Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2009

Zur Sakuntala-Statue in Glogaus Promenade

 

von Prof. Dr. Ferdinand Urbanek

 

Vergebens sucht man in den beiden Glogau-Büchern des ‚Blaschke’ von 1913 und ‚Das war Glogau’ von 1991 nach einem Hinweis auf die den meisten von uns Älteren unter dem Namen ‚Sakuntala’ bekannte steinerne Plastik einer griechisch gekleideten, jungen Frau in Lebensgröße mit einem Krug in der linken Hand und einem Kranz um das geflochtene Haar, der man bald hinter der Kreuzung Promenaden-/Lindenruher Straße unweit der so genannten ‚Guten Stube’ im südlichen Grüngürtel der Stadt begegnete. Lediglich Freund Hans Gatzka erwähnt sie kurz in seinem Artikel im NGA 5/2002, S.3 „Grünes aus Glogau – Ein Spaziergang durch die Promenade.“ Sie ist ihm jedoch nicht, auch auf meine Nachfrage hin, unter diesem Namen geläufig, er bezeichnet sie lediglich als „Nymphe“. In der Tat findet sich auch auf dem sie tragenden Sockel keine Inschrift mit dem Namen ‚Sakuntala’. Dennoch besteht kein Zweifel: Wir alle, besonders diejenigen, die vom Südostteil der Stadt kommend nahezu täglich auf dem Schul- oder Einkaufsweg durch die Anlagen an der Schönen vorbeidefilierten, kennen sie nur als ‚Sakuntala’.

Wer war nun diese geheimnisumwitterte junge Dame, deren geschichtliche oder literarische Herkunft uns seinerzeit ebenso unbekannt war wie den meisten wohl heute noch? Ich selber bin auch erst während meines dreijährigen Aufenthalts in Indien 1965-68 (als junger Dozent an der Universität Bombay) auf sie gestoßen. Dort kennt sie jeder halbwegs Gebildete als die Protagonisten des gleichnamigen, berühmtesten klassischen Dramas Indiens, das der ebenso bekannte indische Dichter Kalidasa im 4.Jahrhundert n.Chr., also vor 1600 Jahren, noch im spätem Sanskrit-Idiom verfasste.

Kurz zum Inhalt des 7-aktigen Schauspiels, das auf eine uralte indische Sage aus der Mythologie der Hindus zurückgeht: S(h)akuntala, Tochter eines Eremiten, lebt als ärmliches Mädchen in einsamer Waldwildnis. Dort begegnet ihr auf der Jagd König Dusyanta und verliebt sich unsterblich in sie und sie sich ebenso in ihn. Trotz der kastenmäßigen Ungleichheit heiraten die beiden auf der Stelle. Da wird der König wegen unaufschiebbarer Angelegenheiten zurück zu Hofe gerufen. Unglücklicherweise beleidigt Sakuntala, inzwischen mit einem Söhnchen schwanger, unbeabsichtigt einen Heiligen, der sie daraufhin mit einem Fluch belegt, demzufolge sich Dusyanta nicht mehr ihrer erinnert. Den Fluch mindernd, erklärt der dämonische Heilige, die Erinnerung des Königs werde zurückkehren, sobald ihm Sakuntala seinen Ring zurückgebe. Diese aber verliert den Ring beim Baden. Alles scheint verloren. Inzwischen hat Sakuntala ihren Sohn geboren, der Jahre später aufgrund seiner Klugheit und Schönheit das Zeichen des künftigen Weltherrschers trägt und dadurch zum Göttervater Kashyapa gelangt. Dort trifft ihn Dusyanta auf einem märchenhaften Besuch des Gottes. Zur gleichen Zeit findet ein Fischer den verlorenen Ring im Magen eines Fischers und bringt ihn an den Hof des Königs. Somit kommen Dasyanta und Sakuntala wieder zusammen und bilden endlich ein unzertrennbares Paar, versehen mit dem Segen des Göttervaters. – Wie man sieht, eine rührende, echt indische, mehr Liebes- als Heldensage. Und in Kalidasas poetisch blumenreichem Versdrama von bezaubernder Schönheit.

