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Die verwitwete Inhaberin jenes Herrengeschäftes sollte aber bald nach dem plötzlichen Tod des Kollegen St. . . . noch in einer erfreulicheren Weise mit unserem Theater zu tun bekommen: Ein anderer Kollege, der Bonvivant L . . . heiratete sie, hängte das Theaterspielen an den berühmten Nagel und wurde Besitzer eines der elegantesten Geschäfte Glogaus.
Bei seiner Hochzeit erhielten alle Kolleginnen ein paar Sportoberhemden von ihm mit den dazugehörigen Schlipsen, und alle männlichen Kollegen unter anderem ein paar Gamaschen. Wie hätte sich unser armer St. . . . darüber gefreut! Für fünf Mark mehr hätte er in seiner rauschsüchtigen kummervollen Gedankenwelt glücklicher sein können!
Außerdem veranstaltete L. . . . selbstverständlich eine zünftige Nachfeier in der Küche bei Mutter Seebald. Stolz saß sie da im neuen schwarzen Taftkleid, das der Hochzeiter als Geschenk für sie ausgesucht hatte. Glückliche Tränen glitzerten permanent in ihren guten Augen. Und ziemlich spät in der Nacht war es diesmal geworden, als sie zum Schluss sagte: So, Kinder, und nun vergesst mir bloß nicht, heute besonders sorgfältig euere Antennen zu erden!
Ja, das sind die treuen Seelen um das Theater herum! Treue Seelen, die — obwohl sie nur Außenstehende sein können — dennoch viel von den Belangen der Bühne verstehen. Umgekehrt findet man bei der Bühne selbst Mitglieder, die auch treue Seelen sein können, aber trotzdem nicht allzu viel Ahnung vom Theater haben. Das ist bedauerlich.
Wenn dagegen eine Souffleuse, die man damals noch „Flüsterlotte" oder „Alma" nannte, mochte sie auch im Privatleben Elisabeth oder Thusnelda heißen, wenn also eine Souffleuse beispielsweise fremder Sprachen nicht mächtig war, was man allerdings von einem Schauspieler bis zu einem gewissen Grad verlangt - so wie er auch schwimmen, fechten, tanzen, reiten und auf Befehl lachen und weinen können muss - so braucht dieses Manko ihrem Talent und ihrem Können als „Zuflöte" durchaus keinen Abbruch zu tun. Sie kann dabei trotzdem eine helfende, treue Seele sein. Unsere Alma in Glogau war eine solche.
Ich spielte den Riccaut de la Marliniere in der Minna von Barnhelm. Alma konnte kein Französisch — wie ich die ganze Spielzeit annehmen musste —, dennoch wusste sie sich zu helfen. Jedesmal, kurz bevor ich zu reden hatte, tippte sie mit dem Bleistift aufs Buch, legte die Hand an den Mund und flüsterte mir mit ängstlich hochgezogenen Augenbrauen besonders aufmerksam zu: Jetzt kommt wieder Französisch!
Das war rührend gut gemeint, aber ein weiter Begriff.
Ich lächelte dann natürlich immer befriedigt und tat so, als ob ich es verstanden hätte. In Wirklichkeit hatte ich meine Rolle — wie es ja eigentlich immer, aber gerade beim Riccaut unbedingt erforderlich sein soll — so gut gelernt, dass ich die liebe Alma in diesem Falle überhaupt nicht brauchte. —
Damals gab es an den mittleren Stadttheatern noch keine ganzjährigen Verträge wie heute. Eine Spielzeit dauerte in der Regel von September bis Palmarum.
Im allgemeinen gebraucht man die Redensart: der oder jener sei gut durch den Winter gekommen! Beim Schauspieler war es wichtiger, möglichst gut über den Sommer zu kommen!
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. . . und das blieb vom Theater nach 1945 übrig!<
Wenn er Glück hatte, konnte er für zweieinhalb bis drei Monate ein Engagement an einer Sommerbühne, einem Bäder- oder Kurtheater erwischen. Aber das war selten. Meistens bekam er nichts.
Mir selbst war die Muse Thalia auch in dieser Beziehung vorwiegend freundlich gesinnt. Ich war einmal sieben Sommer hintereinander im Kurtheater Bad Salzbrunn in Schlesien engagiert, das von der Direktorin Adolfine M ü l l e r geleitet wurde, und zwar jahrzehntelang, einer weit über die Lokalgrenzen hinaus bekannten, fast legendär gewordenen Persönlichkeit. Viele alte Schlesier werden sich bestimmt noch dieses Namens erinnern. Um diese einmalig originelle, eigenartig interessante Frau haben sich bereits zu ihren Lebzeiten blühende Anekdotenkränze gewoben, die ich alle in einem anderen Buch („Ick bin 'n anständijet Theater") aufgezeichnet habe.
Jedenfalls war es also damals im allgemeinen kein Wunder, wenn der Schauspieler dem sogenannten Palmarumszauber, wie er den Engagementsschluss zu nennen pflegte, mit gemischten Gefühlen entgegensah.
