|
Die
ziemlich exakte Beschreibung der Vertreibung und Flucht 1945 aus
Glogau/ Niederschlesien ist mir aus den geretteten Dokumenten, aus
den schriftlichen Aufzeichnungen und Erzählungen meiner Mutter sowie
Großmutter möglich. Meine Mutter hatte ein Erinnerungsvermögen bis
ins Detail und die Eigenschaft, Dinge akribisch zu sammeln und
aufzubewahren sowie schriftlich festzuhalten.
Meine Biografie:
Am 5. Juni 1943 wurde ich in dem schlesischen Kurort Bad Warmbrunn/
Riesengebirge geboren. Nach der Geburt und Erholung kehrte meine
Mutter, Hanna Charlotte Greilich, geb. am 15.09.1918 in Glogau, zu
ihrer Familie nach Glogau/Oder zurück. Mein Vater, Willi Greilich,
geb. am 30. April 1908, stammte mit seiner Familie aus
Heinrichsdorf/Schlesien, Kreis Militsch. Dort war die große
väterliche Familie und Sippe seit über Generationen ansässig. Die
Großeltern väterlicherseits besaßen ein bäuerliches Anwesen mit
Posthalterei und Gaststätte in Heinrichsdorf. Zudem war mein
Großvater, Johann Paul Greilich, geb. am 13. Juni 1873, dort
Bürgermeister. Die „Heinrichsdorfer" gingen, da weiter östlich
gelegen, im Januar 1945 mit dem Treck auf die Flucht vor den Russen
nach Westen.
Nach Rückkehr meiner Mutter im Spätsommer 1943 nach Glogau wohnten
wir bei meinen Großeltern mütterlicherseits in der
Hermann-Göring-Straße 52 (vormals Rauschwitzer Straße 52). Mein
Großvater Gustav Friedrich Schoene, geb. am 29. Juli 1882, war
städtischer Beamter (Baumeister). Meine Großmutter, Lina Minna Luise
Schoene, geb. Dörge, war am 14. Juni 1892 geboren und stammte aus
Anklam/ Ostsee. In Swinemünde betrieb die Familie Dörge ein Hotel
mit Gaststätte.
>Mitgliederkarte von Gustav Schoene, Glogau ausgestellt am
1.8.1936<
Aufgrund der beruflichen Tätigkeit meines Großvaters Schoene waren
ihm zwei merkwürdig parallel laufende Tätigkeiten -
Betretungserlaubnisse - während des Krieges und nach Ende des
Krieges unter russischer/polnischer Besetzung 1945 in Glogau
zugewiesen. Mit Datum vom 30. Dezember 1941 erhielt er vom
Oberbürgermeister von Glogau (als örtlicher Luftschutzleiter) einen
Flieger-Passierschein, der als Bauberater berechtigte, während eines
Flugalarms das öffentliche Stadtgebiet in Glogau zu betreten.
>Ausschnitt Verpflegungskarte von Oma Schöne, Gefangenschaft
in Glogau 1946 <
Am 12. Juni 1945 bekam er vom polnischen Oberbürgermeister von
Glogau einen Dauer-Ausweis. Als Spezialist für Wasser und
Kanalisation war er berechtigt, sämtliche Wasserwerksstationen und
Kläranlagen in Glogau aufzusuchen.
Mein Großvater starb in der Gefangenschaft an mangelnder
Wundversorgung (Knochenfraß) am 15. November 1945 in Glogau und
wurde nach Bericht meiner Großmutter in einem Papiersack vergraben.
Glogau/Oder 1945:
Ende Januar 1945 kamen in Glogau die ersten und dann unaufhörlichen
Trecks von Deutschen aus den weiter östlich gelegenen Teilen an, die
in einer unendlichen Kette des Unglücks die Hindenburgbrücke
passierten; Wagen an Wagen.
Es war eine panikartige Flucht vor Tod und Verderben (bei -20/25° C)
vor den Russen. Ab Anfang Februar 1945 begannen intensiver,
russischer Artilleriebeschuss, Fliegerangriffe und das infernalische
Heulen der Werferbatterien auf die Stadt Glogau, die wie Breslau zur
Festungsstadt erklärt war. Teilweise von „deutschen"
Werferbatterien, die in russische Hände gefallen waren.
Die apokalyptischen Reiter standen vor der Stadt und am blutenden
roten Himmel bereits über dieser. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie
eine riesige Bruderschaft, die über das geschundene Land zog, und
nicht als letzter, sondern voran der fahle Reiter. Und so begann
unsere Flucht unter diesem Vorzeichen aus der dem Tode geweihten
Stadt im letztmöglichen Augenblick, nämlich am 10. Februar 1945. Der
Tod hatte reichlich Beute.
