie nicht zum Einsatz gekommen waren, hatte man sie nach dem Frankreichfeldzug mit je sechs französischen Beutemotoren bestückt. An unserm Flugplatz wurden Flugzeugführer im Fliegen dieser Maschinen ausgebildet. Aber die Motoren gerieten sehr leicht in Brand. Beim Anlassen der Motoren richtete jedes Mal die Platzfeuerwehr ihre Rohre auf den anzulassenden Motor, damit sie im Brandfalle sofort löschen konnten. Der Prüfungsflug für diese Flugzeugführer sollte von Schroda nach Österreich gehen. Unser Wachtmeister Durstmüller versuchte zweimal, durch so einen Prüfungsflug in seine österreichische Heimat zu einem Kurzurlaub zu kommen. Beim ersten Mal kam er aber nur bis Schlesien. Dort musste das Flugzeug notlanden wegen brennender Motoren. Beim zweiten Versuch kam das Flugzeug bis in die Tschechei und musste dort aus dem gleichen Grund notlanden. Herr Durstmüller kehrte danach mit dem Zug wieder zu uns zurück.

Unser Flugplatz Schroda lag einige Kilometer von der Stadt Schroda entfernt. Da wir in ständiger Alarmbereitschaft sein mussten, durften wir unsere Stellung nicht verlassen. So konnten wir an Sonn- und Feiertagen keinen Gottesdienst in einer Kirche mitfeiern. Unser Glogauer Kaplan Heinrich Theissing hatte uns auf solche Situationen vorbereitet. Er hatte für uns eine Messandacht ausgearbeitet, bei der wir mit Hilfe des Schott-Messbuchs alle Messtexte beten und aufnehmen konnten. So versammelte ich an jedem Sonntag eine Gruppe von Interessierten um mich und zog mich mit ihnen an einen stillen Ort zurück, wo wir gemeinsam eine Messandacht hielten nach dem Motto: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Wir sangen zur Einleitung gemeinsam ein Kirchenlied und beteten die Gebete der Heiligen Messe gestützt auf den Schott durch, hörten die Lesung und das Evangelium. An Stelle der Wandlung beteten wir sinngemäß: „Herrgott, durch die gegenwärtigen Umstände können wir heute leider nicht an einer von einem Priester gefeierten heiligen Messe teilnehmen. Aber in unserer Heimatgemeinde wird die heilige Messe auch für uns mitgefeiert.  Schließe uns in diese Messfeier mit ein und lass uns an den Gnaden dieses heiligen Opfers teilhaben, auch wenn wir jetzt viele Kilometer entfernt von unserer Heimat sind. Und gib uns bald wieder die Gelegenheit, real an der heiligen Messe teilzunehmen.“ Auf diese Weise haben wir versucht, den Sonntag zu heiligen. In dieser Zeit bin ich mit meinen Freunden Bernhard Streibel und Gerhard Lakomy sehr zusammengewachsen.

In der Zeit am Flugplatz Schroda erlebten wir keinen Fliegerangriff. Nur einmal beobachteten wir von weitem mit Ferngläsern einen abfliegenden Bomberverband, der einen Angriff auf Oberschlesien geflogen hatte. Aber dieser ließ uns erfreulicherweise unbeachtet. - Wir hatten in Schroda keinen Ausgang. Um uns etwas Abwechslung und Unterhaltung zu bieten, durften wir ab und zu einen Film im Flugplatzkasino anschauen. So wurden uns damals u.a. die Rühmann-Filme: „Die Feuerzangenbowle“ und „Quax, der Bruchpilot“ gezeigt. In diesem Kasino gab es plötzlich Zigaretten zu kaufen, die auch an Rauch erpichte Luftwaffenhelfer abgegeben wurden. Es zeigte sich aber, dass diese Zigaretten schimmelig waren und deshalb den Rauchern keine allzugroße Freude bereiteten. – Meine Mutter kam mich mit meinen Geschwistern im Sommer 1944 zweimal in Schroda besuchen. Sie fand in der Stadt in einem Hotel dazu ein Quartier und ließ sich mit einer Taxe zu unserer Stellung fahren. Von hier aus durften wir einen nahegelegenen großen Gutshof mit einem schönen obstreichen Garten besuchen, in dem ich zum ersten Male schwarze Johannisbeeren sehen und kosten konnte.

Im August 1944 fingen wir an, uns auf einen Erdkampf vorzubereiten. Wichtige Ziele in unserer Umgebung wurden angemessen und ihr Beschuss theoretisch durchgeprobt. Gott sei Dank brauchten wir das nie praktisch anwenden, denn ehe die Russen in diese Gegend vordrangen, wurden wir am 8.September 1944 von der Flak entlassen und durften als Zivilisten nach Hause fahren. Hier dauerte es für mich bis Anfang November, bis ich zum Reichsarbeitsdienst und anschließend ab 6.1.1945 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Die freie Zeit bis zum Beginn des Arbeitsdienstes nutzte ich weiter zu eigenen Studien der anorganischen und organischen Chemie im Hinblick auf ein späteres Medizinstudium, bei dem ich entsprechende Kenntnisse in diesen Fächern aufweisen musste.

Ähnliche Gemeinschaftserfahrungen wie wir Glogauer Gymnasiasten haben wohl die meisten Luftwaffenhelfer erworben. Das zeigte sich mir beim Arbeitsdienst, den ich in Schlesien in dem Dorf Korsenz bei Trachenberg abzuleisten hatte. Von unserer Flakeinheit waren wir nur noch sechs gemeinsam in dieser Einheit. Die anderen stammten zum großen Teil aus Westdeutschland und sollten einmal Gelegenheit haben, nicht dauernd Luftangriffe zu erleben. In meiner Arbeitsdiensteinheit von etwa 200 Mann aber waren Dreiviertel ehemalige Luftwaffenhelfer. Obwohl wir uns erst in Korsenz kennen lernten, waren wir ehemaligen Luftwaffenhelfer binnen kurzem eine verschworene Gemeinschaft, die sich gemeinsam gegen Schikanen unserer Vorgesetzten zur Wehr setzen und sich nicht alles gefallen ließen. Wer von den Vorgesetzten mit uns gut auskommen wollte und erreichen wollte, die uns gesetzten Ziele zu erreichen, der musste uns anständig behandeln. Wer uns schikanierte, biss bei uns auf Stein. Dieses Gefühl: Zusammenhalt macht stark, war eine wichtige Erfahrung für unser ganzes Leben.



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