Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2016

Das unsichtbare Theaterdirektor

von Ottomar in der Au

5. Fortsetzung und Schluß

Wir gingen zusammen weiter. Ich war plötzlich in einer ganz eigenen besonderen Weise beruhigt und befriedigt, dass ich in meinen letzten Stunden in Glogau tatsächlich doch meinen Chef gesehen hatte; wenngleich nur von hinten. Denn auch dies gehört zum Aberglauben bei der Bühne: Man muss seinen Vorgesetzten wenigstens einmal in der Spielzeit gesehen haben, wenn man auch sonst mit ihm persönlich weiter nichts zu tun gehabt haben sollte.
Ich schwieg eine Weile, während die beiden Kollegen ein anscheinend vorhin unterbrochenes Gespräch fortsetzten.
L... sagte zu Alma: A quelle heure le depart?
Alma: A huit heures dix!
L...: Et à quelle heure l'arrivée?
Alma: II m'est impossible de vous le dire!
Ich (wie aus allen Wolken fallend): Mensch, Alma, du sprichst ja französisch!
Alma: Certainement mon collègue!
Ich: Du Heuchlerin! Und du hast immer so getan, als ob du nicht Französisch könntest! Und beim Riccaut hast du mich einmal hängen gelassen wie eine Osterglocke!
Alma (triumphierend gedehnt]: Ja, das ist ganz was anderes! Wenn ich im Kasten sitze, dann verstelle ich mich ja auch nur, genauso wie ihr da oben auf der Bühne! Und außerdem hatte ich immer nur kontrollieren wollen, ob du auch deine Rolle richtig konntest!
L... lud uns noch zu einem Abschiedsschnaps in seine Wohnung ein.
Während der ganzen vergangenen Zusammenarbeit mit ihm hatte ich ihn nie so philosophische Gedanken entwickeln gehört wie jetzt. Er schien mir ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Aber so ist es wohl oft. Und gerade bei der Bühne finden sich ja Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten zusammen, die sonst vielleicht niemals irgendwelche Beziehungen zueinander hätten aufnehmen können. Aber die Kunst vereinigt sie. Hier stecken sie unter einem Hut. Hier ziehen sie im wahrsten Sinne des Wortes an einem Strick. Hier sind sie alle die gleichen Kinder derselben Mutter Bühne. Ohne dieses Band, diese geheimnisvolle Fessel, würden draußen im Privatleben ihre Wege auseinandergehen. Hier aber sind aller Augen nur auf einen einzigen Punkt gerichtet: Diener der Kunst zu sein! Und dieser Befehl erhebt sie alle auf jene Ebene, auf der der Traum sich in das Wachsein mischt — was den Menschen, die vor dem Vorhang sitzen, ein unbekanntes und unerreichbares Land bleiben muss.
L... fuhr in seiner Erzählung fort: Ja, der Direktor lebt zurückgezogen. An sich findet man ein solches Verhalten bei Theaterleuten öfter, und verständlicherweise besonders dann, wenn sie die Möglichkeit haben, auf der Bühne — die ja ihr eigentliches Leben bedeutet — ihre Herzen aufblühen lassen zu können. Das traf zum Beispiel bei der großen italienischen Schauspielerin Eleonora D u s e am offensichtlichsten und im höchsten Maße zu. Sie vermochte — wie selten eine Künstlerin — in ihren Rollen auf der Bühne vor den staunenden Augen des Publikums total hemmungslos, mit schier unbezähmbarer leidenschaftlicher Lust ihre Seele zu entblößen. Und dennoch war dieses Spiel äußerst beherrscht von einem großen Willen. Jeder kleinste Schritt war ebenso wieder bis ins kleinste durchdacht und gelenkt von einem großen fraulichen Bewusstsein. Diese geniale Arbeit merkte aber das Publikum nicht; es sah und empfand nur, dass dort oben auf der Bühne diese Künstlerin nichts anderes tat, als rücksichtslos ihr ganzes verfügbares Gefühl verströmen zu lassen. Im Privatleben dagegen litt die Duse an geradezu unnatürlichen Hemmungen — sie hatte gewissermaßen schon auf der Bühne alles hingegeben und verschenkt. Sie war derart menschenscheu, dass sie sich in Gesellschaft wie ein ungeschicktes, schüchternes, kleines Mädchen betrug.
Der Laie kann das oft nicht verstehen, weil er meint, dass doch gerade der Zuschauer ein notwendiger und berufsgewohnter Teil des Handwerkszeugs sei, mit dem der Schauspieler zu arbeiten habe. Das ist aber nur bedingt der Fall. Privat ist der Künstler auch nur Mensch. Nun kommt aber das Merkwürdige: Er ist auf der Bühne um so besser, je mehr er auch dort Mensch sein kann. Er darf aber unter Menschen kein Künstler sein wollen; denn dann ist er meistens — sowohl hier wie da — rein als Individuum schlecht.
Es ist ein Geheimnis mit der Kunst. Es ist schwer, ihr Diener zu sein; aber beglückend. Der Künstler spürt dieses Geheimnis, aber er kann es nicht benennen. Er kann es nur sein! Und zwar nur: auf der Bühne!
Wir saßen schon längst beim dritten Schnäpschen in L.. .'s neuer Wohnung, und immer noch sprach er vom Theater: Warum aber unser Direktor so scheu ist, der sich doch als Gegengewicht dazu auf der Bühne gar nicht ausarbeiten, erschöpfen und erfüllen konnte wie wir — ich meine, das muss einem anderen Affekt entspringen, den wir nicht kennen. Und den er vielleicht selber nicht kennt. Ein Geheimnis ist also nicht nur der Künstler, sondern auch der Mensch.
Ja, ein Geheimnis ist auch der Mensch — spann jetzt Frau L..., die sich mit Alma in einer anderen Ecke des Zimmers unterhalten hatte — den Faden weiter: Und weißt du, an wen ich in diesem Augenblick auch noch denken muss?
Natürlich — nickte L... zu seiner Frau hinüber — und ich rechne es dir hoch an, dass du in Gegenwart unseres Besuches davon sprichst. Du denkst an unseren armen verstorbenen Kollegen St...