Johann Wolfgang Goethe bereits ließ sich von dem Stück, das ihn in der ersten deutschen Prosa-Übersetzung 1790 von Georg Forster vorlag, so hinreißen, dass er seinerseits drei metrisch kunstvolle und inhaltlich schwungvolle Verse über Kalidasas Dichtung abfasste:

„Willst du, was reizt und entzückt, willst du, was sättigt und nährt,
Willst du den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen,
Nenn ich Sakontala, dich, und so ist alles gesagt.“

So ähnlich ging es mir – nebenbei gesagt, als wir unsere in Indien geborene Tochter mit Zweitnamen ‚Sakuntala’ nannten.

Doch nun zu der uns Glogauer im engeren Sinn interessierenden Frage: Wie kommt die Hauptfigur eines zeitlich, räumlich und geistesgeschichtlich so weit entfernten indischen Schauspiels zur ‚Ehre’, ausgerechnet in einer ostdeutschen Kleinstadt wie Glogau, dazu in künstlerischer Gestaltung und Gewandung noch aus der Zeit um 1800, ihre fröhliche Wiederaufständ zu feiern? Wer war der damals so avantgardistisch gebildete Mäzen, der dieses kleine Kabinettstück in Auftrag gab? Und welcher nicht minder kulturell aufgeschlossene Magistrat der Stadt hat die Aufstellung des Standbildes in unserer Promenade genehmigt? Da diese Grünanlage in der uns damals bekannten Struktur doch wohl erst nach der Entfestigung der Stadt 1902 entstanden sein dürfte, ist mit der Aufstellung der ‚Sakuntala’ auch erst nach diesem Datum zu rechnen. Da sie aber, wie gesagt, ihrer äußeren Form nach in aller Wahrscheinlichkeit einer früheren Kunstepoche angehört, ist anzunehmen, dass sie von irgendwoher außerhalb der Stadt herbeigeschafft worden ist. Doch woher und in wessen Auftrag ?

Da sind wir vorläufig auf Vermutungen angewiesen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Hypothese unserer Hfrdin. Liesl Feige, Tochter des Glogauer Mittelschul-Konrektors Alwin Feige, wonach die Figur ursprünglich der feudalen Gartenanlage einer begüterten Adelsherrschaft womöglich aus der näheren oder auch weiteren Umgebung von Glogau angehörte, so wie es der Mode vor und um 1800 herum entsprach, als derartige Statuen mit Profilen aus klassischer Zeit die Schlossgärten des Hoch- und Mitteladels schmückten. Irgendeiner der Nachkommen dieser Feudalherren hätte sie dann aus irgendeinem Grunde unserer Stadt vermacht. Durchaus möglich, dass es sich so verhielt. Wer weiß mehr oder hat eine bessere Herkunfts-Idee für unsere ‚Sakuntala’?

Nach meinen Recherchen bei verschiedenen deutschen Institutionen (u.a. beim deutschen Foto-Archiv in Marburg) scheint es, dass die Statue das einzige Abbild ihrer Art weit über den schlesischen Raum hinaus war, demnach – seiner Spezies nach - ein künstlerisches Unikat darstellte, was ihren Wert noch deutlich erhöhen würde.

Hier ging es mir zuerst einmal nur um den Hinweis auf und die Erinnerung an eine Detail-Lücke in der bisherigen Glogau-Geschichte. Sie dürfte mit den vorhergehenden Informationen geschlossen sein. Zugleich stellt sie einen weiteren Beweis für die hohe Kulturanhänglichkeit unserer Heimatstadt auch auf dem Gebiet der bildenden Künste dar – nach Gryphiusbüste, Goethetempel, Schillerkopf, König-Friedrich-Denkmal, Kaiser-Wilhelm-Reiterstatue, Ernst-Reuter-Brunnen, um nur die wichtigsten zu nennen (dazu die drei Kriegerdenkmäler). Unter diesen Statuen kann sich die Skulptur der Sakuntala künstlerisch und kulturgeschichtlich durchaus sehen lassen.

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