Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 3, März 2009

Die Flucht

Aufzeichnungen eines Zwölfjährigen
- Erinnerungen an den Schönauer Treck -

2. Fortsetzung aus NGA 2/2009

von Wilfried Baier, Pf.i.R.

 

Am Donnerstag, dem 1.3., brachen wir beizeiten auf. Vormittag kamen wir an einem Truppenübungsplatz vorbei, auf dem ungarische Rekruten ausgebildet wurden. Sie ballerten mit Panzerfäusten auf im Gelände verstreut aufgestellte maßstabsgetreue Abbildungen des T 34. Bei der Quartierverteilung am Zielort Glauchau-Gesau hatten wir dieses Mal großes Glück. Ein junges Schrankenwärterehepaar, Herr und Frau Friedemann, empfing uns freundlich in seinem Häuschen: Obwohl selbst nur im Besitz einer Wohnküche und einer engen Schlafkammer, sorgten sie dafür, dass jeder seine Schlafstelle hatte - ein Sofa, die Ehebetten und eine Matratze. Sie selbst nächtigten auf dem Boden. Eine Nudelsuppe der NSV munterte vollends unsere Lebensgeister auf.
Der Aufbruch in Glauchau am Freitag, dem 2.3., erfolgte bei hässlichem Wetter: Regen und Schnee im Wechsel ,Aprilwetter' im März. Den Flugzeugen schien das nichts auszumachen. Kurz vor Zwickau zwang uns erneuter Fliegeralarm zu einer einstündigen Rast in einem Birkengehölz. Diesmal war Chemnitz an der Reihe. 255 Viermotorige warfen ihre tödliche Last ab (wie ich später hörte: 2000 Tonnen; 400 total zerstörte Häuser; 580 Tote). Etliche Bomben fielen auch auf Zwickau. Beim Durchfahren der Stadt sahen wir noch die rauchenden Trümmer. Auf der zerbombten Rollbahn des Flugplatzes stand mutterseelenallein eine durchsiebte VW 190. Ein trauriger Anblick. Am späten Nachmittag erreichte der Treck über Lichtentanne Gospersgrün. Wir wurden zusammen mit den Dominiumleuten 2 Kilometer zuvor im Rittergut Thanhof abgesetzt. Frau v. Jordan verwandte sich dafür, dass wir mit im Gutshaus unterkamen. Uns wurde das "Grüne Zimmer" im Obergeschoss zugewiesen. Mutter und Großmutter schliefen auf 2 Sofas, Großvater in einem Bett, Hans in einem Eisengestell auf dem Flur und ich zu ebener Erde auf einem Schaffell in der Amtsstube des Inspektors Klopfer. Die Gutsbesitzerin, Frau Paula Wolf, gebürtig aus Löbau, eine äußerst korpulente und resolute Person, empfing uns zunächst recht freundlich, ja geradezu herzlich, als sie erfuhr, dass Großvater auch aus der Lausitz stammt. „Herr Leuschner“, sagte sie und rollte genüsslich ihr Löbauer ,l' und ,r', „mir Lausitzer hahl'n zusammen, ne woahr ?“ Als sie jedoch erfuhr, dass wegen der Verstopfung der Straßen mit einem längeren Zwischenaufenthalt der Schönauer in Gospersgrün und Thanhof zu rechnen sei, kühlte ihre Herzlichkeit schnell ab. Am dritten Tag sprach sie kaum noch mit uns. Sie wollte uns so bald wie möglich wieder los werden.

Am 18.3. feierten wir Hans' Konfirmation - unter sehr armseligen Bedingungen. Es fehlte an allem: An Geschenken, an festlicher Kleidung, an üppigem Essen. Die Pute war ja bereits verzehrt (s.o.). Trotzdem hatte Hans' Konfirmation 3 Besonderheiten: 1.) Sie fand in einem Ort satt, der seinen Namen trägt, in Beyersdorf nämlich, 7 km von Thanhof entfernt. Mit ihm wurden auch die anderen Schönauer Konfirmanden eingesegnet. 2.) Hans war der Einzige, der in einer herrschaftlichen Kutsche vorfuhr. V. Jordans hatten ihm freundlicherweise wegen des weiten Weges von sich aus eins dieser Gefährte nebst Kutscher zur Verfügung gestellt. 3.) Für die Schönauer Konfirmanden musste der Beyersdorfer Pfarrer keine Konfirmationssprüche mehr heraussuchen. Das hatte bereits Pfarrer Schulz vor Antritt der Flucht zuhause besorgt. Für Hans hatte er, fanden wir, einen besonders schönen Spruch ausgesucht. Er lautet: Ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes.' (Römer 1,16) .

