Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 12, Dezember 2017

 

Erinnerungen an das Heimatdorf Hammer
mit der Siedlung Hammervorwerk und den Kolonien Mäusewinkel und Waldmühle, Siedlung, Forsthaus Tiergarten, sowie den Ortsteilen Rädchen mit Sumpfmühle, Ortsteil Tarnau mit Kutschen

608 Einwohner / 2158 ha Feldmark / An der Chaussee Schlesiersee Carolath – Neusalz (Oder), 32 km von Glogau / Bahnstation: Schlesiersee Post: Posthilfst. in Hammer, Rädchen u. Tarnau.

Der in der Nähe gelegene Tarnauer See ist vielleicht der schönste der nordschlesischen Heideseen, die durch freundliche Kanäle miteinander in Verbindung stehen.

Gemeindevertretung, öffentliche Einrichtungen, Handel und Gewerbe, Vereine (Stand 1943)

Bürgermeister: Bauer Robert Thiel

Beigeordnete: Bauer Oskar Lahr in Hammer, Bauer Wilhelm Jüttner in Tarnau, Bauer Heinrich Otto in Rädchen

Gemeinderäte: Landwirt Artur Flöter, Landwirt Paul Otto, Revierförster Franz Proposch, Bauer Heinrich. Lange, Mechaniker Willi Jüttner

Kassenwalter: Bauer Hermann Müller

Schiedsmann: in Schlesiersee

Hebamme: Marta Thiel und Anna Spierske in Schlesiersee

Standesamt: Schlesiersee

Amtsbezirk: Laubegast

Amtsvorsteher: Adolf Günzel

Gendarmerie: Schlesiersee

Postverwalter: in Hammer Bauer Gustav Sprenger, in Rädchen Land- und Gastwirt Otto Schönborn, in Tarnau Bauer Wilhelm Jüttner

Amtsgericht: Glogau

Kirchen: Evangelische u. Katholische in Schlesiersee

Schule: in Rädchen, Lehrer Friedrich Schröter; in Tarnau, Lehrer Paul Liegau

Gewerbl. Anlagen: Motor- und Wassermühle in Waldmühle, Bes. Paul Otto; Motormühle, gen. Hammermühle, in Hammer, Bes. Hermann Illmann. Gaststätten: Karl Laubstein und Wilhelm Jüttner in Tarnau, Heinrich Lange in Hammer und Otto Schönborn und Heinrich Otto in Rädchen

Das Dorf Hammer
(Ku?nica G?ogowska)

