Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2010

Die Glogauer Wehrstammbücher verbrannten im Meilerhof

 

 

von Manfred Turbing

 

Als am 21. Januar 1945 die Stadt Glogau zur Festung erklärt wurde, erteilte der damalige Standortälteste Oberst Schön an das ihm unterstehende Wehrbezirkskommando(WBK) sowie dem Wehrmeldeamt(WMA) die Weisung, beide Dienststellen mit ihren Unterlagen für eine Auslagerung vorzubereiten. Die Mitarbeiter beider Dienststellen, zu denen auch mein zum Wehrmeldeamt eingezogener Vater gehörte, waren nun in den folgenden Tagen und Nächten mit der Verpackung der Unterlagen in eigens gefertigte große verschließbare Holzkisten und den Transportvorbereitungen beschäftigt. Nachdem die sowjetischen Truppen am 24. Januar bei Steinau die Oder erreichten und einen Brückenkopf bilden konnten, wodurch sich die Gefahr einer südlichen Umklammerung der Festung Glogau andeutete, erging am 25. Januar der Marschbefehl für den 1. Auslagerungstransport, zu dessen Begleitung auch meine bei der Glogauer Heeresstandortverwaltung dienstverpflichtete Mutter sowie ich als sog. HJ-Transporthelfer gehörten.
Für den Transport war ein großer Möbelwagen einer Glogauer Speditionsfirma beschlagnahmt worden. Am Vormittag des 25. Januar erfolgte seine Beladung mit den Unterlagen und dem notwendigsten Mobiliar. Nachmittags rollte dann der Transport über die Brostauer Straße in Richtung Südwesten aus der Stadt, wobei am Stadtrand die als "Kettenhunde" bekannte Feldgendarmerie noch eine Kontrolle vornahm. Da auf der Höhe von Brostau ein Motorschaden behoben werden musste, konnten wir nochmals einen Blick auf unsere in der weißen Winterlandschaft liegende und in das Sonnenlicht getauchte Heimatstadt werfen, damals nicht ahnend, dass wir sie als Trümmerfeld wiedersehen sollten. Nach der Behebung des Schadens ging die Fahrt bei starkem Frost in Richtung Primkenau weiter. Gegen Mitternacht wurde eine Pause eingelegt, und wir konnten unsere durchfrorenen Körper in einem mit Militär belegten und gut beheizten Gasthaus bei heißem Tee aufwärmen. Die nächtliche Weiterfahrt kam wegen der durch Militär und Flüchtlingstrecks verstopften Straßen nur schleppend voran. Am späten Nachmittag des Folgetages erreichte unser Transport schließlich die an der Lausitzer Neiße gelegene kleine Stadt Rothenburg/OL, deren HJ-Heim am Stadtrand als Ausweichstandort für beide Dienststellen bestimmt worden war: Unterlagen und Mobiliar wurden in die Räume des Erdgeschosses ausgeladen und die oberen Räume als Schlafstätten eingerichtet. Noch vor Schließung des Glogauer Festungsringes traf Anfang Februar der 2. Auslagerungstransport in Rothenburg ein, zu dem auch mein Vater gehörte. Zugleich machte sich befehlsgemäß ein Teil der Begleiter des 1. Transportes auf den Rückweg nach Glogau. In den Folgetagen wurde die aus Glogau mitgebrachte Dienstpost entsprechend den verbliebenen Möglichkeiten und Verbindungen bearbeitet.
Der Rothenburger Interimsstandort musste bald wieder aufgegeben werden. Das rasche Vordringen der sowjetischen Truppen löste den Befehl zur erneuten Verlegung der Dienststellen in Richtung Westen aus. Für den Transport standen ein kleiner Personenwagen und zwei offene Güterwaggons der Reichsbahn zur Verfügung. Über letztere wurden mit Bohlen und Brettern aus einem nahen Sägewerk Notdächer zum Schutz der Unterlagen gezimmert, darüber kamen Segeltuchplanen gegen Nässeeinwirkung. Da abzusehen war, dass nicht alle im Personenwagen Platz haben würden, (Frauen einiger Offiziere und Angestellte waren unterdessen nach Rothenburg gekommen) ließen wir bei der Beladung der Güterwaggons zwischen den Kisten und Schränken Nischen für Strohsack-Schlafplätze. So bestand z.B. die Besatzung des WMA-Güterwaggons aus dem Stabsfeldwebel Wiest, den Zivilangestellten R. Bartsch, K. Linke, J. Turbing und mir. Wir hatten auch einen kleinen Kanonenofen "organisiert" und konnten so mit dem verbliebenen Dachholzverschnitt und beim Lokomotivführer erbettelten Kohlen im Waggon für ausreichende Raumtemperatur sorgen.
Eine Lokomotive zog uns zunächst bis zum Bahnhof Görlitz, wo wir nach langem Warten an einen Güterzug angehängt wurden. Bereits in Bautzen gab es dann den ersten Aufenthalt. Wir landeten auf dem Abstellgleis, da die Lokomotive unseres Zuges für einen Militärtransport in Richtung Osten benötigt wurde. Dies geschah dann auf der Weiterfahrt noch mehrmals, denn Militär- und Munitionstransporte in Richtung Front sowie Lazarettzüge hatten natürlich Vorrang. Da bei dem Terrorangriff auf Dresden am 13./14. Februar das dortige Schienennetz zerstört worden war, ging es daher ab Bautzen mit Unterbrechungen in einer großen nördlichen Umfahrung über Hoyerswerda – Elsterwerda - Riesa - Nossen bis Freiberg/Sachs., wo wir wieder auf die eigentliche Hauptstrecke Dresden-Nürnberg trafen. Hier wurde offenbar, dass wir durch den raschen Vormarsch der amerikanischen Truppen unser vorgesehenes Marschziel Bamberg wohl nicht mehr erreichen würden. Vom Abstellgleis in Freiberg zog uns schließlich eine Lokomotive zum ca. 6 km östlich liegenden Bahnhof von Niederbobritzsch. In dem am Fuß des Erzgebirges sich mehrere Kilometer im Bobritzschtal hinziehenden großen Bauerndorf war der sog. Meilerhof als neuer Ausweichstandort beider Dienststellen festgelegt worden. Vom Bahnhof wurden nun die Unterlagen mit Pferdefuhrwerken in diesen Bauernhof gebracht. Die Personalunterbringung war zunächst nur
