Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 3, März 2010

Manöver für den Wahnsinn

 

 

von Hans-Joachim Breske

 

Die letzten Tage des Jahres 2009 waren, wie so oft, verregnet und sogar verschneit. Die Zeit wollte ich nutzen, um in der „Chronik der Schule Kladau" etwas zu lesen. Die „Chronik" war mir auf Umwegen in die Hände geraten und lag zum Lesen bereit vor mir. Beim Öffnen erschienen ganz zufällig die Seiten, auf denen eine fast ganze „Nordschlesische Tageszeitung" mit dem Datum 2.09.1937 eingeklebt war. Ein dick gedruckter Titel und viele Fotos machten sofort auf sich aufmerksam. Der Titel lautete: „Sturm auf die Höhen von Kladau", mit dem Untertitel: „Blau stößt vor und schlägt Rot über Kladau nach Herrndorf zurück." Dies weckte mein Interesse. Ich kann mir vorstellen, dass das Erscheinen der Wehrmacht in Kladau bestimmt aufregend für die Dorfbewohner war, aber für die übenden Truppen war es eher eine schweißtreibende Angelegenheit.
In der erwähnten Tageszeitung, konnte ich nachlesen:

„Wir haben gestern bereits ausführlich berichtet, wie am Tage der ersten Übung der 18. Division unter Generalleutnant Hoth die roten Truppen ziemlich ungehindert über die Oder vorgehen konnten und in einer Front etwa Fröbel-Herrndorf-Gleinitz-Würchwitz gegen Blau, das aus den Dalkauer Bergen zum Angriff vorstieß, angetreten war. In den Mittagsstunden, als man allgemein schon mit einem Sieg der roten Partei zu rechnen begann, nutzte Blau das für einen Angriff in der Gegend von Kladau außerordentlich günstige Gelände geschickt aus, griff überraschend an und durchstieß die rote Linie. Und so erlebten unsere Jungs diesen Tag:
Die Jungvolkjungen waren von der Wehrmacht zu Gast geladen, um das Manöver anzusehen. Sie bekamen von der Schule frei und marschierten Mittwoch früh um 5.30 Uhr (bisschen zeitig) los. Als wir durch die Vorstadt marschierten, wird sich wohl mancher gewundert haben. Hinter Oberhorst sollte der Übergang stattfinden, und wir marschierten dorthin. Jeder von uns war begeistert und fieberte vor Ungeduld. Endlich erreichten wir die Stelle. Zuerst sahen wir nichts, denn die Oder war mit dichtem Nebel bedeckt. Erst als die Sonne hoch kam, sahen wir Schlauchbote, die rote Truppen übersetzten. Die Roten eroberten Herrndorf und drangen auf Kladau weiter vor. Um 8.30 Uhr schlugen Glogauer Pioniere eine Brücke über die Oder. Die blaue Partei war inzwischen aus Kladau hinausgeworfen worden. Jetzt überschritten rote Truppen die Brücke. Plötzlich tauchte ein rotes Flugzeug auf, das sofort heftig beschossen wurde. Die Pimpfe sahen sich alles sehr gründlich an. Es machte uns Spaß, bei den Soldaten zu sein. Wir waren sehr enttäuscht, als wir dann nach Hause marschierten. Wir trafen noch eine Kompanie, die in einer Sandkuhle lagerte und die wir mit den Resten von unserem Frühstück versorgten. Jeder von uns freute sich schon auf die eigene Soldatenzeit. " H. J. Koch.

Manöver 1

Kein Wunder, dass der damalige Lehrer, Herr Lothar Schenk, dieses Ereignis auch in der Chronik der Schule vermerkt hat:
„Am 1. - 2. September (1937) erlebte unser sonst so einsames Dorf etwas ganz Seltenes, Großartiges. Es war Mittelpunkt der Herbstmanöver der 18. Division und erlebte dabei einen Sturmangriff (?). Von weither, bis von Liegnitz, Görlitz, Neusalz waren Manövergäste erschienen, um sich das herrliche militärische Schauspiel anzusehen.
Die Begeisterung unserer Kinder kannte keine Grenzen. 3 Tage war kein Schulunterricht. Wegen dauerndem Geschützfeuers und Kanonendonners aus nächster Nähe, die Geschütze, Feldartillerie, Minenwerfe, feuerten teilweise aus den Gehöften, war ja auch an einen Unterricht nicht zu denken. Es war dieser Tage für die Kinder auch lebensgefährlich auf der Straße. Alle Arten der Wehrmacht hat unser Dorf, sogar eine Panzerwageneinheit, gesehen. Die Zeitung berichtete in großer Aufmachung über das Ereignis.

