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„Wer etwas kann, der ist was wert, wer nichts versteht, ist nicht
geehrt."
Diese guten Worte schrieb mir meine Lehrerin vor vielen Jahren ins
Poesiealbum. Damals mussten wir Kinder von den Dörfern, die zum
großen Kirchspiel Jakobskirch gehörten, alle nach Jakobskirch zur
Schule. Auch Hainbach und Töppendorf mit der Oberförsterei
Töppendorf gehörten dazu. Wir nannten diese Ortschaften die
„Puschdörfer"', weil sie im Walde, im „Pusch", lagen.
In den Jahren 1910 und 1911 wurden große Waldflächen — besonders
solche, wo Fichten und Kiefern standen — vom Fichtenspinner
heimgesucht. Der Fichtenspinner ist ein kleiner
Nachtschmetterling, er wird auch „Nonne" genannt, erreicht eine
Länge von sechs Zentimetern und hatte in anderen Gegenden schon
ganze Wälder zerstört. Sollte dem Schädling beizukommen sein, dann
mussten die Eiablagen unterbunden werden, so dass die Raupen nicht
noch mehr Schaden anzurichten vermochten.
Da war nun guter Rat teuer! Wohl hätte man können Arbeitsleute
einstellen, die der „Nonne" zu Leibe gerückt wären, aber auf dem
Lande hatten alle Menschen genügend Arbeit, und es kam wohl dem
Staat auch zu teuer, denn er hätte ja solche Arbeitskräfte, die
zusätzlich in den Forsten gearbeitet hätten, bezahlen müssen. Es
gab zwar früher nicht mehr als 50 bis 60 Pfennig in der Stunde,
aber das hätte doch schon einen beträchtlichen Kostenaufwand
erfordert. Das war für den Staat nicht tragbar, denn auch damals
hieß es: Sparsam wirtschaften!
Da wurde uns Schulkindern eines Morgens — der Unterricht hatte
noch nicht angefangen — eine große Überraschung zuteil. Wir hatten
unser Morgengebet „Führe mich, o Herr, und leite meinen Gang nach
deinem Wort" kaum gesprochen, da nahm unser Hauptlehrer und Kantor
Ansorge einen langen, breiten Zettel, ein Formular, aus der
Rocktasche. „Jetzt hört mal alle genau her“, forderte er uns auf.
Wir rissen „Mund und Augen und Ohren" auf. Dann verlas uns der
Kantor eine „Genehmigungsverfügung". Sie lautete — ich kann den
Wortlaut nahezu genau wiedergeben
„Die Königlich-Preußische Regierung, Regierungsbezirk Liegnitz,
Schlesien, hat auf Antrag der Oberförsterei Töppendorf und im
Einvernehmen mit dem Orts-Schulinspektor — Pastor Rosemann,
Jakobskirch — die Genehmigung erteilt, alle Schulkinder ab zehn
Jahren zur Rettung des Waldes zum Nonnen-Töten einzusetzen. Die
Tätigkeit wird den Schulunterrichtsstunden gleichgestellt und
duldet kein Versäumen derselben."
„Habt ihr alles verstanden", wurden wir gefragt. Die überlaute
Antwort kam besonders von den Jungen, für die war das ein
„gefundenes Fressen", wie man auf gut Schlesisch sagte. Wir
Mädchen waren damit nicht so ohne weiteres einverstanden. Unsere
Schulfreundinnen aus Hainbach und Töppendorf munkelten nämlich,
dass wir dazu lange, schwere Stangen benötigten.
Es begann ein fürchterliches Gequassel in der Schulstube. Die
Jungen dachten sogleich an Marder, Iltisse und Füchse, die sie
dabei entdecken wollten. Sie überlegten, wenn sie eines dieser
Tiere fingen und nach Glogau zum Kürschnermeister Matern in die
Mälzstraße brächten, was es dann wohl für ein Entgelt dafür gäbe.
Keinesfalls würden sie ein solches Tier mit gutem Fell dem
Lumpenmanne mitgeben.
Jetzt befahl der Kantor: „Ruhe!" Er stellte eine Namensliste auf.
Gleichzeitig wurden wir beauftragt, am nächsten Tage von den
Eltern eine „Einverständniserklärung" mitzubringen. Auf dem
Nachhausewege wurden wir Mädel an jenem Tag von den Jungen
besonders gehänselt: „Eer Madel, bleebt ock derrheem,
Kittelfranzosen kinn' ber im Wald nie gebroochen!"
Wir wären gerne zu Hause geblieben, wenn wir nicht zur Teilnahme
an der bevorstehenden Waldstreiferei verpflichtet gewesen wären.
Kein Mädel wollte sich ins Zensurenheft eine rote Zahl in die
Rubrik „Schulversäumnisse" schreiben lassen. Wir Denkwitzer und
Leutbacher Mädel hatten uns besprochen, dass wir unsere kurz zuvor
erhaltenen Turnstäbe mitnehmen wollten, so dass wir die schweren
Stangen, die uns immer noch in den Köpfen herumspukten, nicht
benutzen müssten. Am Abend jenes Tages legten wir dicke
Stricknadeln in die Glut des Küchenherdes, und jedes Mädel brannte
mit der glühenden Nadel — Punkt an Punkt — die Anfangsbuchstaben
seines Namens in den Turnstab.