Das Dorf Hammer ist vermutlich schon alt. Seinen Namen erhielt es von der Funktion her. Hier befand sich eine Wassermühle, die einen Eisenhammer, eine Schmiede, betrieb. Hammer gehörte zur Gutsherrschaft Schlawa. Auch wenn der Ort als Teil des Gutes erst im Jahr 1765 erstmals aufgeführt wird, so ist doch anzunehmen, dass das Vorwerk hier viel älter war. Seit dem ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurde überall in Europa die Wasserkraft genutzt, um Wassermühlen zu betreiben. Eine ihrer Nutzungen war die für eine Schmiede als sogenannter Eisenhammer. Ein solcher Betrieb war für eine so große Gutsherrschaft wie die in Schlawa von großer Bedeutung, da man hier selbst seine metallenen Geräte und Werkzeuge herstellen konnte.
In der Aufstellung des Jahres 1765 werden hier 8 Hufenbauern erwähnt, wobei deren Bezeichnung zu relativieren ist, da sie später nur „Gärtner“ genannt werden, 2 Freimänner, 29 Häusler und Inlieger und 4 Handwerker, darunter der Wassermüller und Schmied. Das Gut wird auf einen Wert von 10.991 Reichstalern geschätzt.
Im Jahr 1791 wird Hammer (zusammen mit Oglischmühle und Mäusewinkel) aufgeführt: 1 Vorwerk, 1 Kretscham (Dorfkrug), 9 Gärtner, 26 Häusler und 2 Müller, zudem noch ein anderes Haus. Insgesamt zählt Hammer 42 Feuerstellen mit 192 Einwohnern.
Bei der nächsten Erhebung im Jahr 1845 standen hier 43 Häuser und 2 Mühlen, darunter die Wassermühle (die zweite befand sich in Oglischmühle), und eine Brauerei. 1867 erreichte die Bevölkerungszahl ihre höchste Größe mit 239 Einwohnern. Seither sank die Einwohnerzahl: 228 im Jahr 1871, 1885 = 202 und 1895 = 193. Vor dem Krieg waren es nur noch 186, fast alle lutherisch und nur 24 Katholiken.
Familiennamen in Hammer vor dem 2. Weltkrieg waren Geibrasch, Geifert, Illmann, John, Kramer, Lange, Laube, Müller, Nitschke, Otto, Schröter, Seiler, Sprenger, Wirschke, Senftleben und Thiel. Polnischer Herkunft waren nur zwei Familien: Brichzy (eingedeutscht von Brychcy) und Ciesielski.
Zum Dorf gehörten das Vorwerk, Hammervorwerk genannt, die Kolonie Mäusewinkel (Myszeniec, nach 1945 hieß der Ort für kurze Zeit Myszkowo) und Oglischmühle (G?uchów) mit einer eigenen Wassermühle.
Im Januar 1945 musste auch die deutsche Bevölkerung von Hammer fliehen, ohne zurückkehren zu können. Sie behielten ihre Heimat, ebenso wie alle anderen ehemaligen Bewohner dieser Region, in Erinnerung und viele kehrten als Touristen zurück und nahmen Kontakt zu ihren ehemaligen Nachbarn, bzw. den heutigen Bewohnern auf. Ein Zeichen der deutsch-polnischen Freundschaft ist ein Gedenkstein, der vor wenigen Jahren in Hammer wiedergefunden und aufgestellt. Auf ihm sind die Namen der Kriegstoten des 1. Weltkriegs festgehalten. Heute ist der Stein ein Symbol der deutsch-polnischen Aussöhnung und Freundschaft.
Dr. Martin Sprungala

Das Dorf Rädchen (Radzy?)
Das Dorf Rädchen besteht bereits seit dem ausgehenden Mittelalter. Die älteste Nennung stammt aus dem Jahr 1477 als „Radichen“. Der Name war also schon damals von der Wurzel her deutsch. 1506 und 1508 wird es „Redichen“ genannt. Bei der Erhebung des Jahres 1765 gab es hier die große Zahl von 16 Hufenbauern, 4 Gärtner, 3 Freimänner, 9 Häusler und 5 Handwerker. Auch Rädchen gehörte zu den Grundbesitzungen der Schlawaer Herren v. Fernement-Barwitz.
1791 wird hier ein Freigut verzeichnet, 13 Dienstbauern, 1 Kretscham (= Dorfkrug), 4 Gärtner, 8 Häusler, 1 Wassermüller (die Mühle ging offenbar im 19. Jahrhundert unter) und 2 Müller. Das Dorf zählte 34 Feuerstellen mit 156 Einwohnern.


