Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 12, Dezember 2013

Weihnachten in Drogelwitz

von Prinzessin Reuß zur Lippe

 

Weihnachten in Drogelwitz! Was tauchen bei dem Gedanken nicht alles für Erinnerungen auf, die so weit zurückliegen und nun auf einmal vor mir stehen, als sei alles gestern erst gewesen. Unser liebes, altes Schloss inmitten des weitläufigen von Winterschnee und Rauhreif überzuckerten Parks, der glühend rote Sonnenball, der in diesen Wochen hinter dem Ochsenstall herauf stieg, um dann alles zu übergolden. Der blaue Eisvogel und die rotbrüstigen Dompfaffen mit ihren schwarzen Käppchen, die uns auf ihrer Durchreise in den letzten Wochen besucht hatten, die lustigen Eichhörnchen, die die heruntergefallenen Eicheln schmausten, Kaninchen und Hasen, ja selbst Rehe, die sich in diesen Wochen bis ans Haus wagten - wie schön war das alles für uns Kinder!
Die fest zugefrorene Kallewe - der zwölf Morgen große Teich gleich am Hause - auf der wir unsere ersten Schlittschuhlaufversuche unternahmen, wobei ich einmal tüchtig eingebrochen bin! Wie interessant war es für uns zuzusehen, wenn Löcher ins Eis geschlagen wurden, dass die Fische nicht erstickten, und wie sie dann immer gleich nach oben kamen, um Luft zu schnappen. Es gab ja so viele Fische in diesem großen Wasser: Schleien, Barsche, Karauschen und bis zu zwanzig Pfund schwere Hechte. Und schließlich wurde noch ein ganz großes Loch geschlagen und die Eisschollen in den alten Eiskeller geschafft, in dem das ganze Jahr über die Vorräte für unseren großen Haushalt aufbewahrt wurden. Gefriertruhen und Kühlschränke gab es ja in meiner Kinderzeit um die vorige Jahrhundertwende noch nicht, Wir hatten auch noch kein elektrisches Licht, sondern Petroleum- und später Spirituslampen mit den Glühstrümpfchen, die so leicht in sich zusammenfielen. Und der große, schöne, grün-weiße Saal, der dreizehn Meter lang war und zwei Etagen hoch, mit den ovalen Fenstern, den sogenannten „Ochsenaugen" über den hohen, rundbogigen Fenstern war nur mit Kerzen beleuchtet, die ein wundervoll schmeichelndes Licht ergaben. Das Schloss war 1794 im Frühempirestil erbaut, alles stilrein bis zu den Türklinken, die entzückend, aber nicht sehr bequem zu öffnen waren. Man hatte in meiner Jugend sogenannte „Kanalkerzen" erfunden, lange Kerzen mit drei Kanälen darin, in die das schmelzende Stearin hineinfloss, so dass sie die doppelte Brenndauer ergaben, ein ganzes Abendfest überdauerten und niemand auf den Kopf tropften oder gar auf den wunderschönen Parkettfußboden mit den fünferlei verschiedenen Hölzern, die im Sonnenwirbelmuster prangten. Bei meiner Hochzeit hat der Saal zum letzten Male im Kerzenlicht gestrahlt. Als dann das elektrische Licht gelegt wurde, ging viel von dem Zauber verloren, den dieser Raum immer auf alle Besucher ausgeübt hatte. Aber das bringt ja der sogenannte Fortschritt mit sich.
Aber ich soll ja von Weihnachten erzählen. Ja, Weihnachten fing bei meiner guten Mutter eigentlich bereits im Januar an. Da begann sie nämlich schon, in Glogau Wolle einzukaufen und für die Kinder der Hofarbeiter Kleidchen, Westen und Schals zu stricken und zu häkeln und warme Höschen für die Jungen. Unermüdlich war sie das ganze Jahr mit ihren Vorbereitungen beschäftigt, um all den vielen Menschen, die zu Haus und Hof gehörten, eine Freude bereiten zu können. Sie blieben damals ja alle siebzehn, achtzehn und noch mehr Jahre bei uns, und so nahmen wir alle in Freud und Leid Anteil aneinander und fühlten uns zusammengehörig.