Sie müssen nämlich wissen — wandte sich Frau L... zu mir — dass ich einmal im Scherz ein Gelübde getan hatte. Kurz vor seinem Tod kam St... nochmals in mein Geschäft, um sich ein paar Gamaschen zu kaufen, auf Pump selbstverständlich, wie immer. Ich schlug ihm das ab, weil er schon seit langem eine größere Summe Schulden hatte und nie Anstalten machte, sie wenigstens nach und nach abzutragen. Ich erklärte, ich würde lieber einen Blechkranz auf seinen Sarg legen, damit er es auch schön tropfen hören könne, wenn es regne, als ihm noch einen Pfennig Kredit zu gewähren. Darauf erwiderte er kein Wort. Er sah mich nur eigenartig traurig mit großen Kinderaugen an. Dann drehte er sich um und ging hinaus. Ich kann den Blick nie vergessen.
Nein, du wirst ihn nicht vergessen und musst nun dein Gelübde halten — sagte L... ernst vor sich hin.
Natürlich. Und zwar werde ich ihm jedes Jahr an seinem Todestag einen
Strauß Blumen aufs Grab legen; allerdings nicht aus Blech, sondern — echte. Ich glaube, er war verliebt in mich . . .
Glauben? — sagte L... immer noch ohne aufzuschauen — glauben? Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Aber — — er soll in Frieden ruhen! Na, zum Wohl! — Damit trank er den Rest seines Glases aus.
Alle bemerkten plötzlich, dass sich Alma verstohlen die Augen abtupfte.
Kommt, kommt, trinkt noch einen und seid schön friedlich — ermunterte uns Frau L..., aber auch sie hatte ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen.
Trotzdem schob sich erst noch eine längere Pause zwischen uns vier. Dann hatte ich das Gefühl, als ob der rechte Augenblick gekommen sei, eines meiner Gedichte vorzulesen, die ich auf meinem geliebten Turm geschrieben hatte:

Künstler
Wenn du unter Menschen bist,
Künstler, musst du schweigen.
Darfst nicht jedem Dummkopf zeigen,
Was dein Reichtum ist.

