Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 6, Juni 2009

Die Oderbrücken über den Fluss in Glogau

 

von Hans J. Gatzka

 

Die Oder war bereits in den Jahren meiner Kindheit ein Ort, der so manchen Tag bestimmte. Um nichts zu versäumen, spielte bei der Entdeckung des Stroms die Brücke eine bedeutsame Rolle. Von der Mitte des rechten Fußweges in Richtung der Domseite stiegen wir über eine enge Wendeltreppe hinab auf den Treideldamm. Der sogenannte Treideldamm bildete zur Domseite eine Begrenzung zum Strom der Oder und somit einen kleinen Hafen. Allein das Be- und Entladen der Frachtschiffe war immer wieder des Zuschauens wert. Meist begann jedoch auf dem Damm für uns der Weg nach Kamerun. In etwa einer halben Stunde trödelten wir dann dorthin, vorbei an den Himbeersträuchern am Ufersaum.
Kamerun, so hieß die Glogauer Flussbadeanstalt an der Oder. Mit ein paar Strippen war ein Areal im Uferwasser abgeteilt, das auch bewacht wurde, damit kein Unheil entsteht. In der Strommitte vorbeiziehende Dampfer schickten nämlich mitunter erheblichen Wellengang in das ringsum freie Wasser. Ansonsten tummelten wir uns im Ufergelände, dessen uriger Bewuchs hauptsächlich aus Weidenbuschwerk bestand.
Nach Kamerun konnte man auch auf einem anderen Weg gelangen, indem man sich „Übersetzen" ließ. Die Hol - über - Station befand sich auf dem Gelände der Pionier-Badeanstalt, fast gegenüber von Kamerun. Das kostete jedoch 5 Pfennig, und wer hatte schon immer soviel Geld in der Hosentasche.
Zurück zur Oderbrücke, die übrigens den Namen „Hindenburgbrücke" trug. Sie war ein gewaltiger Ingenieurbau aus StahI, der sich freitragend über den Strom spannte. Erbaut wurde das Stahlgebäude von der Grünberger Firma Hirsch und wurde am 3. Juni 1913 dem Verkehr übergeben.
Die erste, über die Stromoder führende Brücke, an gleicher Stelle, wurde bereits unter Friedrich dem Großen, 1742 als Holzklappbrücke angelegt. Die in der Mitte des Fahrwassers befindlichen Pfeiler mit den vorgelagerten Eisbrechern wurden jedoch dem anwachsenden Schiffsverkehr oft zum Verhängnis und machten einen Neubau dringend notwendig. Die neue Oderbrücke trug damals jenes schimmernde Schutzgrau gegen den Rostfraß, der pinkfarbige Anstrich heutiger Zeit wäre wohl damals auch ins Wasser gefallen.
Von der Stadtseite fiel die Brücke in leichtem Gefälle zur tiefer gelegenen Dominsel hinab, und damit am Wasser niemand zu Schaden kam, wachte rechtsseitig vom Dom kommend der Heilige Nepomuk in eherner Bronze am Geländer. Leider gelang es dem verehrten Heiligen aller vom Wasser Bedrängten nicht, das Überlaufen des Oderwassers zu verhindern. Manche Überschwemmung musste somit der Dom-Stadtteil hinnehmen. Die Domkirche zu Glogau, ein in schönster Backsteingotik erbautes Gotteshaus, gab diesem Glogauer Stadtteil übrigens seinen Namen. Auch die Bezeichnung Dominsel war im Gebrauch, denn im Norden umschloss die Alte Oder diesen Bezirk. Um endgültig aus der Domvorstadt ins freie Land zu gelangen, musste man eine weitere Oderbrücke passieren, die „Ostlandbrücke". Sie wurde im Frühjahr 1933 dem Verkehr übergeben.
Beide Brücken, von denen hier die Rede ist, dienten dem Straßen- und Fußgängerverkehr. Es war daher von gleichem Gewicht für die Stadt auf dem Schienenweg das Fahrtziel zu erreichen. Dafür gab es in Glogau die