Aus Rädchen sind folgende Familiennamen überliefert: Anders, Barrei, Becker, Brauer, Büttner, Doil, Fäustel, Fischbach, Flöther, Friedrich, Günzel, Hermann, Hoffmann, Irrgang, Kluge, Köbe, Kosche, Lange, Lebe, Noak, Otto, Palm, Peschel, Pretzel, Roth, Schneider, Schönborn, Schröter, Starke, Stein, Strauchmann, Thamm und Thiel. Polnischer Herkunft waren nur die Familien Dudzinski und Kowalewitz.
Aus der Dorfgeschichte waren den Bewohnern erst Ereignisse aus dem 20. Jahrhundert bekannt. Der verlorene Weltkrieg bedeutete für viele Deutsche in den östlichen preußischen Provinzen eine Katastrophe, denn es sollte wieder ein polnischer Staat entstehen. Vier Jahre hatte man für Gloria und Ruhm für das deutsche Vaterland gekämpft, gehungert, und es waren Hunderttausende dafür gestorben. Und wozu, man verlor die Heimat. Erinnern konnte sich keiner mehr daran, dass auch die Vorfahren vieler Deutscher sich in Polen niedergelassen hatten und dort eine neue Heimat gefunden hatten. Im 17. und 18. Jahrhundert galt Polen als das toleranteste Land in Europa, während im Heiligen Römischen Reich der Glaubenskrieg tobte. Der polnische Adel rief die deutschen Handwerker und Bauern zu Tausenden auf ihre Güter. Man bot ihnen günstiges Land und eine neue Heimat und Lebensperspektive, und die herbei gerufenen, die wegen ihrer Konfession in den Habsburgischen Landen verfolgt und bedrängt und gleichzeitig durch marodierende Heere bedroht waren, folgten diesem Aufruf gerne. Man hat lange friedlich und einvernehmlich miteinander gelebt. Dann war die neue Heimat durch die Polnischen Teilungen Teil Preußens geworden. Auch das war für die Siedler durchaus vorteilhaft, denn Preußen war tolerant und zudem protestantisch. Man musste nicht befürchten verfolgt zu werden und der moderne Staat Preußen bot all seinen Bürger – Deutschen wie Polen – einen weiteren großen Vorteil: die Erneuerung des Wirtschaft. Bis dahin gab es in Polen kaum Häuser aus Stein, auf dem Lande schon mal gar nicht. Der Obrabruch war noch ein Sumpf, der regelmäßig die europäische Malaria verbreitete. All dies haben die Preußen erneuert, die Wirtschaft wurde geregelt und angekurbelt, das Land erschlossen, Straßen gebaut, Sümpfe trocken gelegt usw. Aus dieser Situation heraus muß man die Lage der Deutschen verstehen, die nach 1920 unter polnische Herrschaft kamen.
Aller Anfang ist schwer, sagt der Volksmund, und Polen hatte es 1920 sehr schwer. Die Grenzen des jungen Staates waren noch immer nicht gezogen und im Osten drohte Krieg. Die große deutsche Minderheit, die es nun in Polen gab, wurde als Bedrohung angesehen, da sie natürlich prodeutsch dachten. Gleichzeitig entledigte man sich in Polen der deutschen Verwaltung. Deutschstämmige Beamte wurden entlassen und ausgewiesen, laut Versailler Vertrag mussten alle Neusiedler, die nach 1908 zugezogen waren, das Land verlassen. Diese Regelungen sorgten für sehr viel Missstimmung unter den Deutschen und der polnische Staat verlangte die Entscheidung für Polen, das sogenannte Optieren. Diejenigen, die für Deutschland optierten, mussten Polen verlassen. Und viele junge Deutsche taten dies, denn mit der Option für Polen kam oftmals postwendend die Einberufung in den Krieg gegen Russland, und daran hatte kein Deutscher nach diesem verheerenden Weltkrieg mehr Lust, zumal für eine Sache, die man nicht als die eigene betrachtete. Viele entschlossen sich das Land zu verlassen, doch was für Handwerker und Arbeiter kein Problem war, war eines für die Bauern. Wie sollte man das Land mitnehmen? Eine Lösung war rasch gefunden, denn in der schlesisch-großpolnischen Grenzregion waren die Siedlungsgrenzen zwischen Deutschen und Polen schon lange verwischt und es gab in den bei Deutschland verbleibenden Orte viele Polen, die lieber in Polen leben wollten, zumal der neue Staat sie rief und ihnen Vergünstigungen versprach, wie sie einst auch die deutschen Glaubens- und Kriegsflüchtlinge angelockt hatten. Man begann also Listen von Tauschwilligen aufzustellen und die Bauern reisten herum, um zu vergleichen, ob ihre Höfe mit denen vergleichbar waren, mit denen sie tauschten.
