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Folgende Sage von unserem Dome ist die meisten bekannte und im Hier möchte ich einmal nicht von Vorstellungen und Dingen erzählen, die sich auf der Bühne abspielten, sondern von kleinen, lustigen und besinnlichen Begebenheiten, die sich um das Theater herum zugetragen haben.
In der alten Kreisstadt G l o g a u in Schlesien war ich vor langen Jahren unter der Direktion T ... als „singender und tanzender jugendlicher Held und Liebhaber" engagiert. Eine drollige Fachbezeichnung, die es wohl heute kaum noch gibt. Umgekehrterweise kannte man früher den „schauspielenden Sänger" noch nicht.
So gab es dann zum Beispiel im Gegensatz zu heute auch noch eine „singende Naive", die im Privatleben durchaus nicht immer weder vom Singen noch vom Naivsein etwas zu verstehen brauchte. Aber auf der Bühne hatte man sich ja zu verstellen. Oder es gab eine „jugendliche Alte und komische Mutter" oder eine „reife, übertragene Salondame", die wiederum im Leben jünger sein konnte als die sogenannte jugendliche Alte. Man hatte sich eben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, nicht nur anders zu betragen, sondern man hatte tatsächlich ein völlig „anderer" zu sein; und man war es auch.
Das Engagement in Glogau wäre zunächst um ein Rosshaar nichts geworden, da ich nicht mit angegeben hatte, dass ich auch Skat spielen könnte. Schließlich klappte es doch noch, weil der Direktionssekretärin mein Bild so gut gefiel, auf das ich meine Bewerbung halb in Gedichtform geschrieben hatte. Direktionssekretärinnen haben meistens einen verkappten Sinn für Poesie.
Es war also jene romantische Zeit, da brauchte man an drei Wintertheater nur drei Postkarten zu versenden mit dem Text: Suche Engagement als das und das. Bin frei. Guter Lerner. Guter Skatspieler. Kein Krakeeler!
Von diesen drei Postkarten erhielten zwei unweigerlich eine Zusage. Und von diesen zwei Zusagen hatte man sich natürlich - wie man meinte - prompt die verkehrte ausgesucht.
Hätte ich bloß den anderen „Laden" genommen - hieß es dann oft, wenn Weihnachten vorüber war - der wäre viel besser „geheizt" gewesen!
Darunter verstand man eine Bühne, die pleitesicher fundiert war, und an der man ausschließlich gute Rollen spielte. Hätte man aber jene Bühne gewählt, dann wäre - aus der sehnsüchtigen Ferne betrachtet - eben die gegenwärtige die besser „geheizte" gewesen.
Nun, ich will ehrlich sein, mein Glogauer Engagement war gut geheizt. Das sagten auch meine Kollegen. Und vielleicht war es gerade deshalb so, weil wir einen sogenannten Herrn Direktor in persona nie zu Gesicht bekommen hatten. Erst am letzten Tag des Engagements erfuhren wir den Grund, weshalb der Direktor die ganze Spielzeit hindurch unsichtbar geblieben war.
Nun hätte man meinen können, dass wenigstens die Spielleiter sich ein konkretes Bild vom Direktor zu machen imstande gewesen wären, alldieweil es ja sonst am Theater üblich war, auf regelmäßig abzuhaltenden Regiesitzungen unter Vorsitz des Direktors den Probenzettel und den Spielplan für die nächsten 14 Tage zu besprechen. Aber auch das traf hier nicht zu. Die Regisseure erhielten hingegen ihre Arbeitsrichtlinien von der Direktion durch einen neutralen Mittelsmann überbracht, der selbst keinerlei eigene Meinung haben durfte und - den jeweiligen Umständen entsprechend - auch nicht haben konnte, und von dem man also ebenfalls nie herausbekam, wer die Direktion eigentlich verkörperte. Oft wechselte zudem dieser Mittelsmann noch und war nicht immer männlichen Geschlechts. Manchmal war es eine Nichte des Direktors, dann wieder ein neues Dienstmädchen und so fort.
>Theateraufführung Januar 1934 „Romeo und Julia“<
In der Schneiderei sowie in der Kostüm-, Fundus- und Requisitenverwaltung residierte wohl eine ältere Dame, die ebenso korpulent wie unnahbar war, und über die das Gerücht umlief, sie sei möglicherweise die Frau des Direktors. Aber das war uns kein ausreichender Begriff für die tatsächliche Personifizierung einer Theaterdirektion. Und wir legten auch gar keinen ernsthaften Wert darauf, es zu erfahren. Außerdem hatten wir zu jenen geheimnisumwitterten Schneidereiräumen sowieso keinen Zutritt. Sie waren unserer Meinung nach unnütz und hatten mit unserer Bühne nichts Offensichtliches zu tun; mit unserer geliebten Bühne, die nicht nur einfach so leichthin gesagt unsere Domäne bedeutete, sondern die unser ganzes Lebensgefühl auf jene selige Daseinsebene hob, von der sich gewöhnliche Außenstehende gar keine Vorstellung machen konnten.