Manöver 2

Dass die Schulkinder und Jugendliche, besonders die „Jungmänner", mit Begeisterung alles Militärische belagerten und beobachteten, ist nachvollziehbar.
Da ich 1945 acht Jahre alt war, ging es mir genau so, auch mich interessierten die in meinem Dorf Groß Kauer verstreuten Waffenteile und Reste von Gewehrmunition. Noch lange konnte ich damit unbehindert spielen, es durften nur die Erwachsenen nicht sehen.
Noch während der Lektüre der Zeitung erinnerte ich mich an ein Buch, das ich vor kurzem gelesen hatte. Dieses Buch ist spannend und fesselt den Leser wie der beste Krimi, wäre es nicht eine wirkliche, schreckliche Geschichte; Erlebnisse eines Kindersoldaten. Das Buch heißt: „Mein 16. Lebensjahr", geschrieben von Herr Dr. Hans-Joachim Jäschke. Herr Jäschke war 1945 genau 16 Jahre alt, als er sieben lange Wochen im Schützengraben die Stadt Glogau verteidigen „durfte“. Hierzu siehe auch „Buchbesprechung" (NGA - 1/2010, Seite 5).
Als 1937 das Manöver in der Gegend von Kladau stattfand, war Herr Jäschke genau 8 Jahre alt und wäre bestimmt begeistert und mit ehrwürdigem Staunen um die Ansammlungen militärischer Ausrüstungen, die plötzlich ins Dorf eingerückt waren, herumgeschlichen, hätte er in Kladau gewohnt. Zu der Zeit lebte Herr Jäschke in Vorbrücken bei Glogau. Symbole militärischer Stärke erwecken bei den Betrachtern mühelos Begeisterungen. So erging es vielen späteren Kindersoldaten. Wenn dann noch Heldentaten, z.B. eines Fliegeroffiziers, vor der versammelten Schule erzählt werden, ist die Begeisterung perfekt. Das sollte niemanden wundern. Der Buchautor schreibt dazu:
„Leser der nachfolgenden Generationen werden jetzt die Nase rümpfen und meine damalige Einstellung geißeln. Darauf kann ich nur antworten: „Die nachfolgenden Generationen hätten sich in meinem damaligen Alter und in dem System, in dem wir lebten, von Ausnahmen abgesehen, nicht anders verhalten." Aus heutiger Sicht ist mir selbst meine damalige Einstellung zutiefst unverständlich, aber nur aus heutiger Sicht. "

Nach der Lektüre des Buches ist Herr Jäschke in meinen Augen eindeutig ein Repräsentant vieler junger Menschen, denen damals wie auch jetzt kriegerische Auseinandersetzungen die Jugend rauben.
An dieser Stelle möchte ich noch Herrn Karl Stühler aus Regensburg danken, dass er mir das Buch empfohlen hat. Ich kann es nur weiter empfehlen, besonders als Pflichtlektüre allen Offiziersanwärtern. Herr Stühler war 18 Jahre alt und 1945 in Glogau als Soldat stationiert, wurde aber noch im Februar in Richtung Westen verlegt. Herr Stühler besitzt eine umfangreiche Zusammenstellung aller Ereignisse in der Festung Glogau, sortiert genau nach Tagesdaten. Aus diesem Informationsreichtum konnte schon ein junger polnischer Geschichts-Wissenschaftler, Herr Przemyslaw Lewicki, profitieren, der in seinem 2008 veröffentlichten Buch: „Festung Glogau 1944-45" (leider nur in polnischer Sprache), vieles nutzen konnte.
Damals, also genau vor 65 Jahren, konnte ich die Kämpfe um Glogau aus einer Entfernung von ca. 12 km (Luftlinie), aus dem Dachfenster der Pfarrei in Groß Kauer, beobachten. Besonders in den Nächten sahen wir durch unser Fernglas einzelne Einschläge und Brände, die den Himmel über der Stadt erröteten. Tagsüber flogen Flieger mit roten Sternen an den Tragflächen in beiden Richtungen über uns hinweg. Mich hatte das alles beeindruckt, wenn ich auch vieles nicht richtig verstehen konnte. Ab 1951 bis ’55 konnte ich dann als Gymnasiast in Glogau zwischen den Ruinen zur Schule gehen (siehe: „Als Gymnasiast im zerstörten Glogau" - NGA 3/2006).
Jetzt, zum 65. Jahrestag der Kapitulation der „Festung Glogau" möchte ich die Worte Herrn Jäschkes zitieren: „Es gibt keine abscheulichere Auseinandersetzung zwischen Menschen als der Krieg." Oh, wie wahr!


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