Auch das Dorf Rädchen gehörte zu denen, die Optanten aufnahmen. Rädchen gehörte seit jeher zur Herrschaft Schlawa und hat seinen Namen vermutlich von einer Wassermühle, einem Wasserrad, das sich zwischen dem Schilfsee (auch Sumpfsee genannt) und dem Schlawaer See befand. Die hiesige Bevölkerung war fast durchweg deutsch und evangelisch. Aber es gab hier auch einige Polen, die ihren Hof tauschen wollten. Zu den Optanten gehörte u.a. die Familie Wilhelm Brauer aus Mauche (Mochy). Vater Brauer war Gutsverwalter in Polke bei Boyadel gewesen und hatte sich als solcher genug Geld verdient, um sich seinen Lebenstraum, einen eigenen Bauernhof zu leisten. 1908 war es dann soweit. In Mauche hatte die königliche preußische Ansiedlungskommission das dortige Vorwerk parzelliert und Hofstellen eingerichtet, von denen Wilhelm Brauer einen von 60 Morgen erwarb. Die Freude sollte nicht all zu lange dauern, denn als Ansiedler aus dem Jahr 1908 fiel er unter die Klausel des Versailler Vertrages und musste weg. Man sah sich also in der deutschen Nachbarschaft nach einem um. Die Familie Brauer hatte es schwer, drei Söhne waren im Weltkrieg gefallen und nun verloren sie Hof und Heimat. Da die meisten der 12 Kinder bereits erwachsen waren, suchten sie sich eigene Existenzen. Einer ging als Molker (= Schweitzer) nach Unruhstadt, einer blieb im deutschen Nachbarort Lupitze, und Wilhelm zog mit seinen jüngsten umher, um einen Ersatz für ihren Hof zu finden. Zuerst hatten sie sich Goile (Gola) ausgesucht, doch der Tausch klappte dann nicht. So fand man in Rädchen den Hof des alten Bauern Emil Noak, der nur Töchter hatte, von denen keiner den Hof wollte. So verkaufte er ihn an Wilhelm Brauer.
Anderen Optanten erging es ähnlich. Die Familie Karl Kluge war aus der Pfalz gekommen und hatte in Altkloster in der dortigen Kolonie einen Hof auf Erbpacht erworben, und er war mit einer Einheimischen aus Schussenze verheiratet. Auch sie mussten Mitte der 20er Jahre Polen verlassen. Ihr Erbpachtvertrag wurde gekündigt und Karl Kluge, der einen großen Hof gehabt hatte, konnte nur noch einen kleinen Hof in Rädchen erwerben.
Aber auch alteingesessene Familien aus Altkloster verließen Polen, weil sie sich als Deutsche fühlten auch wenn sie einen polnischen Ursprung hatten. So optierte auch Josef Kowalewicz nach Rädchen. Sein Onkel hatte sich zum Arzt hochgearbeitet und war in Wollstein tätig gewesen.
In Rädchen gab es mindestens noch eine weitere Familie, die optiert hat, die Familie Dudzinski, von der aber niemand mehr wusste, woher sie stammte.
In den ausgehenden 20er und 1930er Jahren beruhigte sich die Situation. Über eine Million Deutsche sollen in der Zwischenkriegszeit z.T. freiwillig, z.T. genötigt ihre alte, nun polnische Heimat verlassen haben. In Rädchen kehrte wieder die übliche Ruhe ein, auch wenn sich der Tourismus in der Region zu regen begann. Das bäuerliche Leben ging seinen beschaulichen Gang und von den Tollheiten der Nationalsozialisten bekam man hier nicht viel mit – bis sich der Krieg dem Ende näherte und es hieß, der Raum Schlawa müsse geräumt werden, da hier das Aufmarschgebiet für den Kampf um die Festung Glogau war, zudem gingen schreckliche Gerüchte um das Wüten der Roten Armee um. Dass diese Evakuierung zur Flucht und endgültigen Vertreibung aus der Heimat werden sollte, ahnten damals sicherlich die wenigsten. Und wieder war es eine schwere Zeit für die genannten Familien. Die Männer, Söhne, Brüder waren im Krieg und Frauen und Kinder mussten mitten im eisigen Winter auf den Treck gehen.
Mit der Roten Armee kamen auch polnische Zivilisten, die das größtenteils verlassene Land in Besitz nahmen ohne damals selber zu wissen, ob sie bleiben können oder die rechtmäßigen Besitzer wiederkommen. Der Kalte Krieg schuf unverrückbare Fakten und auch in Rädchen brach eine neue Epoche der Geschichte an. Noch in den 50er Jahren war dies noch nicht klar. Das merkt man daran, dass auch die neuen polnischen Namen für die einst deutschen Dörfer noch nicht festgelegt waren. Rädchen hieß damals noch Brzezie und Pürschkau Zbierski. Erst in späteren Jahren fand man Namen, die dem einstigen Klang der Orte näher kamen Radzy? und Przybyszów.

