Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 6, Juni 2010

Drei Schwestern reisen nach 65 Jahren erstmalig zurück in ihre Vergangenheit

 

von Dagmar Fritsche mit einem Vorwort von Gottfried Schröter

 

Im letzten Jahr bekam ich einen unerwarteten Brief. Drei Damen schrieben mir und stellten sich als „ Mädchen " vor, die früher in Schlesien, genauer : im Kreis Glogau, noch genauer: in Rädchen am Schlesiersee die Nachbarn von uns Schröters, d. h. von meinen Eltern und mir, gewesen waren.
Sie wohnten der einklassigen Dorfschule gegenüber als Töchter des damaligen Reichsarbeitsdienst-Feldmeisters Michael und seiner Frau.
Ich selber erlebte nur die beiden älteren von ihnen als kleine Mädchen bis in das Jahr 1943 hinein, in dem ich (nach meinem Abitur in Fraustadt) mein Elternhaus verlassen musste, um Arbeitsdienstler und dann Soldat zu werden. Die jüngste Tochter wurde erst nach meiner Einberufung geboren.
Nach der englischen Gefangenschaft kam ich natürlich zunächst einmal nicht mehr in meine Heimat zurück Erst 1985 sah ich sie besuchsweise wieder.
Ein Brief der drei Damen erreichte mich unerwartet. Und nach einem kurzen Briefwechsel ermunterte ich meine Nachbarinnen von einst, doch einmal einen Bericht über ihr erstes Wiedersehen mit der alten Heimat für den Neuen Glogauer Anzeiger zu verfassen. Ich könnte mir denken, dass er unsere Leser interessieren wird, was die drei Damen Helga Rümler (72), Dagmar Fritzsche (68) und Siegrid Knopf (66), alle geborene Michael, zu berichten haben:
Sie waren im Mai 2009 mit einer Gruppe anderer Schlesier zunächst durch manche Orte Schlesiens gefahren. Dabei galten sie nur als „die drei Schwestern aus Rädchen". Steigen wir in Gedanken ihrer Reisegesellschaft zu:

„Weiter führte uns die Reise nach Glogau. Auf einer Stadtführung sahen wir uns zusammen mit einem Dolmetscher den Dom an, der gerade restauriert werden sollte, und bestiegen den Rathausturm. Von dort oben hatte man einen schönen Blick über die Stadt, bei dem ein Rundbild des alten Glogau eine gute Orientierung bot. Das ehemalige Schloss wird heute als Museum genutzt. Doch von dem alten Theater war nur noch eine Ruine zu erkennen. Das im Krieg zur Festung erklärte Glogau wird jedoch nun nach alten Vorlagen wieder neu aufgebaut.
Schließlich ging es weiter in die jeweiligen Heimatorte der Reisenden. Viele waren auf dem Ausflug schon mehrmals dabei und haben Freundschaften mit den polnischen Bewohnern geschlossen.
Bei der Fahrt durch die Kontopper Heide überkam uns drei Schwestern ein vertrautes Gefühl und bald waren wir schon in unserem Heimatort Rädchen. Alles, was wir auf den ersten Blick sahen, war uns fremd, so dass wir versuchten uns an Hand der gemalten Ortskarte an der Straßenseite zu orientieren.
Auf dem Weg Richtung Hammer kamen meiner älteren Schwester Helga beim Anblick der Umgebung wieder einzelne Erinnerungen ins Gedächtnis. Wo jetzt eine Leitplanke stand, war früher ein einfaches Eisengeländer hinter dem unser Sommerweg zum See abging. Und als wir die sehr verwahrloste ehemalige Schule sahen, wussten wir, dass sich unser damaliges Zuhause genau gegenüber befinden musste. An Stelle des weißen Klinkerhauses, in dem unsere Familie früher die obere Etage bewohnte, standen wir nun vor einem grau abgeputzten Haus, das uns ein bisschen kleiner als damals erschien. Doch als Kinder hatten wir den ganzen Ort verständlicherweise auch aus einer wesentlich niedrigeren Perspektive in Erinnerung. Neben unserem ehemaligen Wohnhaus hatte man nun neu gebaut und wo damals eine befreundete Familie lebte, waren jetzt aus Ostpolen vertriebene einquartiert, denen es genauso erging wie uns.
Beim Weitergehen, konnte man schon den See durch die Bäume schimmern sehen. Als wir dort gemeinsam am Ufer standen kamen uns viele Kindheitserinnerungen wieder in den Sinn. Hier sah alles noch so aus wie früher, nur das Sprungbrett fehlte. Die Böschung hinauf war das alte Kornfeld einem Haus mit riesigem Garten und Golfplatz gewichen.
Zur Erinnerung nahmen wir uns jeder eine Muschel mit und machten uns schließlich wieder auf den Rückweg. Beim letzten Blick auf unser ehemaliges Zuhause öffnete sich plötzlich ein Fenster und eine Polin schaute hinaus. Als wir ihr sagten, dass wir einmal in dem Haus gewohnt haben, bat sie uns gleich freundlich in den Hof. Dort unterhielten wir uns angeregt, aber kurz und schauten alte Bilder an. Leider hatten wir aber nur noch zehn Minuten Zeit bevor uns der Bus wieder abholte.
Bei der Reise nach Hause ließen wir unsere schönen Erlebnisse noch einmal Revue passieren und wussten zugleich, dass noch viele Fragen offen geblieben waren.
Eine Mitreisende gab mir jedoch einige Artikel über Rädchen, die von einem Herrn Prof. Dr. Schröter verfasst waren. Das weckte unser Interesse einmal mehr, da unser Lehrer früher ebenfalls Schröter hieß, unser Nachbar war und wir nun eine Schrift seines Sohnes in den Händen hielten.
Über den Verlag des „Glogauer Anzeigers" habe ich mir daraufhin seine Adresse geben lassen und korrespondiere nun mit ihm.
Er hat meinen beiden Schwestern und mir viele offene Fragen beantwortet und viele, schon fast vergessen geglaubte, Erinnerungen geweckt. Herr Prof. Dr. Schröter hat ein bewundernswertes Erinnerungsvermögen, für das wir „Michael-Mädchen" ihm sehr dankbar sind.
So konnten wir mit dieser eindrucksvollen Reise in die Vergangenheit unsere Kindheit wieder aufleben lassen und freuen uns schon auf ein nächstes Mal.

Schulklasse 1943

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Vorletzte Einschulung eines neuen Jahrgangs im Jahr 1943 vor der einklassigen Dorfschule in Rädchen, Kreis Glogau. Der Lehrer Friedrich Schröter (57) freut sich mit den zukunftsfrohen „Schultütenhaltern" über diesen festlichen Tag. Dass alle - Lehrer und Schüler und deren Eltern - nur zwei Jahre danach (1945) in alle Welt zerstreut werden würden, ahnte damals noch niemand.
Die damalige Erstklässlerin Helga Michael, die den kürzesten Schulweg hatte, denn sie wohnte gegenüber der Schule, befindet sich in der letzten Reihe als erste von links neben dem Lehrer.

Bild2

Das sind die drei „Michael-Mädchen aus Rädchen“. Dagmar, Sigrid und Helga (von links), die nach 65 Jahren erstmals gemeinsam ihre frühere Heimat Rädchen am Schlesiersee wiedersahen.

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