Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2009

Die Flucht

Aufzeichnungen eines Zwölfjährigen
- Erinnerungen an den Schönauer Treck -

1. Fortsetzung aus NGA 1/2009

von Wilfried Baier, Pf.i.R.

 

Am 12.2.holten uns Werners mit einem Bretterwagen nach Rengersdorf. Unterwegs beobachteten wir einen Luftkampf zwischen einer Me109 und einem russischen Jagdflugzeug. Wer wen abschoss, konnten wir nicht mehr verfolgen. Wir wurden in dem von Flüchtlingen überfüllten Rengersdorfer Schloss untergebracht. In der Mangelstube war für uns Fünf gerade noch Platz. Immerhin standen uns 2 Betten zur Verfügung. Die Verpflegung war ausreichend. Gleich in der ersten Nacht wurden wir durch leichte erdbebenartige Erschütterungen aus dem Schlaf gerissen. Draußen war ein leises Grummeln zu hören, begleitet von fernem Wetterleuchten, aber nicht aus östlicher, sondern südwestlicher Richtung. Luftangriff auf Dresden! Dass das bei entsprechendem Wind so weit zu hören ist (80 km!), haben wir alle nicht geahnt. Am Donnerstag, dem 15.2., feierten wir in unserer ‚Rumpelkammer' unter armseligen Umständen Großvaters 68. Geburtstag.
Am Freitag, dem 16.2., früh um 7 Uhr erfolgte der Aufbruch von Rengersdorf. Großmutter und Mutti fuhren in der v. Jordan'schen Kutsche mit. Großvater und ich saßen auf dem Seifert'schen Gummiwagen, und Hans fuhr mit Großvaters Rad nebenher. Großvaters Leiterwagen mit dem Gepäck zuckelte hinter dem
Dominiumwagen her. Es ging über Niesky auf Sachsen zu. Bei Klein-Saubernitz verließen wir unser liebes Schlesien.
Pließkowitz bei Bautzen war unser erstes Quartier in Sachsen. Wir übernachteten bei Frau Kuhrt, die uns freundlich empfing und sich besonders um die Großmutter bemühte. Ich durfte in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen.
Am 17.2. früh beizeiten ging die Fahrt weiter. Bautzen ließen wir links liegen. Unterwegs sahen wir öfters Kruzifixe und Frauen in wendischer Tracht. Auf Umwegen erreichten wir unseren Bestimmungsort Nebelschütz bei Kamenz. Am Ortseingang fuhr mir eine Kutsche über den rechten Fuß. Außer einem kleinen Bluterguss war Gott sei Dank nichts passiert. Unsere Gastgeber waren sehr nette Wenden, Herr und Frau Petasch mit der 19 jährigen Tochter Marja. Als Mutter unseren Brotkanten auspacken wollte, sagte Frau Petasch freundlich: „Lasst das, heute seid ihr unsere Gäste!“ Dann schnitt sie Riesenschnitten von einem selbst gebackenen Achtpfundbrot ab, setzte uns Wurst und Butter vor, sprach ein wendisches Tischgebet und fügte deutsch hinzu: „So, und nun langt kräftig zu, und esst euch mal so richtig satt!“ Es schmeckte wunderbar. Da die Pferde von den beiden vorangegangenen Tagen sehr erschöpft waren, blieben wir auch am Sonntag noch in Nebelschütz. Für die Übernachtung war in dem kleinen Häuschen wenig Platz. In der ersten Nacht schlief ich auf dem Fußboden, wo ich entsetzlich fror, in der zweiten auf der Ofenbank, wo es zwar etwas eng, aber wegen der warmen Kacheln umso gemütlicher war. In der Nähe hatte ich eine Stehlampe. So las ich noch in ein paar Illustrierten, bis mir die Augen zufielen.
Am Montag, dem 19.2., starteten wir erst um 13 Uhr. In Kamenz passierten wir gerade den Flugplatz, als Fliegeralarm gegeben wurde. Zwei Stukas stiegen auf, kreisten kurz über uns und entfernten sich dann in westlicher Richtung. Wir hielten bis zur Entwarnung im Wald. Die Stimmung war gedrückt. Zwei Frauen machten ihrem Herzen Luft und schimpften so laut, dass es Ortsgruppenleiter M. aus Gutendorf hören konnte. Der tröstete sie auf seine Weise: „Seid nicht so zimperlich. Eines Tages müssen wir sowieso alle verrecken!“
Unser nächstes Ziel war Neustadt, Kreis Kamenz. Zusammen mit den Dominiumleuten kamen wir zu einem Bauern, der auf so viele Personen beim besten Willen nicht eingestellt war. Wir mögen ihm mit unserem Hunger wie ein lästiger Heuschreckenscharm vorgekommen sein. Milch war reichlich vorhanden, aber zu beißen gab es nichts. Großvater und Hans teilten sich ein Bett. Großmutter schlief auf einem Sofa und Mutter daneben auf dem Fußboden, mit dem Rücken zum wärmenden Ofen. Ich fand es abenteuerlich, in einen dicken Kutschermantel gehüllt, zusammen mit den Dominiumleuten in der Gesindestube auf Strohschütten zu nächtigen. Wir lagen wie die Heringe. Von Nachtschlaf keine Spur. Immerhin erbarmte sich am nächsten Morgen die NSV unserer leeren Mägen. Jeder bekam eine Tasse Milchsuppe und eine dünn bestrichene Kunsthonigschnitte serviert.