1. Flucht:
10. Februar 1945 Glogau - 27. März 1945 Neukirchen/Sudetenland
Meine Mutter war erst im letzten Moment und letzter Möglichkeit
bereit, mit mir (gut 1 ½ Jahre alt) am 10. Februar 1945, gegen 14.30
Uhr, bei etwa -20° C auf die Flucht zu gehen. Mir wurden mehrere
Kleidungsstücke (Mäntelchen u.a.) übereinander gezogen, um Schutz
gegen die Kälte zu finden. Dann kam ich in den Kinderwagen (mit
Nachttopf, Decken, Alben, familiären Papieren sowie Dokumenten und
einer Kamera Zeiss Ikon). Meine Mutter suchte von Hausecke zu
Hausecke immer Deckung vor den Artilleriegeschossen suchend den Weg
durch die brennende Stadt zum rettenden Zug. Im Kinderwagen verfing
sich nach Schilderung meiner Mutter hierbei ein größerer
Granatsplitter. Der Zug stand vor dem Bahnhof Glogau und nicht im
Bahnhof, in einem langgezogenen doppelgleisigen Viadukt (Tunnel).
Vermutlich zum besseren Schutz vor den Angriffen. Bei einem Besuch
in Glogau in späteren Jahren zeigte meine Mutter mir diese Stelle.
Es war nachweislich der letzte Zug aus Glogau, der am 10. Februar
1945 gegen 14.30 Uhr aus der Stadt fuhr. Wir verließen Glogau über
die Nebenbahnstrecke nach Sagan; bei Sagan ging es dann über in die
Hauptbahnstrecke Richtung Cottbus. Der ab 06.02.1945 eingerichtete
Pendelverkehr auf der Hauptstrecke von Glogau nach Grünberg war
wahrscheinlich nicht mehr gangbar. Der Zug schaffte es, die
rückwärtigen russischen Linien im Westen der Stadt zu passieren. Am
11. Februar 1945 war Glogau eingeschlossen. Das Überleben bzw.
Entkommen hing somit von Stunden ab.
Zum Verlassen der Stadt hatte meine Mutter einen Erlaubnisschein der
NSDAP Kreisleitung Glogau vom 9. Februar 1945 für Frau Greilich mit
1 Kind nach unbekanntem Ziel erhalten.
Der Chef des Städtischen Krankenhauses Glogau und Festungsarzt, Dr.
H. H. Herfarth, führt in seinem berührenden und detailgenauen
Bericht über die Geschehnisse in Glogau vom Februar - März 1945 u.a.
aus, dass er seinen Vater bewegen konnte, mit dem endgültig letzten
Zug am 7. Februar 1945 Glogau zu verlassen. Wahrscheinlich ist unser
Zug am 10. Februar 1945 in dem Inferno dieser Tage einfach in der
Erinnerung untergegangen.
Meine Großmutter und mein Großvater gerieten, nachdem die Stadt bis
Ende März 1945 noch widerstanden hatte, in russische bzw. polnische
Gefangenschaft. Die verbliebenen Deutschen, etwa 2.500 Personen,
kamen wie meine Großeltern u.a. in die Hindenburgkaserne in Glogau.
Am 13. Februar 1945 war unser Haus in Glogau durch
Artilleriegeschosse zerstört worden. Ein paar Tage später brannte es
dann bis auf die Grundmauern ab. Als einzige Erinnerung hieran habe
ich ein angesengtes Buch, das meine Großmutter aus den Trümmern
holte und später aus der Gefangenschaft mitbrachte.
Mein Onkel, Klaus Schoene, geb. 23. Mai 1926, wurde als Primaner zum
Volkssturm in Glogau eingezogen. Sie übten mit Beute-Flinten ohne
Munition zielen. Am 6. März 1945 musste er in den Schützengraben. Er
verschwand spurlos, wie die meisten der dem Tod preisgegebenen
Kameraden. Sie waren alle mehr oder weniger keine „grabensichere"
Soldaten.
In Glogau gab es insgesamt fünf Volkssturmbataillone mit etwa 1.500
bis 2.000 Mann. Meine Großmutter gab jedoch ihre Hoffnung auf den
geliebten Sohn nie auf. Ihre Liebe und Fürsorge übertrug sie auf
mich und half mir ganz stark, meinen Weg zu finden.
Am 26. Juli 1946 kam sie aus der Gefangenschaft bei uns in Mosbach
an. Hieran habe ich eine ganz bewusste (erste?) Erinnerung.
Insgesamt überlebten etwa 1.800 Deutsche die Gefangenschaft in
Glogau, mein Großvater nicht.
Ich habe von ihr einen Brief aus der Gefangenschaft vom 11. August
1945, der am 21. Februar 1946 bei uns in Mosbach einging. Unter
anderem schildert sie die letzten Tage im Krieg, die Gefangenschaft
und die Sorge um ihren vermissten Sohn. Ein persönliches und
allgemeines Zeitdokument, das als Anlage beigefügt ist.