Nur beim Spiel im Rampenlicht
Sollst du dich entfalten
Und dein Herz weit sichtbar halten
Wie ein Goldgewicht.

Sollte einer dann allein
Dein Talent erkennen
Und dich dankbar „Künstler" nennen,
Kannst du glücklich sein!

Das Gedicht gefiel allen. Und jetzt war es die Hausherrin, die das Wort übernahm: Ja, da haben Sie recht — und St... war ein wirklicher Künstler. Er hätte das Zeug dazu gehabt, am größten Theater zu sein. Ich kann das schon irgendwie beurteilen.
Sie hielt eine kleine Weile im Sprechen inne, so dass ihr Mann sich bewogen fühlte, an ihrer Stelle fortzufahren: Ihr müsst nämlich wissen, dass meine Frau früher auch mal bei der Bühne war!
Ja, und zwar an der gleichen Bühne wie St... — schaltete sich Frau L... wieder ein: Damals hatte ich es aber noch nicht bemerkt, dass St... mich liebte. Es war Zufall, dass wir dann hier in Glogau wieder zusammentrafen. Ich war inzwischen die Frau eines Geschäftsmannes geworden. Aber alle die besonderen Empfindungen über die Bühne, über den Künstler und so weiter, von denen Sie sprachen, und die auch in Ihrem Gedicht so schön zum Ausdruck kommen, all das, wie gesagt, ist auch mir bekannt. Ja, die Bühne ist unsere Mutter, die uns Nahrung und Kraft für unser Talent gibt. Nur dort kann sich der Künstler ohne Scheu entfalten, dort muss er es tun! Nur dort soll und kann er sich geschützt und sicher fühlen. Aber diese Mutter ist kompromissloser als eine irdische menschliche Mutter. Der Künstler soll menschlich sein, gewiss, aber die Kunst ist nicht menschlich. Sie ist hoch und hehr, schön und heilig, aber zugleich auch grausam. Und — das Publikum ist grausam. Aber ich wollte auf etwas anderes hinaus; ich wollte sagen, ich hatte wohl Erfolge, aber trotzdem erkannte ich eines Tages, dass mir die Verantwortung, Dienerin der Kunst zu sein, immer untragbarer wurde. Ich habe mein Glück in einer anderen Arbeit gefunden, in der bürgerlichen.
Hier griff ihr Mann zärtlich nach ihrer Hand und fügte hinzu: Und ich das meine in der bürgerlichen Liebe!
Alma musste nun endlich auch mal was sagen: Schade, dass wir alle nicht schon früher so nett zusammengekommen sind!
Ja — pflichtete ich bei — ich bedauere es auch. Aber heute nacht muss ich leider schon fahren.
Alma sprach weiter, und wir drei anderen erlebten bei ihren Worten die Umwandlung eines Individuums, dessen berufliche Bestimmung es bisher gewesen war, aus dem Kasten heraus stets nur fremde Weisheiten zu wiederholen und nachzureden, zu einem selbständigen Menschen, der auch eigene Gedanken treffend auszudrücken vermochte. Alma sagte: Es ist merkwürdig, Abschied zu nehmen von einer Stadt, von der man weiß, dass man sie wahrscheinlich nicht wiedersehen wird, obwohl man doch ganz persönliche Freude und ganz persönliches Leid in ihr erfahren und mit ihr geteilt hatte; so, als sei sie ein lebendiger Mensch gewesen; abgesehen von den guten wirklichen Menschen, die man dort kennengelernt hatte. Eine Stadt muss weiter lebendig bleiben im eigenen lebendigen Leben, dem sie sich vermählt hatte, und von dem sie selbst ein nunmehr dazugehöriges, notwendiges Teil geworden ist. Muss weiterhin lebendig bleiben in der eigenen lebendigen Erinnerung, die ihrerseits dieser Stadt nun gleichfalls stets die Treue halten muss, weil die Stadt auch der Erinnerung Heimat geworden ist!
Das hast du schön gesagt — meinte Frau L... — und deshalb bleiben wir beide, mein Mann und ich, jetzt auch hier!
Und zu Alma und mir gewandt, sagte sie: Ihnen aber wünschen wir für Ihr weiteres Leben noch viel Erfolg und alles Gute!
Aber — toi, toi toi — sagt man doch da am Theater — ermahnte ihr Mann sie lachend — und vor allen Dingen: Hals und Beinbruch!

