Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2019

Meine Flucht aus Glogau/Niederschlesien 1945

 

von Klaus-Jürgen Greilich

 




Die ziemlich exakte Beschreibung der Vertreibung und Flucht 1945 aus Glogau/ Niederschlesien ist mir aus den geretteten Dokumenten, aus den schriftlichen Aufzeichnungen und Erzählungen meiner Mutter sowie Großmutter möglich. Meine Mutter hatte ein Erinnerungsvermögen bis ins Detail und die Eigenschaft, Dinge akribisch zu sammeln und aufzubewahren sowie schriftlich festzuhalten.

Meine Biografie:

Am 5. Juni 1943 wurde ich in dem schlesischen Kurort Bad Warmbrunn/ Riesengebirge geboren. Nach der Geburt und Erholung kehrte meine Mutter, Hanna Charlotte Greilich, geb. am 15.09.1918 in Glogau, zu ihrer Familie nach Glogau/Oder zurück. Mein Vater, Willi Greilich, geb. am 30. April 1908, stammte mit seiner Familie aus Heinrichsdorf/Schlesien, Kreis Militsch. Dort war die große väterliche Familie und Sippe seit über Generationen ansässig. Die Großeltern väterlicherseits besaßen ein bäuerliches Anwesen mit Posthalterei und Gaststätte in Heinrichsdorf. Zudem war mein Großvater, Johann Paul Greilich, geb. am 13. Juni 1873, dort Bürgermeister. Die „Heinrichsdorfer" gingen, da weiter östlich gelegen, im Januar 1945 mit dem Treck auf die Flucht vor den Russen nach Westen.
Nach Rückkehr meiner Mutter im Spätsommer 1943 nach Glogau wohnten wir bei meinen Großeltern mütterlicherseits in der Hermann-Göring-Straße 52 (vormals Rauschwitzer Straße 52). Mein Großvater Gustav Friedrich Schoene, geb. am 29. Juli 1882, war städtischer Beamter (Baumeister). Meine Großmutter, Lina Minna Luise Schoene, geb. Dörge, war am 14. Juni 1892 geboren und stammte aus Anklam/ Ostsee. In Swinemünde betrieb die Familie Dörge ein Hotel mit Gaststätte.

>Mitgliederkarte von Gustav Schoene, Glogau ausgestellt am 1.8.1936<

Aufgrund der beruflichen Tätigkeit meines Großvaters Schoene waren ihm zwei merkwürdig parallel laufende Tätigkeiten - Betretungserlaubnisse - während des Krieges und nach Ende des Krieges unter russischer/polnischer Besetzung 1945 in Glogau zugewiesen. Mit Datum vom 30. Dezember 1941 erhielt er vom Oberbürgermeister von Glogau (als örtlicher Luftschutzleiter) einen Flieger-Passierschein, der als Bauberater berechtigte, während eines Flugalarms das öffentliche Stadtgebiet in Glogau zu betreten.

>Ausschnitt Verpflegungskarte von Oma Schöne, Gefangenschaft in Glogau 1946 <

Am 12. Juni 1945 bekam er vom polnischen Oberbürgermeister von Glogau einen Dauer-Ausweis. Als Spezialist für Wasser und Kanalisation war er berechtigt, sämtliche Wasserwerksstationen und Kläranlagen in Glogau aufzusuchen.

Mein Großvater starb in der Gefangenschaft an mangelnder Wundversorgung (Knochenfraß) am 15. November 1945 in Glogau und wurde nach Bericht meiner Großmutter in einem Papiersack vergraben.

Glogau/Oder 1945:

Ende Januar 1945 kamen in Glogau die ersten und dann unaufhörlichen Trecks von Deutschen aus den weiter östlich gelegenen Teilen an, die in einer unendlichen Kette des Unglücks die Hindenburgbrücke passierten; Wagen an Wagen.
Es war eine panikartige Flucht vor Tod und Verderben (bei -20/25° C) vor den Russen. Ab Anfang Februar 1945 begannen intensiver, russischer Artilleriebeschuss, Fliegerangriffe und das infernalische Heulen der Werferbatterien auf die Stadt Glogau, die wie Breslau zur Festungsstadt erklärt war. Teilweise von „deutschen" Werferbatterien, die in russische Hände gefallen waren.

Die apokalyptischen Reiter standen vor der Stadt und am blutenden roten Himmel bereits über dieser. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie eine riesige Bruderschaft, die über das geschundene Land zog, und nicht als letzter, sondern voran der fahle Reiter. Und so begann unsere Flucht unter diesem Vorzeichen aus der dem Tode geweihten Stadt im letztmöglichen Augenblick, nämlich am 10. Februar 1945. Der Tod hatte reichlich Beute.