Vom ersten Adventssonntag an kamen wir drei Kinder beim Dunkelwerden zu meiner Mutter zum Weihnachtsliedersingen. Wie viel Lieder haben wir da gesungen, die sie auf dem Flügel begleitete, und welche Vorfreude brachte das mit sich. Ein paar Tage vor dem Fest ging mein Vater fleißig auf die Jagd, um die Weihnachtshasen zu erlegen, denn da mussten ja nicht nur wir, sondern auch der Schullehrer im Dorf, der Pastor in Weißholz, der Inspektor, der Vogt, der Putschlauer Brennereidirektor, der Zuckerfabriksdirektor in Zarkau sowie der Schriftleiter und der Verlagsleiter der „Neuen Niederschlesischen Zeitung" in Glogau ihre Festbraten haben und dazu eine gute Flasche Wein. Das fuhr er dann immer selbst im zweispännigen Jagdwagen hin, und wir Kinder durften mitfahren. Lag bereits genügend Schnee, so gings im blauen Schlitten los, was ein ganz besonderes Vergnügen für uns war. Wir waren warm unter einer großen Pelzdecke oder in hohe Fußsäcke verpackt und sausten mit fröhlichem Glockengeläut über den weißen, weichen Schnee. Oh, diese trockene, klare, windstille Kälte dort im Osten. Man spürte sie kaum. Dann kamen wir aber doch mit rotgefrorenen Wangen heim und mussten uns auf Vaters Geheiß das Gesicht mit heißem Wasser waschen, damit die Kälte uns hernach nicht allzu glutheiß werden ließ. Das war ein probates Mittel, das immer half.
Am Abend vor Weihnachten war die Bescherung für die Hofangestellten, die mit ihren sämtlichen Kindern aller Altersstufen zu uns in die große Halle kamen, in der der mächtige eiserne Ofen eine gemütliche Wärme verbreitete. Den ganzen Morgen über hatte meine Mutter den Weihnachtsbaum geschmückt und für jede Familie gesondert ihre Gaben aufgebaut; all' die warmen Sachen, die sie das Jahr über angefertigt hatte und unendlich viel Spielzeug für die Kinder. Das Jahrbuch der „Neuen Niederschlesischen Zeitung" durfte nie fehlen und für jede Familie ein großer Stollen. Auch die alten und einsamen Leute wurden nicht vergessen, die Mutter Furchner und die alte „Stock-Agnes", die in Haus und Küche mithalfen, und „Jule", die alte Botenfrau, die im Garten arbeitete und die Nachmittagspost in Weißholz abholte. Nicht zu vergessen die Kutscher Mundt und Kiersch, die die Kutschpferde betreuten, und bei denen wir Kinder uns mit Vorliebe im Stall aufhielten, weil uns das eine geradezu paradiesische Welt dünkte. (Ich weiß noch, wie ich einmal in die Haferkiste gefallen bin und völlig von dem mit Melasse gemischten Hafer beklebt wieder heraus kam.)
Das kleine Harmonium wurde zu Weihnachten in die Halle gestellt. Meine Mutter spielte und wir alle sangen zu Beginn der Bescherung „Stille Nacht, heilige
Nacht" und, nachdem mein Vater das Weihnachtsevangelium gelesen hatte. „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit". Für uns drei Kinder war das aber erst die erregende Vorfreude. Dann kam der Weihnachtstag. Wir hatten vor Aufregung kaum geschlafen. Das „Weihnachtszimmer", eine große Gästestube neben der Halle, war der Raum, der für die „heiligen Nächte" bis Neujahr alle Kinderseligkeit in sich schließen sollte. Er war schon an sich von Geheimnissen umwittert, waren doch in der einen Fensterscheibe die Namen von zwei französischen Offizieren: Alfred de Musset (war es der Dichter?) und Charles Demoulin sowie die Jahreszahl 1813 eingeritzt. Waren jene beiden auf dem Rückzug aus Russland hierher gekommen? Es erhielt sich auch im Dorf die Sage, dass im Teich die französische Kriegskasse aus jener Zeit läge, hatte man doch auch einmal ein altes französisches Infanteriegewehr herausgefischt. Aber unser Teich war so tief und moddrig, dass er keine Schätze hergab.
Für uns war und blieb das Zimmer das „Weihnachtszimmer", mochte es auch das Jahr über noch so viel Gäste beherbergt haben. Natürlich durften wir am Weihnachtstag nicht hinein, und das Schlüsselloch wurde mit Watte verstopft, damit wir nicht durchgucken konnten.
Und dann war's endlich soweit! Zunächst eine kleine Feier wie am Vorabend. Dann wurden in der großen Stube neben dem Saal die Hausangestellten und der Jäger beschert. Jeder erhielt das, was er sich hatte wünschen dürfen und noch vieles dazu, und eine Flasche Punsch für jeden durfte auch nicht fehlen. War dann unsere Aufregung auf dem Höhepunkt angelangt, so klingelte ein Glöckchen im „Weihnachtszimmer", und es hieß, jetzt sei eben das Christkind zum Fenster hinausgeflogen. Vater öffnete von drinnen die Flügeltüren, und ein riesiger Tannenbaum, der bis zur Decke reichte und fast die ganze Wand einnahm, strahlte uns entgegen; er