Und schließlich, wozu brauchten wir überhaupt eine Direktion? Wir selbst waren das Theater! Eine solche grundgültige Erkenntnis genügt dem jungen Schauspieler. Hier ist er in Wahrheit wie der Säugling, der fröhlich und begeistert sein Fläschchen trinkt, ohne zu fragen, woher es kommt. Und das ist ganz natürlich. Der Künstler soll ja Kind sein.
Für immer Kind sein ohne Schuld und Fehle,
Als ob die Mutter dich am Busen wiegt –
Wenn dieser Sinn in deinem Herzen siegt,
Bist du auch siegreich, Künstler, in der Seele!
In jener Schneiderei roch es lediglich nach Mottenkugeln. Dieser Duft, der allein schon ein unfreundliches, schmales Zusammenkneifen der Lippen bewirkte, drang Tag und Nacht aus den Türen und war bereits in einem bestimmten, gleichsam wie von einer unsichtbaren Wand abgesteckten Umkreis auf den verwinkelten Fluren achtunggebietend wahrnehmbar.
Die jungen Schneiderinnen, die dort arbeiteten, sahen blass und freudlos aus. Sie waren ständig, wo sie auch gingen und standen, von einer in ihrer Intensität gleichbleibenden Naphthalinwolke umgeben. Wenn wir diesen stillen Geschöpfen auf den Treppen begegneten, schlugen sie verschämt die Augen nieder und machten einen höflichen Bogen um uns herum.
Die Frau Direktor hielt streng auf Berufssitte. Sie wünschte es nicht, dass weder ihre Schneiderinnen noch die übrigen weiblichen Angestellten der technischen Abteilungen sich in irgendeiner Weise mit den „bösen Künstlern" abgaben.
Aber eines schönen Tages hatte ausgerechnet unser in sonstigen Fragen von Düften sehr penibler Tenor es dennoch erreicht, dass plötzlich sein ganzer Anzug merkwürdig penetrant nach Mottenkugeln roch. Und dieser Geruch, der obendrein noch von einem neuartigen lebenswarmen, lebensbejahenden, gewissermaßen hoffnungserregenden persönlichkeitsbestimmenden Schweißduft durchmischt war, ging künftig nicht mehr aus unserer Garderobe heraus.
Gegen Ende der Spielzeit heirateten dann auch - ebenso unauffällig wie allgemein erwartet - der duftbekehrte Tenor und die kleine lächelnde Midinette. Er kam einmal lediglich eine halbe Stunde zu spät zur Probe. Er sagte nur: Entschuldigt bitte, aber ich komme gerade vom Standesamt. Wir dachten nicht, dass es so lange dauern würde.
Wie die Frau Direktor sich dazu geäußert hatte, ist uns nicht weiter zu Ohren gekommen. Allzu schlimm wird es in diesem Falle nicht gewesen sein, denn der Tenor war ja kein Künstler; ich meine: kein „böser Künstler", wie die Frau Direktor immer sagte.
Jedenfalls sollen die beiden sehr glücklich geworden sein, und das war ja schließlich die Hauptsache. Für den Tenor und seine Frau hatte also jene Schneiderei doch eine gewisse nützliche Bedeutung gehabt.
Nach vielen Jahren traf ich in einer anderen Ecke Deutschlands zufällig mit ihrem Töchterchen zusammen. Es war ein begabtes hübsches junges Mädchen und in jener Stadt als Chorsängerin engagiert. Aber ihre Kleider dufteten nach Naphthalin. –
Im 13. Jahrhundert war Glogau ein Fürstentum, später bis 1506 ein Herzogtum, bis es unter Friedrich dem Großen 1741 zu Preußen kam. Seit 1945 steht die Stadt unter polnischer Verwaltung.
Friedrich der Große war sogar persönlich mit dieser Stadt sehr verbunden gewesen. Oft hatten die Mauern der alten Kasernen den König beherbergt. Oft war er Zuschauer im Stadttheater, was zur Folge hatte, dass dieses ehrwürdige Gebäude unter Denkmalschutz geriet und nicht mehr umgebaut werden durfte, so baufällig es mit der Zeit auch geworden war.
Wenn man vor dem Theater stand, also dort, wo man möglicherweise den Eingang vermutete - der sich aber in Wirklichkeit an einer ganz anderen Seite befand - und als Ortsunkundiger den Musentempel noch nicht kannte, dann konnte man im ersten Augenblick dieses Kunstinstitut für eine Art Markthalle oder so etwas ähnliches halten. Ich habe oft Leute mit Rucksäcken und Einkaufstaschen in die eine blechbeschlagene Tür hineingehen und unmittelbar darauf aus der dicht danebenliegenden, ebenso verrosteten Tür kopfschüttelnd wieder herauskommen gesehen. Daran erkannte man die durchreisenden Fremden.