Eisenbahnbrücke, über die das Streckennetz in Richtung Fraustadt, Lissa usw. angeschlossen war. Über einen separaten Fußweg, der zum Brückenbau gehörte, gelangte man vom Dom kommend auf das Gelände des Schützenplatzes, bzw. in die Nähe des Bahnhofes. Auch an dieser Stelle musste ein Neubau geschaffen werden, weil die dort befindliche bisherige Brücke durch einen Pfeiler im Fahrwasser den Schiffsverkehr lähmte. Es kam dort zu Havarien am Mittelpfeiler, die mit dem Totalschaden der Schiffe endeten.
Bereits im nördlichen Vorgelände von Glogau mussten Tragbauwerke erstellt werden, weil in diesen Feuchtgebieten die Tragfähigkeit nicht gewährleistet war. Die Brücke über die Alte Oder war nun das vierte Bauwerk zur Bewältigung des Wassers rings um die Stadt.
Die zeitweiligen Überschwemmungen der Dominsel, deren schwerste bis dahin 1930 alles unter Wasser setzte, waren für die „Domer", wie die dort wohnenden Glogauer auch genannt wurden, eine schwere Belastung. Nur über hölzerne Laufstege konnte man sich trockenen Fußes durch die Straßen bewegen, bis der Spuk ein Ende hatte.
Es gab auf der Insel jedoch auch recht erfreuliche Ereignisse, nämlich den Jahrmarkt, der alljährlich auf der Domfreiheit stattfand. Besonders für uns Kinder, wenn auch nur mit einer Minimalausstattung an Taschengeld, war es das Ereignis des Jahres. Diese harmlosen Freudentage für uns Kinder aus Glogau, sollten jedoch bald eine schreckliche Zäsur erfahren, als es hieß, vom Dom her kommen Flüchtlinge zu Fuß oder mit Gespann über die Brücke in die Stadt.
Es muss Anfang September 1939 in der Nacht gewesen sein, als das Undenkbare geschah, begleitet von den Gräueln des anbrechenden Krieges. Zufällig war ich in dieser späten Stunde unterwegs in der Stadt, und die Neugier trieb mich an die Schlossseite der Brücke, die unweit unseres Hauses lag. Es war die erste Begegnung mit der Abseite des Lebens, die bisher in meinen Gedanken keinen Platz hatte.
Die letzten Jahre unserer geliebten Oderbrücke, erbaut für einen friedlichen Verkehr, waren nun angebrochen. Nur sehr selten habe ich sie noch sehen dürfen, denn ich war nicht mehr in der Stadt. Viel weiter in den Osten hatte es mich verschlagen.
Am Ende dieser Schreckenszeit gab man der Brücke das vernichtende Dynamit. Als ein Gewirr von Stahl und Eisen stürzte das Bauwerk in das Wasser der Oder und machte den Fluss und den Zugang in die Stadt unpassierbar.
Mein Schulfreund Karl Zanke berichtete mir von seinen Nachkriegserlebnissen am Glogauer Wasser. Er war als Schlosser dazu verdingt, die unter Wasser liegenden Brückenteile mit einem Unterwasser-Schweißgerät zu zerlegen, damit sie als Kleinteile geborgen werden konnten. Gefährliche Knochenarbeit, die er da leisten musste, nachdem er das Glogauer Inferno lebendig überstanden hatte. Diese Bedrängnis machte ihn zu allem fähig, und er ergriff bei einer beinahe Bilderbuchgelegenheit die Flucht. Mit einem gestrandeten Motorboot, das er wieder in Gang setzte, schipperte er den Strom abwärts, und es gelang ihm und zwei weiteren Kameraden die Ankunft auf deutschem Boden.
Meine Hochachtung gilt Dir, lieber Karl, und unserer Oderbrücke, auch wenn ich es Dir nicht mehr sagen kann.

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