war mit roten Kerzen und roten Glaskugeln geschmückt und ganz zart von Lamettafäden übersponnen. Oh, wie war das herrlich und feierlich-festlich. Jedes hatte seinen Weihnachtstisch mit für uns unvorstellbaren schönen Dingen, denn damals war man noch nicht so lächerlich um Spielsachen verwöhnt wie die heutigen Kinder, die oft schon zwischenzeitlich derart viel geschenkt bekommen, dass sie sich zum Fest gar nicht mehr richtig freuen können. Ich werde nie unsere Wonne vergessen, als wir drei zusammen ein großes, bemaltes Indianerzelt bekamen und dazu jedes Federschmuck, Tomahawk und Lasso, wie wir es aus den geliebten Karl-May-Büchern kannten, die auch nie fehlen durften, und die wir immer möglichst wörtlich in Szene setzten. Ich konnte Puppen nun mal nicht leiden, weil sie nicht lebendig waren und wollte es den beiden Jungen immer in allem gleich tun.
Abends gab es dann ein kaltes Abendbrot mit Delikatessen und Leckereien, die sonst das ganze Jahr nicht auf dem Tisch zu sehen waren. Mein lieber Vater war in diesen Dingen äußerst streng und bescheiden, denn luxuriös zu leben „gehörte sich nicht für anständige Leute", wie er zu sagen pflegte. Wir Kinder durften auch für gewöhnlich nicht Butter unter die Marmelade aufs Brot streichen, weil das „Verschwendung" war. Aber zum Weihnachtsabend brachte er eine große Dose echten Kaviar aus Glogau heim und Spickgans und Lachsschinken.
So war's in seinem Elternhaus mit den vierzehn Kindern gewesen, und so hielt er es, bis es sich in den Notzeiten während und nach dem ersten Weltkrieg von selbst verbat. Ein warmes Gericht durfte nicht aufgetragen werden, damit unsere gute Frau Gruske, unsere Köchin, die mit ihrer Familie im Dorf wohnte, nicht in der eigenen Festfreude behindert wurde.
Am Weihnachtsmorgen ging es dann mit Schlittengeläut nach Weißholz zur Kirche, wo neben dem Altar zwei brennende Weihnachtsbäume standen und der Kantor Habelt mit seinen Schulkindern und dem Kirchenchor festliche Musik machte. Die Kirche war damals noch nicht zu heizen. Es gab nicht einmal einen Ofen darin, und wir nahmen immer unsere großen Fußsäcke mit hinein. Beim Singen stand der Atem weiß vor dem Mund, und der Schnurrbart meines Vaters bekam allmählich Eiszapfen, was wir natürlich herrlich fanden. Das gehörte alles dazu und störte niemand, aber uns Kindern kam der damalige Pastor Fiedler wie ein halber Heiliger vor, dass er in seinem dünnen Talar so lange aushielt, denn wir konnten uns natürlich nicht vorstellen, dass er seinen warmen Wintermantel darunter haben könnte.
Manchmal war die Oder in dieser Zeit so fest zugefroren, dass wir vom Nachbardorf Golgowitz aus mit dem Schlitten hinüber in den Schwusener Wald fahren konnten. Das war herrlich, und ein Schauer ging uns über den Rücken, wenn das Eis so dumpf dröhnte, als regten sich die Geister der Tiefe. Aber unser Vater fuhr ja selbst, und so konnte uns ja gar nichts Schlimmes geschehen.
Wie schnell verflogen die Feiertage, wie schnell kam der Altjahrsabend! Da wurde der Weihnachtsbaum zum letzten Male angezündet und die Erwachsenen saßen bei dampfendem Punsch und Pfannkuchen beisammen. Wie stolz waren wir, als wir zum ersten Male „aufbleiben" und die Mitternachtsstunde mit erleben durften. Mein Vater saß mit der Uhr in der Hand und sagte: „Jetzt ist's soweit!" Alle erhoben sich und stießen auf das neue Jahr an, und mir war so feierlich zumute, als würde nun etwas ganz, ganz Besonderes und Einmaliges geschehen, das vorher noch nie dagewesen wäre. Ganz still war ich und schaute in die verlöschenden Kerzen, so dass einer fragte: „Bist du müde?" Aber ich war doch nur so ergriffen und konnte darüber zu niemand reden, um nicht ausgelacht zu werden.
Nun habe ich so daher erzählt, wie's bei uns daheim war, und so viele liebe, längst vergessene Erinnerungen sind dabei wieder aufgewacht. Man begreift wohl immer erst sehr viel später, wie herrlich alles war und wie dankbar man sein muss, solche Erinnerungen überhaupt haben zu dürfen.

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