Im Jahre 1930 hatte Altwasser 217 Einwohner, 1936 wurden „nur noch" 200 gezählt. Zuletzt waren es mit dem Ortsteil Wiesengrund 410 Einwohner. Also wirklich ein bescheidener Ort, der dennoch sein Leben hatte, sein Schaffen, seinen Betrieb, von dem alle notwendigen Geschäfte, aber auch seine Vereine zeugen. Besaß er doch eine Freiwillige Feuerwehr, der Jugend war eine Jugendherberge offen, sicher auch für die der weiteren Umgebung. Die evangelischen Gemeindemitglieder wurden von Gramschütz aus betreut, die katholischen von Hochkirch, schulisch waren Porschütz und Hochkirch zuständig.
Altwasser gehörte nicht zu den Ausflusorten, um die man die 15 Kilometer Glogau aus zurücklegte, aber hatte es nicht auch seine landschaftliche Anmut, wenn man hinüberblickte zu den letzten Hügeln, die sich unfern emporhoben?

Das Denkmal im Schlosspark
Im Jägergang im Schlosspark des Rittergutes Altwasser stand ein steinernes Denkmal mit der Jahreszahl 1809. Es stellt einen weinenden Jäger dar. Die Chronik berichtet darüber folgendes: 1809 gehörte Gut Altwasser zwei Brüdern: Eines Abends gingen diese getrennt auf die Jagd. Der als letzter gegangene Bruder glaubte im hohen Gras ein Reh zu sehen und schoss darauf. Es war kein Reh, er erschoss den eigenen Bruder.

 

Dezember — der schönste Monat des Jahres für ein Dorfkind aus Rädchen am Schlesiersee
Von Prof. Dr. Gottfried Schröter

Im Dezember brauchte ich erstens nicht mehr im Garten zu arbeiten, zweitens ist da der 1. Advent, drittens Nikolaus, viertens mein Geburtstag, fünftens die Schulweihnachtsfeier und sechstens der Heilige Abend — was für ein Monat!
Zum Garten hatte ich während meiner ganzen Jugendzeit ein gespanntes Verhältnis. Wir verfügten außer dem von Flieder zugewucherten kleinen Vorgarten über einen großen Garten neben unserem Haus und über einen zweiten, der 200 m entfernt am Rädchener See angelegt war. Er war ebenso groß, sein Boden war aber schwer zu bearbeiten.
Wieviel wir auch arbeiteten: Wir wurden nie fertig mit den Gärten. Und wenn Vater mich am Nachmittag erwischte und sagte: »Gottfried, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du einmal mit in den Garten kämst«, dann war der Tag gelaufen, denn vor Dunkelheit wurde die Gartenarbeit in der Regel nicht beendet.
Natürlich war mir klar, dass eine so große Familie bei einem kleinen Dorflehrergehalt auf die Erträge der Gärten angewiesen war. Aber es war eine Schinderei!
Vielleicht war Vater in dieser Hinsicht auch nicht weise genug.
Hätte er gesagt: »Wenn du dieses Beet umgegraben und jenes von Unkraut befreit hast, dann darfst du gehen«, hätte ich mich angestrengt, um schnell fertig zu werden. So aber war die sinkende Sonne das Maß, und es war egal, ob ich mich bemühte oder nicht.
Dezember jedoch gab es keine Gartenarbeit. Und schon das allein machte den Monat erfreulich. Dazu kamen aber noch Vaters und Mutters Fähigkeiten, uns die Advents- und Weihnachtszeit besonders schön zu machen. Hierbei waren die Eltern Meister.
Die älteren Geschwister sorgten für den Adventskranz. Am Vorabend des ersten Advents wurden im Kreis der Kinder für jeden ein Wasserglas in ein Adventslämpchen verwandelt: Das Glas wurde mit einem etwa 12 cm breiten Streifen farbigen Seidenpapiers (meist rot) umwickelt, dessen oberes Ende zu Zacken oder anderen Verzierungen geschnitten war.
In das so geschmückte Glas tropften wir etwas Kerzentalg und befestigten damit eine hineingestellte Adventskerze.
Am Sonntagmorgen war im Wohnzimmer zwar bereits der Tisch gedeckt, die Türen jedoch blieben verschlossen. Mutter zündete die Kerzen jedes Glases an und die erste Kerze des Kranzes. Dann öffnete sie die Tür, und wir betraten unter dem Liedgesang »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. ..« den Raum. Es war feierlich und anheimelnd zugleich. Vater betete, während jeder hinter seinem Stuhl stand, und dann setzten wir uns.
Neben jedem Platz stand ein Tellerchen mit weihnachtlichen Süßigkeiten, erstmals im Jahr: helle Plätzchen, erste Pfefferkuchen, ein Stück Schokolade und ähnliches. Es war sozusagen eine Voraus-Kostprobe für das, was uns zu Weihnachten erwarten würde. In den Tagen um den 1. Advent kamen auch die Transparente und Weihnachtskalender aus der Weihnachtskiste, die den Sommer über auf dem Speicher gestanden hatte, zum Vorschein. Fast jedes Jahr wurde der Vorrat ergänzt oder ausgemustert. Natürlich waren alle Transparente und Adventskalender schrötergefertigt, und jedes Stück hatte seine besondere Entstehungsgeschichte. Noch als Siebzehnjähriger — ich stand kurz vor dem Abitur — putzte ich am Abend des 5. Dezember meine Schuhe besonders blank und freute mich am Morgen, dass sie Süßigkeiten enthielten. Als kleines Kind hatte ich damit gerechnet, dass Knecht Ruprecht nachts selber komme. Für die Aufklärung sorgten dann die Geschwister.
Ich habe eine Woche vor dem Heiligen Abend Geburtstag und bin meinen Eltern (und später auch meiner Frau) dankbar, dass sie den Geburtstag als Geburtstag feierten wie einen im April oder August. Einmal im Jahr stand man im Mittelpunkt des Interesses der übrigen Familie, wurde besonders beachtet und milder betrachtet, wenn man etwas verkehrt machte oder gar zu kess war.