in Massenquartieren möglich. So diente der Saal des Gasthofes Friedrich als Schlafsaal der Männer, und für die Frauen war der kleine Saal des Gasthofes "Zum Viertel" als Schlafstätte hergerichtet wurden. Nach und nach erfolgte dann die Einweisung in Einzelquartiere in den Bauerngehöften sowie auch in Privathäusern.
In diesem Zeitraum schrumpfte der Personalbestand der Dienststellen erheblich, denn die aktiven Dienstgrade und insbesondere die Offiziere wurden zum Fronteinsatz bzw. zur Aufstellung von Ersatzeinheiten abkommandiert, bzw. versetzt.
Hier in Niederbobritzsch erfuhren wir aus dem Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht vom 3. April 1945 vom Ende des Festungskampfes um Glogau am Ostersonntag 1945. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde in diesen Apriltagen das tägliche Näherkommen der amerikanischen Truppen im Westen sowie der sowjetischen Armee vom Osten her verfolgt. Als die Distanz zu unserem Standort bedrohlich wurde, kam der Befehl zur Vernichtung aller Unterlagen. Hinter der Scheune des Meilerhofes entfachte man dazu ein Holzfeuer, in das die Wehrstammbücher bzw. Wehrstammrollen, Karteien, Unterlagen über
Gefallene und Vermisste und sonstige Akten der Glogauer Garnison geworfen wurden. Hierbei ging auch so manches persönliche Dokument verloren. Ich entsinne mich, dass mir Vater in einer Stammakte, die ihm bei dieser Aktion zufällig in die Hände kam, das eingeheftete Kapellmeisterzeugnis eines ihm bekannten Glogauer Regimentsmusikmeisters zeigte. Wenn das Feuer zu versacken drohte, wurde mit Heugabeln im Papierberg gestochert bis die Flammen wieder hochzüngelten. Der Wind trug die Asche auf den nahen Acker.
Der Vernichtung der Unterlagen folgte der Befehl zur Auflösung beider Dienststellen. Von den bei diesem letzten Amtsakt Entpflichteten des Wehrmeldeamtes verblieben im Ort: Hauptmann d.R. A. Kolbe (Lehrer an der Glogauer Mittelschule für Mädchen) und die Zivilangestellten R. Bartsch, K. Linke (Fa. Theodor Linkes Sohn) und J. Turbing (Kolpinghaus). Von den im Ort verbliebenen Angestellten des Wehrbezirkskommandos sind mir nur noch die Namen Gutsche, Herrmann, Illmer und Liehr in Erinnerung.
Mit der Entpflichtung war die Order verbunden, sich binnen 2 Tagen dem Wehrmeldeamt Freiberg/Sachs. zur Verfügung zu stellen. Dazu begleitete ich meinen Vater nach Freiberg, wobei wir den ca. 6 km Fußmarsch wählten, da der eingeschränkte Zugverkehr bereits mehrfach amerikanischen Tieffliegerangriffen ausgesetzt war. Im Wehrmeldeamt Freiberg wurde erkennbar, dass man angesichts der bedrohlichen Frontlage auch hier mit den Vorbereitungen zur Vernichtung der Unterlagen und der Auflösung der Dienststelle befasst war. In Vaters Wehrpass wurde noch seine Anmeldung unter dem Hinweis auf eine Anforderung in den nächsten Tagen eingetragen, doch diese blieb aus.
Mit der Besetzung des Dorfes durch die sowjetischen Truppen in den ersten Maitagen 1945 verband sich die bange Frage, ob die verbliebenen ehem. Wehrmachtsangestellten in Kriegsgefangenschaft kommen würden. Es zeigt sich bald, dass die Dienststellen im Meilerhof in den vergangenen Wochen durch die sich Tag und Nacht über das Dorf in Richtung Erzgebirgskamm und Böhmen zurückziehenden Wehrmachtseinheiten und Flüchtlingstrecks nicht weiter wahrgenommen worden waren. Die stets Zivil tragenden Angestellten wurden daher von den Einheimischen als zu der großen Zahl der im Dorf einquartierten Flüchtlinge gehörend angesehen. Hauptmann d.R. Kolbe, den man bis zur Auflösung des Wehrmeldeamtes in seinem Wohnumfeld ja in Uniform gesehen hatte, kam um eine Befragung durch den eingesetzten kommissarischen Bürgermeister nicht herum. Mit seiner Aussage gab man sich wohl zufrieden. Jedenfalls scheint es keine negative Weitermeldung an die Sowj. Stadt- und Kreiskommandantur in Freiberg gegeben zu haben, denn wie die ehemaligen Zivilangestellten blieb auch A. Kolbe danach unbehelligt.
Soweit mein Erlebnisbericht über das Ende des Glogauer Wehrbezirkskommandos und seines Wehrmeldeamtes im April 1945 auf sächsischem Boden.


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