1. Flucht:
10. Februar 1945 Glogau - 27. März 1945 Neukirchen/Sudetenland

Meine Mutter war erst im letzten Moment und letzter Möglichkeit bereit, mit mir (gut 1 ½ Jahre alt) am 10. Februar 1945, gegen 14.30 Uhr, bei etwa -20° C auf die Flucht zu gehen. Mir wurden mehrere Kleidungsstücke (Mäntelchen u.a.) übereinander gezogen, um Schutz gegen die Kälte zu finden. Dann kam ich in den Kinderwagen (mit Nachttopf, Decken, Alben, familiären Papieren sowie Dokumenten und einer Kamera Zeiss Ikon). Meine Mutter suchte von Hausecke zu Hausecke immer Deckung vor den Artilleriegeschossen suchend den Weg durch die brennende Stadt zum rettenden Zug. Im Kinderwagen verfing sich nach Schilderung meiner Mutter hierbei ein größerer Granatsplitter. Der Zug stand vor dem Bahnhof Glogau und nicht im Bahnhof, in einem langgezogenen doppelgleisigen Viadukt (Tunnel). Vermutlich zum besseren Schutz vor den Angriffen. Bei einem Besuch in Glogau in späteren Jahren zeigte meine Mutter mir diese Stelle. Es war nachweislich der letzte Zug aus Glogau, der am 10. Februar 1945 gegen 14.30 Uhr aus der Stadt fuhr. Wir verließen Glogau über die Nebenbahnstrecke nach Sagan; bei Sagan ging es dann über in die Hauptbahnstrecke Richtung Cottbus. Der ab 06.02.1945 eingerichtete Pendelverkehr auf der Hauptstrecke von Glogau nach Grünberg war wahrscheinlich nicht mehr gangbar. Der Zug schaffte es, die rückwärtigen russischen Linien im Westen der Stadt zu passieren. Am 11. Februar 1945 war Glogau eingeschlossen. Das Überleben bzw. Entkommen hing somit von Stunden ab.
Zum Verlassen der Stadt hatte meine Mutter einen Erlaubnisschein der NSDAP Kreisleitung Glogau vom 9. Februar 1945 für Frau Greilich mit 1 Kind nach unbekanntem Ziel erhalten.
Der Chef des Städtischen Krankenhauses Glogau und Festungsarzt, Dr. H. H. Herfarth, führt in seinem berührenden und detailgenauen Bericht über die Geschehnisse in Glogau vom Februar - März 1945 u.a. aus, dass er seinen Vater bewegen konnte, mit dem endgültig letzten Zug am 7. Februar 1945 Glogau zu verlassen. Wahrscheinlich ist unser Zug am 10. Februar 1945 in dem Inferno dieser Tage einfach in der Erinnerung untergegangen.
Meine Großmutter und mein Großvater gerieten, nachdem die Stadt bis Ende März 1945 noch widerstanden hatte, in russische bzw. polnische Gefangenschaft. Die verbliebenen Deutschen, etwa 2.500 Personen, kamen wie meine Großeltern u.a. in die Hindenburgkaserne in Glogau.
Am 13. Februar 1945 war unser Haus in Glogau durch Artilleriegeschosse zerstört worden. Ein paar Tage später brannte es dann bis auf die Grundmauern ab. Als einzige Erinnerung hieran habe ich ein angesengtes Buch, das meine Großmutter aus den Trümmern holte und später aus der Gefangenschaft mitbrachte.

Mein Onkel, Klaus Schoene, geb. 23. Mai 1926, wurde als Primaner zum Volkssturm in Glogau eingezogen. Sie übten mit Beute-Flinten ohne Munition zielen. Am 6. März 1945 musste er in den Schützengraben. Er verschwand spurlos, wie die meisten der dem Tod preisgegebenen Kameraden. Sie waren alle mehr oder weniger keine „grabensichere" Soldaten.
In Glogau gab es insgesamt fünf Volkssturmbataillone mit etwa 1.500 bis 2.000 Mann. Meine Großmutter gab jedoch ihre Hoffnung auf den geliebten Sohn nie auf. Ihre Liebe und Fürsorge übertrug sie auf mich und half mir ganz stark, meinen Weg zu finden.

Am 26. Juli 1946 kam sie aus der Gefangenschaft bei uns in Mosbach an. Hieran habe ich eine ganz bewusste (erste?) Erinnerung. Insgesamt überlebten etwa 1.800 Deutsche die Gefangenschaft in Glogau, mein Großvater nicht.
Ich habe von ihr einen Brief aus der Gefangenschaft vom 11. August 1945, der am 21. Februar 1946 bei uns in Mosbach einging. Unter anderem schildert sie die letzten Tage im Krieg, die Gefangenschaft und die Sorge um ihren vermissten Sohn. Ein persönliches und allgemeines Zeitdokument, das als Anlage beigefügt ist.
Glogau war zu über 90 % zerstört. Die Kapitulation erfolgte am 1. April 1945 (Ostersonntag), die Belagerung (Einschließung) dauerte somit vom 11. Februar 1945 - 31. März 1945.
Die einstmals blühende und ehrwürdige deutsche Stadt (etwa gut 30.000 Einwohner vormals) war eine urbs deleta.