Den Weihnachtsbaum bekamen wir auf zweierlei Weise: Hatte (wie meist) in der Schule die Weihnachtsfeier stattgefunden, wurde er mit all seinem Schmuck, der aus unseren Weihnachtskisten stammte, vorsichtig aus der Klasse in unser großes Wohnzimmer getragen. Sonst aber wurde er am Vorabend des Heiligen Abends von den Eltern geschmückt. Und schon die Art der Ausschmückung war am Morgen des 24. Dezember die erste Überraschung.
Der Vormittag war mit letzten Arbeiten aller Art ausgefüllt. Vor allem mussten jene Geschenke, die man für die anderen Familienmitglieder gekauft oder gebastelt hatte, noch eine letzte Begutachtung und eventuelle Abänderungen über sich ergehen lassen. Meist wurden sie auch erst dann eingepackt. Das Mittagessen an Heiligabend war dürftig, und das Kaffeetrinken fiel aus, damit wir am Abend so richtig hungrig waren. Gegen 16.30 Uhr machten wir Kinder uns auf den Weg zur Kirche ins benachbarte Schlesiersee. Die Eltern blieben daheim, um den Weihnachtstisch für alle acht Familienmitglieder aufzubauen. Der Gottesdienst in der an diesem Tag gefüllten Kirche war feierlich, die Predigten des Pastors dagegen immer etwas langweilig, aber das ganze Drum und Dran — manchmal sang auch ein Chor — sowie die ungewöhnliche Tageszeit gehörten einfach dazu. Nach dem Gottesdienst eilten wir noch zum Bäcker Leideck. Meist waren Pfefferkuchen und andere Kuchen, vor allem Mohnkuchen, bei ihm abzuholen — Mutter hatte den Teig bereitet, und wegen der Menge musste beim Bäcker gebacken werden.
Vor dem festlichen Abendessen las Vater wie immer eine Andacht vor. Zum Essen gab es wundervolle Weiß- und Krakauer Würste, dazu Sauerkraut und geschnitzelte Bratkartoffeln, in Butter gebraten. Außerdem die bereits erwähnte Brause-Limonade aus den Weingläsern. Beim Abwaschen mussten an jenem Abend alle Kinder helfen.
Und dann läutete im abgeschlossenen Weihnachtszimmer ein Glöckchen. Wir betraten den Raum der Geschenke, und ich überlasse es dem Leser, sich auszumalen, wie fröhlich, turbulent und voller Lachen der Rest des Abends verlief.


 

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