Auch in Glogau stand eines Tages Frühling im Kalender. Das Eis war geschmolzen. Man sah bereits die ersten Gondelboote auf dem Stadtsee schaukeln. An den Büschen und Sträuchern auf dem Stadtwall waren die dicksten Knospen schon aufgesprungen. Allenthalben zeigte sich mutiges, hoffnungsvolles Grün in der Natur. Sehnsucht nach Unbekannt erwachte auf den Wegen, die die Menschen gingen.
Ich nahm Abschied von meinen Turmzimmern, von meinen Mauerseglern und Dohlen, die meine Freunde und geduldigen Zuhörer bei meinen Sprechübungen da oben in himmlischer Gottesnähe gewesen waren.
Ich nahm Abschied von Mutter Seebald. Sie gab mir noch ein Fläschchen Schnaps zur Fahrt nach Hause mit und sagte, ich sollte nicht vergessen, hin und wieder die Antenne zu erden! Dabei rollten ihr zwei blanke Tränen über ihr liebes Gesicht.
Vormittags hatte ich schon meinen großen Koffer als Fracht bei der Bahn aufgegeben; nachmittags machte ich noch einen letzten Spaziergang über den Stadtwall ...
Hin und wieder blieb ich stehen und betrachtete in Gedanken versunken die ersten zarten Blättchen an Baum und Strauch. Ja, sie waren die unerbittlichen Verkünder des Palmarumszaubers!
Vor mir ging ein großer, stattlicher, distinguierter Herr mit einer hohen Persianermütze auf dem imposanten Gelehrtenkopf. Er trug einen dicken Winterpelz, obwohl das Wetter doch schon verhältnismäßig mild war. Er hatte ein ernstes, blasses Gesicht; es war merkwürdig starr, wie aus Marmor gemeißelt. Er ging an einem Stilfser (= Alpen) Bergstock mit einer Gummizwinge einher, behutsam und etwas schwerfällig, wie mir schien.
Ab und zu blieb auch er tief aufatmend stehen und tat dasselbe wie ich. Er nahm bald hier, bald da versonnen die jungen biegsamen Zweige des Buschwerks in Augenschein, wobei er sie manchmal fast liebevoll durch die Finger gleiten ließ. Dann setzte er seinen sonderbaren vorsichtigen Gang wieder fort.
Ich ging immer im gleichen Abstand hinter ihm her und beobachtete ihn ständig.
Da kam uns mein Kollege L..., der ehemalige Bonvivant, der in das Herrengeschäft hineingeheiratet hatte, mit unserer lieben guten Alma entgegen. Sie grüßten auffallend höflich den würdevollen Pelzträger, der jedoch seinerseits die Grüße zwar nicht gerade unfreundlich, aber doch äußerst gemessen erwiderte. Man hätte sagen mögen, er machte vielleicht eher einen weltfremden, scheuen Eindruck dabei. Er ging hoch aufgerichtet und unentwegt geradeaus schauend weiter, gleichmäßig langsam, ohne Aufenthalt und ohne eine Miene zu verziehen.
Die beiden Kollegen waren jetzt bei mir. Ich fragte Alma, wer jener eigenartige Herr sei, ich hätte ihn noch nie gesehen.
Während wir nun dem Pelz so lange nachschauten, bis er hinter einer Biegung des Walles verschwunden war, eröffnete mir Alma: Du wirst lachen, das war unser Direktor T. . . , bei dem wir engagiert waren! Er kennt mich nicht. Auch ich habe es bis vor einigen Tagen noch nicht gewusst. Erst L... hat es mir neulich erzählt, dass er es ist. Er soll krank sein, aber kein Mensch weiß, was ihm fehlt. Er hätte die ganze Spielzeit zu Bett gelegen und begänne jetzt erst wieder mit seinen einsamen Spaziergängen. Dann heißt es auch wieder, er lebe nur aus Aberglauben so menschenscheu und zurückgezogen. Er leide unter der Einbildung, niemals die Direktion des Theaters zu verlieren, solange er selber es nicht betrete. Ob das stimmt, weiß man ebenfalls nicht. Ein Sonderling scheint er immerhin zu sein!
So hatte ich noch am letzten Tag durch unsere Alma etwas Interessantes erfahren, und ich machte ihr ein Kompliment, das sie am meisten erfreuen musste: Siehst du, ich habe es ja immer gesagt, du bist doch eine gute Souffleuse!
Alma und L... wechselten schmunzelnde Blicke, so als ob sie noch eine andere Überraschung für mich in petto hätten.
Zunächst kam L. .. nochmals auf den Direktor zurück: Ja, ich habe es auch erst vor einer Woche erfahren, als er zum erstenmal in mein Geschäft kam. Ich bin ja nun kein Mitglied mehr. Er will immer seine Herrenwäsche bei mir kaufen. Mit keinem Wort erwähnte er meine frühere Zugehörigkeit zum Theater. Komischer Kauz. Jetzt geht er wieder täglich über den Stadtwall, immer allein. So habe ich ihn schon vor Jahren wandern gesehen, ohne dass ich wusste, wer er war. Ja, er geht immer allein, obwohl er eine große Familie hat — oder vielleicht ist er gerade deshalb so einsam... |
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