Am nächsten Morgen — bereits um halb sieben Uhr — ging es los! Die
Rucksäcke waren mit Esswaren gefüllt. Manche unserer Mitschüler
hatten ihre schönen „Botanisiertrommeln" — damals etwas ganz
Modernes — umgehängt, auf dass die „Wurschtschnitten" frisch
bleiben sollten.
Kaum entdeckten uns die Jungen mit unseren Turnstäben, da ging die
Hänselei los. Die Lausejungen brachten es so weit, dass der
Kantor, der anfänglich nichts gegen unsere Stäbe einzuwenden
hatte, gebot, die Stäbe nicht zu benutzen. Der Spaziergang zu so
früher Morgenstunde hat uns natürlich wohlgetan. Aber wir Mädel
hatten keinen rechten Mut zu der Arbeit, die uns bevorstand; uns
spukten immer noch die langen Stangen im Kopf herum.
Als wir bei der Oberförsterei Töppendorf anlangten, bellten schon
die Hunde. Der Oberförster kam, freute sich und begrüßte uns mit
den Worten: „Na, Herr Kantor, wenn Sie mit so vielen Helfern
kommen, dann werden wir's schon zwingen."
Jetzt musste der Augenblick da sein, wo wir die gefürchteten
Stangen holen mussten! Die verdammten Jungen waren schon wieder
vorneweg und stritten sich herum. Jeder wollte natürlich eine
recht leichte Stange haben. Es war so ein Durcheinander, dass der
Oberförster und unser Kantor eingreifen mussten. Wir Mädel
erhielten nun leichte, bereits geschälte Stangen. Die großen
Jungen erhielten schwerere, die noch mit Rinde und Harz behaftet
waren. Jetzt packte die Jungen die Wut. Sie kündigten an: „Noa,
woart ock, uff heimzu gibt's Schnicke!" Das war eine der
geläufigsten Jungenredensarten!
Der Oberförster gab die Arbeitsanleitung und führte uns vor, wie
wir mit der Spitze der Stange genau auf den Kopf der „Nonne"
drücken sollten, so dass diese tot zur Erde fiel. Beim ersten
Versuch klappte es noch nicht. Die Spitze der Stange schwankte
etwas. Es kostete also Anstrengung. Wir mussten mit dem Kopf
fortwährend in der gleichen Richtung blicken und Aufmerksamkeit
walten lassen. Es durfte uns ja keine Borke oder kein kleines
Geäst in die Augen fallen, was trotzdem noch oft genug geschah.
Durch das Reiben in den Augen, Kinder machen das immer sehr
schnell, entzündeten sich die Augen, so dass bereits am folgenden
Tage etliche Kinder deshalb zu Hause bleiben mussten. Im Walde
herrschte schwüle Luft. Wir Mädel hatten „Kopptich'l" umgebunden,
sonst hätten wir die Nadeln und die Borke nicht mehr aus den
Haaren gebracht.
Das Mittagessen schmeckte uns. Die Jungen aber hielten keine Ruhe.
Sie wollten unbedingt sehen, ob es nicht einen Fuchsbau
aufzustöbern gab. Und sie fanden tatsächlich einen. Auf dem
Heimwege aber machten auch die Schüler schlapp, die vorher eine
große „Klappe" gehabt hatten. Die uns von den Jungen angekündigte
„Schnicke" fiel somit weg.
Gegen sechs Uhr abends kamen wir nach Hause. Wenn man bedenkt,
dass wir vom Töppendorfer Forst bis nach Leutbach, Denkwitz,
Hühnerei, Druse usw. hin- und zurücklaufen mussten — noch nach
dieser anstrengenden Tätigkeit —, so hatten wir schon eine
Leistung vollbracht. Gewiss waren wir alle zu Hause zur Arbeit
angehalten, aber wir waren schließlich noch Kinder! Heute würde
eine solche Arbeit — verbunden mit dem weiten Anmarsch — kein Kind
mehr tun. Wir verrichteten sie unentgeltlich. Unser Idealismus war
so groß, dass wir gerne bereit waren, unseren gefährdeten Wald zu
retten.
Am Abend klagten wir über Genickstarre und konnten nicht richtig
liegen. Da ging das Einreiben los! Ich weiß es noch genau:
„Hienfong" oder „Dreimal Grün", ein warmes Tuch darauf, und am
nächsten Morgen war es wieder gut! Einer der Schuljungen hatte die
Hände voller Blasen. Er holte sich beim Schirmer-Schuster in
Jakobskirch Schusterpech und verschmierte sich die schmerzenden
Wunden an den Händen. So ging es wochenlang weiter! Der
Oberförster sah täglich nach dem Rechten. Auch unser Kantor
Ansorge war bemüht darum, dass wir vorwärtskamen. Wir hatten eine
große Fläche von den Schädlingen gesäubert. Später durften wir uns
auf einem Schulspaziergang ansehen, wie sich die Bäume wieder
erholten. Der Schulleitung ging ein Dankesschreiben zu. Wir Kinder
bekamen einen schulfreien Tag als Belohnung.
Ich war voller Befriedigung! Ich freute mich, dass ich
durchgehalten hatte, sonst hätte ich mich vor meiner
Klassenlehrerin geschämt, die mir ins Poesiealbum geschrieben
hatte: „Wer nichts versteht, ist nicht geehrt."
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