>Droschkenbahnhof vor dem Stadttheater, Zeichnung: Hans-J. Gatzka<

Frau L... füllte zum letztenmal unsere Gläschen nach: Siehst du, gut, dass du davon sprichst, denn ich wollte nämlich vorhin noch sagen, dass ich auch an den Aberglauben am Theater nie so recht glauben konnte!
Das war dein Fehler und mein Glück — warf L... belustigt ein — aber das macht gar nichts, und das meinst du auch bloß so. Bei der Bühne blüht eben der Aberglaube. Er gehört zum Schauspieler wie Schminke und Puder. Keiner glaubt angeblich ernsthaft daran, und alle tun es doch. Und je kleiner die Bühne, um so größer der Aberglaube! Und somit nochmals: Toi, toi, toi, liebe Kollegen, und Hals- und Beinbruch!
Ich saß schon etliche Stunden im Zug, der mich dem Elternhaus mit jedem Kilometer näher brachte. Es war Nacht. Ich lauschte auf das Rollen der Räder, und in meinen Ohren summte es immer noch nach: Man soll wohl beglückt sein am Theater, aber das Wort „Glück" auf der Bühne auszusprechen, ist beim Schauspieler verpönt, weil dann leicht ein „Unglück" daraus werden kann. Nicht mit Unrecht heißt es:
Hast du auf offener Szene auch
Applaus,
Erfolg stellt sich nach Stückschluss
erst heraus!
Und weiter rekapitulierte ich mein Wissen über den Aberglauben. Wenn man sich morgens vor der Probe begrüßt, sagt man nicht „Guten Morgen", sondern „Grüß Gott". Wenn man sich nach der Probe verabschiedet, sagt man nicht „Auf Wiedersehen", sondern „Mahlzeit". Es ist eine alte Erfahrung, dass bei der Bühne stets das Gegenteil von dem passiert, als was man sich gegenseitig wünscht. Und wenn man nun also wirklich jemand etwas Gutes wünschen will, dann sagt man nicht „Viel Glück" wie gewöhnliche Sterbliche, sondern eben „Hals- und Beinbruch". Also das Gegenteil.
Der Aberglaube ist ungeschriebenes Bühnengesetz, Berufsbrauch, Tradition geworden. Man darf privat hinter der Szene nicht hart mit den Absätzen auftreten, sondern nur ganz leise und vorsichtig auf Zehenspitzen gehen. Man darf nicht laut sprechen, nicht den Hut aufbehalten, nicht mit irgendwas rascheln und knistern, nicht essen, nicht trinken, nicht niesen, nicht husten. Man darf auch keinerlei körperliche Schmerzen haben. Und man hat sie auch nicht. Wenn man auf die Bühne hinausgeht, sind im selben Augenblick alle Kopfschmerzen, alle Zahnschmerzen weg, einfach wie fortgeblasen, mögen sie einen kurz vorher noch so wahnsinnig gepeinigt haben.
Während der Vorstellung dürfen nur Papierblumen verwendet werden. Echte Blumen dürfen und sollen ja erst nach Fallen des Vorhanges vom Publikum auf die Bühne geschickt werden. Man darf im ganzen Theater niemals pfeifen. Das ist eine Todsünde. Wenn man das tut, dann wird abends auch das Publikum pfeifen.
Vor einer Premiere muss man dreimal auf den Souffleurkasten klopfen, damit man nicht selber „bekloppt" ist und nicht nachher im Text hängenbleibt. Ferner muss man während einer Premiere vor jedem neuen Akt dreimal den Vorhang anspucken, so wie sich vorher bei Beginn des Stückes alle mitspielenden Kollegen dreimal gegenseitig auf die linke Schulter gespuckt haben mussten. Natürlich genügt in diesem Falle ein symbolisch angedeutetes, dezentes Pusten. Wer das zu drastisch täte, würde damit nur bekunden, dass er kein Künstler, sondern ein Banause wäre.