Der Aufbruch am Morgen des 20.2. (Dienstag) verzögerte sich um eine halbe Stunde durch den Vorbeimarsch eines Reiterregiments der ‚Armee Wlassow'. Anfangs erschraken wir nicht schlecht, als wir hörten, es seien Russen, die da mit finsteren, wild entschlossenen Gesichtern, ohne von uns Notiz zu nehmen, an uns vorüber galoppierten. Einige sahen wie Mongolen aus. Hatte uns nun die Rote Armee, zur Täuschung in deutsche Uniformen verkleidet, doch schon überrannt? Die Spannung wich, als wir hörten, dass die ‚Armee Wlassow’ aus Überläufern der Roten Armee bestand, die seit 1942 auf deutscher Seite kämpften, um ihre Heimat, wie sie sagten, vom Kommunismus zu befreien. Sie trainierten auf dem Königsbrücker Truppenübungsplatz für den nächsten Einsatz. Unser Tagesziel war Ebersbach, ca. 15 Kilometer südwestlich der genannten Stadt gelegen. Das Quartiermachen war dieses Mal schwierig. Nach endlosem Hin und Her fanden wir bei einem Bauern Herrmann unser Nachtlager. Wir hatten einen kleinen leer stehenden Raum mit Stroh für uns. Da wir sehr eng zusammen rutschen mussten, fror keiner in dieser Nacht.

Am Mittwoch, dem 21.2., überquerten wir in Meißen bei schlechtem Wetter die Elbe. Der Anblick der Albrechtsburg beeindruckte uns, ebenso die hohen Sandsteinfelsen, die rechts und links eine ganze Strecke lang den Weg säumten. In mehreren Orten fanden wir kein Quartier mehr, bis wir endlich ca.10 Kilometer vor Nossen in dem Dorf Burkhardswalde landeten. Wieder qualvolles Suchen nach einer geeigneten Unterkunft. Schließlich fanden wir uns alle Fünf bei dem Bauern Hoffmann zusammen. Er war sehr unfreundlich und wollte uns durchaus nicht aufnehmen. Erst als er sah, dass Großmutter nicht einen Schritt mehr laufen konnte, gab er widerwillig nach. Als Übernachtungsmöglichkeit bot er uns den Kuhstall und ein zerbeultes Sofa in einer Abstellkammer an. Großmutter bekam das Sofa. Mutter richtete sich daneben auf dem nackten Fußboden ein. Zwei Decken schützten sie notdürftig vor der aufsteigenden Kälte. Wir drei ‚Männer' begaben uns in den Stall. Großvater und Hans schliefen auf einem Strohhaufen und landeten mehrmals auf dem Rücken der schlafenden Kühe. Ich machte es mir in der Futterraufe ,bequem' und rutschte gelegentlich mit den Füßen in ein Tränkloch. An Schlaf war unter diesen Umständen kaum zu denken, zumal uns ein ständig hustendes Pferd immer wieder am Einschlafen hinderte. Wir blieben noch eine zweite Nacht in diesem ungastlichen Quartier. Die Alteichener Gemeindeschwester kümmerte sich darum, dass auch die Mutter in der Abstellkammer ein Strohlager bekam und sie auch einmal den Küchenherd mit benutzen durfte. Sie überraschte uns mit einem besonderen Menü. Frau Neufert aus Kropusch hatte kurz vor dem Fluchtbeginn ihre Puten geschlachtet und eingepökelt. Eine davon hatte sie netterweise uns zugedacht. „Für Hansis Konfirmation“, war ihre einzige Begründung. Da wir nicht wussten, wann und wo und ob überhaupt dieses Ereignis in der Fremde stattfinden würde, hatte Mutter beschlossen, einen Teil des Festschmauses schon vorzeitig freizugeben. Der Bauer wird über die Brutzelei nicht schlecht gestaunt haben. Wir aber freuten uns über diese überraschende ,Sonderzulage'. Wir hatten sie nach den Strapazen der letzten Tage bitter nötig.