Glogau war zu über 90 % zerstört. Die Kapitulation erfolgte am 1.
April 1945 (Ostersonntag), die Belagerung (Einschließung) dauerte
somit vom 11. Februar 1945 - 31. März 1945.
Die einstmals blühende und ehrwürdige deutsche Stadt (etwa gut
30.000 Einwohner vormals) war eine urbs deleta.
>Reichskleiderkarte Glogau 1944 von Hanna Greilich geb.
Schoene<
Unsere Flucht aus Glogau dauerte insgesamt acht Monate im Jahr 1945.
Es war für meine Mutter eine „Erleichterung", wie sie ausführte,
dass ich gut lief und keine Windeln mehr brauchte.
Die Flucht mit dem Zug (10. Februar 1945) ging über Sagan (Zagan)
nach Finsterwalde. Von dort nach Leipzig-Nebenbahnhof und weiter
nach Eger (Cheb). Dort (Bahnhof Eger) waren wir drei Tage. Mit dem
besagten Nachttopf aus dem Kinderwagen ging ich an die Soldatenzüge
- wie an den anderen Bahnhöfen - um Essen betteln. Der Gedanke
hieran tut mir weh. Und es wurde mir abgegeben. Meine Mutter hat
diese Episode öfters erwähnt. Nach drei Tagen erfolgte der
Weitertransport nach Neukirchen (Novŷ Kostel) in die Lager-Schule.
Sodann wurden wir bis zum 28. März 1945 bei der Familie Stenisdörfer
in Neukirchen untergebracht.
Von Frau Stenisdörfer liegt mir ein Brief vor, der vom 8. November
1945 datiert ist (Absender: Gretl Stenisdörfer, Neukirchen 36, Novŷ
Kostel u. Chebu). Dieser Brief war an meinen Vater gerichtet, der
sich in englischer Kriegsgefangenschaft befand. Wie der Brief in
dieser chaotischen Zeit sein Ziel fand, ist schon ein kleines
Wunder.
Zum Brief vom 8. November 1945:
Dieser Brief vom November 1945 aus Neukirchen/Sudetenland ist aus
zweifacher Hinsicht von Interesse und Bedeutung.
Er schildert zum einen das damalige politische Geschehen im
Sudetenland, nämlich die Angst der Sudetendeutschen vor dem
Ungewissen Kommenden und dem bereits Geschehenen.
Zum anderen gibt der Brief über uns ein liebevolles persönliches
Portrait. So beschreibt sie mich als kräftig, lieb und folgsam sowie
seine Mutter über alles liebend. Und ich sei voller Tatendrang
gewesen, außer im Schlaf. Dieses Erbe, u.a. Tatendrang, haben meine
beiden Söhne und auch meine Enkelkinder Lina und Paul zum guten Teil
abbekommen.
Hinsichtlich der politischen Lage schildert Frau Stenisdörfer, dass
sie als Sudetendeutsche von den Tschechen in eine
Gemeinschaftsunterkunft ausquartiert wurden.
Man sähe auch die weitere Zukunft ganz düster. Am liebsten würde man
mit den letzten Flüchtlingen ins „Reich" gehen.
Hiermit hatte sie wohl sehr recht. Denn bereits ab Mai 1945 kam es
zu Vertreibungen und Morden an den Sudetendeutschen; der offizielle
Massenexodus wurde ab Januar 1946 organisiert gemäß den
Beneš-Dekreten und im großen Umfang vollzogen. Beneš sprach
öffentlich von der notwendigen „Eliminierung" der Deutschen. Der
polnische Außenminister Bartoszewski fand 1995 klare und richtige
Worte zu dieser entmenschlichten Zeit:
„Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine
Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst
anderen zugefügt haben . . ."
Bis zum 28. März 1945 waren wir bei der liebenswerten Familie
Stenisdörfer in Neukirchen einquartiert. Meine Mutter hatte während
diesen annähernd vier Wochen in Neukirchen eine Aufforderung ihrer
Tante bekommen, nach Potsdam zu kommen. Sie schwankte in der
Entscheidung, entweder die Flucht nach Potsdam zu nehmen oder bei
ihrem Schwager, Gerhard Müller, gebürtig in Glogau, in St.
Pölten/Österreich Zuflucht zu suchen. Gerhard Müller war zu diesem
Zeitpunkt als Oberleutnant Batteriechef einer 8,8 cm-Flak-Batterie
bei St. Pölten. Am 28. März 1945 verließen wir mit dem Zug
Neukirchen. Hierfür erhielt meine Mutter von der NSDAP-Kreisleitung,
Amt für Volkswohlfahrt, einen Berechtigungsschein vom 28. März 1945,
unterzeichnet Eger, den 21. März 1945, Kreisamtsleiter.Somit ging
unsere Flucht weiter in Richtung Österreich; einen Monat später wäre
diese Fahrt nicht mehr möglich gewesen.
|
|
|