>Das Stadttheater mit der alten Freitreppe,
wie es sich zur Zeit dieser Erzählung präsentierte<
Sie mochten, indem sie sich noch einmal ungläubig umdrehten, diese alte verwitterte Fassade gemustert und sich gewundert haben, was jene kleine antike Büste wohl bedeuten sollte, die - stolz in den Himmel schauend - das in Lust und Wehe sturmgeprüfte, von der Jahrhunderte Auf und Nieder wellig gewordene Dach des Hauses krönte.
Aber ich glaube, einem großen Teil der Einwohnerschaft wird es ebenfalls unbekannt geblieben sein, dass es sich bei dieser irgendwie ein bisschen verunglückten, unorganisch winzigen, nestumhegten Skulptur - an der nicht nur Wind und Wetter besagter Jahrhunderte, sondern auch zahllose Generationen wilder Tauben sich als korrigierende Künstler versucht haben - um eine steinverewigte Darstellung Gryphius' des Älteren gehandelt hat, der unter Eingeweihten als der musische Schutzpatron des Stadttheaters galt.
Der schlesische Dichter Andreas Gryphius — der eigentlich Greif hieß — wurde in Glogau geboren und lebte von 1616 bis 1664. Er studierte alte und neue Weltsprachen. 1638 machte er eine Reise nach Holland und gab dort zwei Bände Sonette heraus. 1644 war er in Italien und Frankreich. Nach einjährigem Aufenthalt in Straßburg kehrte er nach Schlesien zurück. 1650 war er Syndikus bei den Ständen des Fürstentums Glogau. Er schrieb eine Anzahl Dramen und Lustspiele. Mit seinen Lustspielen „Peter Squenz" und „Horribilicribifax" überragte er alle Leistungen des ganzen Jahrhunderts in dieser Gattung.
Es war Ehrensache, in jeder Spielzeit ein Stück von Gryphius aufzuführen. Ich spielte in meinem Glogauer Engagement sein köstliches Lustspiel „Die geliebte Dornrose". Dieses 1660 geschriebene Werk übt auch heute noch auf die Zuschauer einen unwiderstehlichen lach-muskelbefreienden Reiz aus.
Auf seiner Büste haben die großen klaren Augen Friedrichs des Großen ebenso geruht wie auf den niedrigen anheimelnden Küchenfenstern des kleinen schiefen Häuschens, das sich eng und lieb - wie es ein Kind mit seiner Mutter tut - gegen eine der vielen seitlichen Hinterfronten des Theaters lehnte, von dem es nur durch ein knapp anderthalb Meter breites Gässchen getrennt war.
Das war das Häuschen unserer guten Mutter Seebald, und ihre Küche war unsere zweite Heimat. Mutter Seebald soll die einzige sein, deren richtigen Namen ich hier im Gegensatz zu den übrigen Personen voll ausschreiben möchte.
Dort saßen wir vormittags, nachmittags und nachts, immer wenn wir im Theater gerade nichts zu tun hatten. Dort saßen wir morgens in den Pausen während der Proben; mittags zum Essen und nach dem Essen; abends in den Zwischenakten der Vorstellungen; in Zivil oder im Kostüm; geschminkt oder ungeschminkt; oder auch nur in der Badehose am heißen Küchenofen, wenn Mutter Seebald unsere vom Schnee oder Regen durchnässten Kleider trocknen und unsere Unterwäsche und Strümpfe waschen und flicken musste. Wir waren alle zusammen eine Familie.
Mutter Seebald war unermüdlich zu jeder Stunde für uns da. Sie hatte Verständnis für unsere ewigen Geldnöte. Sie war Ratgeberin in Kostümfragen, Helferin und Vermittlerin in Liebesangelegenheiten, wirkliche Trösterin bei Seelenkummer und sorgte bei alledem noch in grandios verantwortungsbewusster Weise für unseres Leibes Atzung. Sie war die personifizierte Erfüllung einer heroischen klagelosen Lebensaufgabe. Sie war die Mutter des Theaters. Sie betrachtete alle Mitglieder als ihre hilfebedürftigen Kinder. Und alle waren ihr gleich lieb. Uns allein galt vertrauensvoll ihr ganzes Denken und Tun.
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Bei ihr hatte vor uns schon Emil Jannings, als er dort engagiert war, sein
Bier getrunken und ihr sein Herz ausgeschüttet über seinen Ärger, den er oft als Anfänger im künstlerischen Kampf mit sich selber auszufechten gehabt hatte. Jannings litt zu Beginn seiner Laufbahn unter einem eigenartigen Atemfehler. Beim Sprechen strömte ihm immer ein Teil unausgenutzter Luft zischend und pfeifend aus der Nase, was nicht nur das Publikum oft störte, sondern vor allen Dingen den strebsamen Künstler selber. Durch viel Fleiß und Übung konnte er im Laufe der Zeit diesen Fehler beseitigen. |
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