Die Weiterfahrt am Sonnabend, dem 24.2., früh um 8 Uhr stand unter keinem günstigen Stern. Gleich hinter Burkhardswalde brach in einer tiefen Fahrrinne an unserem Handwagen ein Rad. Wir mussten ihn wohl oder übel stehen lassen. Hilfsbereite Schönauer halfen uns, ohne dass der Treck anhielt, die Gepäckstücke in Windeseile auf die benachbarten Wagen zu werfen. Sortiert wurde später. Noch ein zweites Unglück ereilte uns an diesem Tag. Auf einer abschüssigen Straße kam Hähnelts Wagen ins Schleudern und kippte um! Alles lag verstreut auf und neben der Straße. Gott sei Dank wurde keiner verletzt. Nur unter Mühen gelang es, den Wagen wieder flott zu machen. Das Fehlen der in Schönau nicht benötigten Wagenbremsen machte sich in der bergigen Landschaft Mittelsachsens unangenehm bemerkbar. Viele Wagenbesitzer besorgten sich Balken, mit denen sie bergab ein Hinterrad bremsten. Unseren Quartierort, Etzdorf bei Roßwein, erreichten wir an diesem Tag nach vielen Umwegen erst um 20 Uhr, waren also 12 Stunden unterwegs und hatten dabei ca. 45 Kilometer zurückgelegt! Unsere Großmutter konnte nicht mehr stehen und laufen. Ein hilfsbereiter Einheimischer hatte Erbarmen und trug sie in das nächste Haus. Glücklicherweise fanden wir hier zu fünft Unterkunft. Die sehr nette Gastgeberin, Frau Bertram, überließ uns ihre 4 Betten und schlief selbst auf einem alten Sofa. Über Sonntag (25.2.) blieben wir in diesem freundlichen Quartier.

Am Montag, dem 26.2., kamen wir in die Gegend von Mittweida. Diese sächsische Kleinstadt machte einen geradezu friedlichen Eindruck. Auf dem Markt standen Hausfrauen vor einem Bäckerladen Schlange und unterhielten sich angeregt über alltägliche Dinge. Ein Bierkutscher machte durch lautes Peitschenknallen auf sich aufmerksam. In einer Seitengasse spielten Kinder mit ihren Kreiseln. Einige spielten auch Eisenbahn und sangen dabei einen Vers, dessen tieferen Sinn ich nicht begriff, der sich mir aber durch die ständige Wiederholung bleibend eingeprägt hat: Bim, bim, bim, die Post ist da, bim, bim, aus Mittweida, bim, bim, bim, noch einen Schritt, und du musst mit!' Ein friedliches Bild, zu dem eigentlich nur wir nicht so recht passten. Die Mittweidaer nahmen uns kaum wahr. Vermutlich hatten sie sich an den Anblick ständiger Flüchtlingskolonnen inzwischen gewöhnt. In ihren Augen waren wir wohl nicht mehr als durchziehende Vagabunden, vor denen man sich am besten durch Nichtbeachtung schützt ... Unser Etappenziel war das nur 2 Kilometer von Mittweida gelegene Dorf Königshain. Diesmal mussten wir wieder getrennt nächtigen. Mutter und Großmutter standen bei einem netten älteren Ehepaar Holler Bett und Sofa zur Verfügung, während wir drei anderen bei einer ebenfalls netten Familie Schönfelder Unterkunft fanden. Schönfelders stellten Filzpantoffeln her und pflegten liebevoll ein edelrassiges Pony. Wir durften es streicheln. Versorgt wurden wir in Königshain von der NSV mit Milchgriessuppe und Butterkunsthonigschnitten.

Der nächste Tag, Mittwoch, der 27.2., war alles andere als friedlich. Schon früh gab es Fliegeralarm. Die Treckleitung beschloss, erst Mittag aufzubrechen. Aber weit kamen wir nicht, da heulten wieder die Sirenen. Großangriff auf Leipzig ! Über eine Stunde verharrten wir im Wald. In großer Höhe zogen die Bomberschwärme über uns dahin. Es sollen, wie wir später hörten, über 700 Flugzeuge gewesen sein. Ein unheimliches Dröhnen erfüllte die Luft. Als es verhallte, setzte vom Norden her ein dumpfes, lang anhaltendes Gewittergrollen ein: Die Bombenteppiche taten ihr Werk. Wieviel Todesopfer mag es in Leipzig gegeben haben? Auf Grund der vielen Verzögerungen schafften wir an diesem Tage unser Streckenpensum nicht. Auf halbem Wege zwischen Mittweida und Altenburg/Thür. machten wir Halt in Langenleuba-Oberhain. Die Gastgeber waren freundlich. Großvater und Hans schliefen in Bett und Sofa bei einem Ehepaar Rust. Uns anderen stand in der kinderreichen Familie Kretschmer das gleiche Mobiliar zur Verfügung. Ich schlief auf dem Fußboden. Wegen Tieffliegergefahr blieben wir 2 Tage in Langenleuba-Oberhain.
Fortsetzung folgt . . . .

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