Am Donnerstag, dem 22.3., formierte sich der Treck zur Weiterfahrt Richtung Bayern. In Greiz überraschte uns Vollalarm. Im Galopp verließen wir die Stadt und warteten zwischen den hohen Felsen des Elstertals die Entwarnung ab. Einen merkwürdigen Unfall gab es dabei: Es fielen keine Bomben, stattdessen prasselten Baumstämme auf die Straße. Ein Holzstapel war oberhalb der Felsen aus unerfindlichen Gründen ins Rollen gekommen. Wie durch ein Wunder wurde keiner verletzt. Nur der Verlust eines Fahrrades war zu beklagen. Einer der Stämme hatte das Vorderrad getroffen und in eine „Acht" verwandelt. Der Fahrer kam mit dem Schrecken davon. Auf vielen Umwegen gelangten wir schließlich nach Christgrün (zwischen Treuen und Elsterberg), wo wir in zwei benachbarten Siedlungshäusern bei den Familien Lusterk und Haink Unterkunft fanden. Zum ersten Mal seit unserem Aufbruch in Schönau konnte ich hier allein in einem Bett schlafen. Auch Hans hatte ein Bett für sich. Die Großeltern schliefen auf Sofas und Mutter auf einem frisch gefüllten Strohsack.
Zermürbt von den Kräfte zehrenden Umwegen des Vortages beschloss die Treckleitung, am Freitag, dem 23.3., die nur 7 km von Christgrün entfernte Autobahn zu benutzen. Das war wegen der unsicheren Luftlage ein Wagnis, bot aber auch den Vorteil, zügiger und geradliniger vorwärts zu kommen. Das herrliche Frühlingswetter begünstigte das Vorhaben. In 4,5 Stunden reiner Fahrzeit schafften wir auf der Autobahn immerhin 20 km - an Plauen und der Talsperre Pirk vorbei bis ans Ende der Autobahn bei Weischlitz. Das schöne Wetter begünstigte freilich auch die Tätigkeit der feindlichen Fliegerverbände, die uns zweimal für je eine Stunde in Deckung zwangen, was auf der Autobahn schwierig genug war, da es kilometerweit keine Ausfahrten gab. So wurden bei Alarm die Pferde abgespannt und mit in den Wald genommen und die Wagen bis zur Entwarnung, notdürftig mit Zweigen und Ästen getarnt, am Rande der Autobahn stehen gelassen. Bei einem Tieffliegerangriff hätten wir auch mit diesem Manöver keine Chance gehabt. Am Ende waren wir froh, bei Weischlitz endlich die Autobahn wieder verlassen zu können, um die letzten Kilometer bis zum Ortsteil Rosenberg auf einer ganz normalen holprigen Landstraße zurückzulegen.
In Rosenberg blieben wir bis Sonntag, den 25.3. Wir waren im Rittergut untergebracht, hatten zum Schlafen 4 Matratzen zur Verfügung und durften mit anderen Schönauern zusammen die geräumige Gutsküche mitbenutzen. „Kartoffeln“, sagte Herr Karsten, der freundliche Gutsbesitzer, zu uns: „Kartoffeln könnt ihr euch im Keller holen, so viel ihr wollt. Bei mir reicht es für alle, für Mensch und Tier. Bedient euch!“ Wir kamen uns plötzlich wie im Schlaraffenland vor. Mutter setzte sogleich einen Topf Wasser auf für eine sämige Kartoffelsuppe. Abends gab es Pellkartoffeln mit Quark und einer ‚Messerspitze Butter' und Sonntag Mittag sozusagen als Festtagsschmaus Kartoffelplinze mit Marmelade und auch ein wenig Zucker - für jedermann zum Sattessen! Rosenberg blieb uns in angenehmer Erinnerung - nicht nur wegen der Liebenswürdigkeit des Herrn Karsten, auch die liebliche, vogtländische Landschaft mit ihren sanften Hügeln, Wiesen und Wäldern sagte uns zu und ließ uns für 2 Tage die rauchenden Trümmer der Städte und die schlimmen Nachrichten von den Fronten fast vergessen. Wir wären hier gerne noch ein Weilchen geblieben. Aber es kam dann doch ganz anders. Sonntagabend erreichte uns die Nachricht: Bayern ist überfüllt. Zurück in die alten Quartiere. Aufbruch morgen früh um 8 Uhr.