Man darf ferner nie seine Hasenpfote, die zum Abpudern dient, verlieren, sonst wechselt man das Engagement; es sei denn, diese Dienstveränderung entspräche dem eigenen Wunsch. Diesen Wunsch darf man nun aber auch wiederum keinem Kollegen gegenüber äußern, denn sonst wird aus dem heimlich ersehnten Engagementswechsel nichts; trotz des Verlierens der ominösen Hasenpfote.
Die gleiche Spielzeitwechselwirkung haben der Puder, den man verstreut, und der Schminkspiegel, den man zerbricht.
Ein im Engagement Verbleiben erzwingt man, wenn man in Gesellschaft nicht versäumt, sofort seine Finger in die Pfütze zu stecken, die ein Kollege durch Umwerfen seines Getränkes oder durch Verschütten der Soße und so weiter auf dem Tischtuch verursacht hatte.
Ein gänzliches Abgehen aber vom Theater überhaupt bewirkt ein unbedachter, versehentlicher Sprung von der Bühne über die Rampe hinweg in den Zuschauerraum. Das soll bei allen Geistern der Versenkung unbedingt vermieden werden.
Und genau das war es, was L... einmal während einer Probe - es handelte sich sogar um eine die Sache noch verschlimmernde Generalprobe — eben nicht vermeiden konnte, als er mit dem Rücken zum Zuschauerraum dicht an der Rampe stand, irgend etwas erklären wollte, dabei einen Schritt nach hinten trat und in den tiefen Orchesterraum gestürzt wäre, wenn er sich nicht im letzten Augenblick zu einem rettenden Sprung in den Zuschauerraum von der Rampe abgestoßen hätte. Die Folgen, die allerdings in diesem Falle für alle Beteiligten ausnahmsweise nur die angenehmsten waren, haben wir ja dann auch erlebt.
Sonst aber darf eine Generalprobe, was den regulären Ablauf der Arbeit auf den Brettern betrifft, nicht klappen. Auch das ist ein altes Bühnengesetz. Wenn sie nämlich klappt, dann wird die Vorstellung schlecht. Und manchmal muss sogar ein kleiner Krach künstlich vom Zaun gebrochen werden, nur um diesem Aberglauben seinen Tribut zu zollen.

Glogau lag nun schon weit hinter mir. Aber meine Gedanken waren immer noch bei meinen Dohlen im Turm. Ich nahm den Schlüssel aus meiner rechten Hosentasche und spielte mit ihm.
Meine Gedanken waren bei Mutter Seebald. Ich nahm ihr zu Ehren einen kleinen feierlichen Schluck aus ihrem Fläschchen.
Ich sah mich im Geiste auf dem Theatervorplatz stehen und zu Gryphius hinaufschauen. Ich sah, wie der Meister der Musen seinen Blick stolz gen Himmel richtete; aber dann sah ich, wie er ihn mit einemmal langsam zur Erde senkte und mich anlächelte.
Ich nahm, wie im Schlaf, Notizbuch und Bleistift zur Hand und wendete mein Gesicht mit geschlossenen Augen zur Nacht hinaus.
Als der Zug auf einer neuen Station zum Halten gekommen war und ich in mein Notizbuch sah, entdeckte ich im Schein einer Bahnhofslaterne, dass ich einen. Vers geschrieben hatte. Er lautete:

Nur am Charakter kann es dir, Talent,
Gelingen, dich zur Höhe aufzuwinden —
Sei einen Augenblick von ihm getrennt,
Du wirst dein Ende in der Tiefe finden . . .

Als der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, holte ich meinen Engagementsvertrag vor und betrachtete versonnen die Unterschrift meines gewesenen Chefs. Wie eine seltsame, traumhafte Erscheinung kam er mir auf dem Stadtwall vor, die unvermittelt vor mir auftauchte und im Vorbeigehen meinen Augen ebenso rasch wieder verschwand— mein Direktor, bei dem ich so schöne Rollen gespielt hatte, ohne dass er selber mich jemals kannte . . .
E N D E

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