>Reichskleiderkarte Glogau 1944 von Hanna Greilich geb. Schoene<

Unsere Flucht aus Glogau dauerte insgesamt acht Monate im Jahr 1945. Es war für meine Mutter eine „Erleichterung", wie sie ausführte, dass ich gut lief und keine Windeln mehr brauchte.
Die Flucht mit dem Zug (10. Februar 1945) ging über Sagan (Zagan) nach Finsterwalde. Von dort nach Leipzig-Nebenbahnhof und weiter nach Eger (Cheb). Dort (Bahnhof Eger) waren wir drei Tage. Mit dem besagten Nachttopf aus dem Kinderwagen ging ich an die Soldatenzüge - wie an den anderen Bahnhöfen - um Essen betteln. Der Gedanke hieran tut mir weh. Und es wurde mir abgegeben. Meine Mutter hat diese Episode öfters erwähnt. Nach drei Tagen erfolgte der Weitertransport nach Neukirchen (Novŷ Kostel) in die Lager-Schule. Sodann wurden wir bis zum 28. März 1945 bei der Familie Stenisdörfer in Neukirchen untergebracht.

Von Frau Stenisdörfer liegt mir ein Brief vor, der vom 8. November 1945 datiert ist (Absender: Gretl Stenisdörfer, Neukirchen 36, Novŷ Kostel u. Chebu). Dieser Brief war an meinen Vater gerichtet, der sich in englischer Kriegsgefangenschaft befand. Wie der Brief in dieser chaotischen Zeit sein Ziel fand, ist schon ein kleines Wunder.

Zum Brief vom 8. November 1945:
Dieser Brief vom November 1945 aus Neukirchen/Sudetenland ist aus zweifacher Hinsicht von Interesse und Bedeutung.
Er schildert zum einen das damalige politische Geschehen im Sudetenland, nämlich die Angst der Sudetendeutschen vor dem Ungewissen Kommenden und dem bereits Geschehenen.
Zum anderen gibt der Brief über uns ein liebevolles persönliches Portrait. So beschreibt sie mich als kräftig, lieb und folgsam sowie seine Mutter über alles liebend. Und ich sei voller Tatendrang gewesen, außer im Schlaf. Dieses Erbe, u.a. Tatendrang, haben meine beiden Söhne und auch meine Enkelkinder Lina und Paul zum guten Teil abbekommen.
Hinsichtlich der politischen Lage schildert Frau Stenisdörfer, dass sie als Sudetendeutsche von den Tschechen in eine Gemeinschaftsunterkunft ausquartiert wurden.
Man sähe auch die weitere Zukunft ganz düster. Am liebsten würde man mit den letzten Flüchtlingen ins „Reich" gehen.
Hiermit hatte sie wohl sehr recht. Denn bereits ab Mai 1945 kam es zu Vertreibungen und Morden an den Sudetendeutschen; der offizielle Massenexodus wurde ab Januar 1946 organisiert gemäß den Beneš-Dekreten und im großen Umfang vollzogen. Beneš sprach öffentlich von der notwendigen „Eliminierung" der Deutschen. Der polnische Außenminister Bartoszewski fand 1995 klare und richtige Worte zu dieser entmenschlichten Zeit:
„Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Rechtfertigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben . . ."

Bis zum 28. März 1945 waren wir bei der liebenswerten Familie Stenisdörfer in Neukirchen einquartiert. Meine Mutter hatte während diesen annähernd vier Wochen in Neukirchen eine Aufforderung ihrer Tante bekommen, nach Potsdam zu kommen. Sie schwankte in der Entscheidung, entweder die Flucht nach Potsdam zu nehmen oder bei ihrem Schwager, Gerhard Müller, gebürtig in Glogau, in St. Pölten/Österreich Zuflucht zu suchen. Gerhard Müller war zu diesem Zeitpunkt als Oberleutnant Batteriechef einer 8,8 cm-Flak-Batterie bei St. Pölten. Am 28. März 1945 verließen wir mit dem Zug Neukirchen. Hierfür erhielt meine Mutter von der NSDAP-Kreisleitung, Amt für Volkswohlfahrt, einen Berechtigungsschein vom 28. März 1945, unterzeichnet Eger, den 21. März 1945, Kreisamtsleiter.Somit ging unsere Flucht weiter in Richtung Österreich; einen Monat später wäre diese Fahrt nicht mehr möglich gewesen.




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