Der Start am Montag, dem 26.3., war pünktlich. Wir kamen nur langsam vorwärts, da die Flüchtlingsströme sich nun in beiden Richtungen bewegten. Bei Alarm gab es das entsprechende Chaos. Wir umgingen dieses Mal Plauen in westlicher Richtung und erreichten unseren ca. 10 km nördlich der Stadt gelegenen Zielort Steinsdorf ziemlich erschöpft am späten Nachmittag. Unsere Quartiergeber, das Ehepaar Maas, stellten uns zur Übernachtung 2 Betten, ein Sofa und den Fußboden zur Verfügung.
Die letzte Etappe am Dienstag, dem 27.3., führte uns durch Elsterberg und an Reichenbach vorbei den Ausgangsorten Gospersgrün/Thanhof zu. Es gab nur noch Daueralarm und keine Entwarnungen mehr. Aus 2 km Entfernung wurden wir Zeugen eines Luftüberfalls auf Reichenbach. Wir sahen die Bomben fallen und unter furchtbarem Krachen explodieren. Aus den Kratern erhoben sich schwarze Rauchpilze, die sich gespenstisch zu einer dunklen Wolke über der Stadt vereinigten. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden konnten wir aus dieser Entfernung nicht mehr hören. Von Gospersgrün fuhr Hans mit dem Fahrrad voraus, um in Thanhof unsere Rückkehr anzumelden, und kam mit der niederschmetternden Botschaft zurück, Frau Wolf könne und wolle uns nicht mehr aufnehmen, da die Räume dringend für private Nutzung benötigt würden. Ähnliche Botschaften hörte man aus Gospersgrün. Hier griff nun die Partei ein. Sie wollte nicht, dass die gereizte Stimmung der Flüchtlinge noch mehr Nahrung bekam und sich schädlich auf die ohnehin schon miese Gesamtstimmung im Volk auswirkte. Das konnte man sich zu dieser vorgerückten Stunde nicht mehr leisten. So wurde einfach angeordnet: Unverzügliche Wiederaufnahme der Flüchtlinge in den alten Quartieren, Zuwiderhandlung wird geahndet. Dieser Anordnung konnte sich auch die wütende Paula nicht widersetzen. Zähneknirschend musste sie mit ansehen, wie wir Flüchtlinge das Obergeschoss des Gutshauses erneut auf unbestimmte Zeit bevölkerten. Sie hat es überlebt.

In Thanhof blieben wir dann noch ein knappes halbes Jahr. Hier erlebten wir den Einmarsch der Amerikaner und Russen. Ende August erhärtete sich das Gerücht, dass die Trecks aus dem Kreis Glogau zur Entlastung der Versorgungssituation in Sachsen nach Thüringen weitergeleitet werden sollten. Das betraf auch uns. So ging es Anfang September noch einmal ans Sachenpacken. Am 10. 9. 1945 endete unsere Flucht nach ca. 500 auf den Landstraßen Niederschlesiens, Sachsens und Thüringens zurückgelegten Kilometern und insgesamt 23 Zwischenstationen schließlich in Braunichswalde, Kreis Gera.
Für unsere Familie war auch Braunichswalde indess nur eine Zwischenstation, da wir am 25.10.1946 nach Horka O/L zurückkehrten, Großvaters letzter Wirkungsstätte als Lehrer.
Über allen räumlichen und zeitlichen Abständen aber bleibt das Band der Erinnerung.

Ende

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