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Weihnachten 1945 bekam ich von meiner Mutter ein Tagebuch geschenkt. Sie bat mich, einmal all das aufzuschreiben, was wir auf der Flucht seit unserem Aufbruch aus Schönau (Kreis Glogau) im Januar 1945 bis zu unserer Ankunft in Braunichswalde (Kreis Gera) im September 1945 erlebt haben. Als sie mein anfängliches Zögern bemerkte - ich war damals ja erst 12 Jahre alt geworden - , fügte sie pädagogisch geschickt hinzu: „Du wirst es schon schaffen. Kannst mich ja immer mal fragen. Ich helfe dir gerne aus ". So setzte ich mich denn an die Arbeit, die mir zunehmend Spaß machte.
Der vorliegende Bericht ist die authentische Wiedergabe meiner Aufzeichnungen von damals. Die in Schrägschrift geschriebenen Abschnitte sind erklärende Ergänzungen zu dem in Steilschrift geschriebenen eigentlichen Tagebuchtext.
Am Sonntag, dem 28.1.1945, mussten wir bei Schneegestöber und 10 Grad Kälte unsere liebe Heimat verlassen. Die Leitung des Trecks lag in den bewährten Händen von Herrn Otto Werner (anfangs) und Kurt Werner (später) aus Schönau und Herrn Paul Neufert aus Kropusch, die sich in guter Zusammenarbeit bemühten, auch aus misslichen Lagen immer noch das Beste herauszuholen. Gegen 10 Uhr setzte sich der Treck in Bewegung. Das wenige Handgepäck hatten wir auf Schobers und Werners Wagen zu gleichen Teilen mit verstauen dürfen. Die Mitnahme des Fahrrades erwies sich schon sehr bald als Illusion. Im tiefen, mahlenden Schnee war damit kein Vorwärtskommen. Wir mussten es bei Schobers stehen lassen. Schon nach einem Kilometer - an der Kropuscher Kurve - konnten wir das Dorf im Schneetreiben nicht mehr erkennen. Es war wie weg radiert. Vorhang zu. Abschied für immer.
Ich habe 2o Jahre lang fast jede Woche von diesem jähen Abschied und dem hinter dem Schneeschleier zurück gelassenen Kindheitsparadies geträumt. Die Träume hörten erst 1965 auf, als sich die Grenzen öffneten und wir die Gelegenheit hatten, in regelmäßigen Abständen auch einmal „hinter den Vorhang" zu schauen, wo sich inzwischen freilich die Szenerie gründlich verändert hatte ...
In Beuthen gab es den ersten Aufenthalt. Die engen Straßen waren mit Treckwagen verstopft. Um 16 Uhr kamen wir in Nettschütz, Kreis Freystadt, in unsere ersten Quartiere. Es war sehr kalt, und wir mussten auf dünnem, schlechten Stroh im Schankraum eines Gasthauses übernachten. Nachts flog die große Oderbrücke in Beuthen in die Luft. Wir hörten den dumpfen Knall über 10 km weit.
Montag, den 29.1., ging es bei großer Glätte und eisigem Wind über Freystadt weiter nach Herwigsdorf. Im Wald mussten wir durch tiefen Schnee. 2 Panzer überholten uns - in der falschen Richtung. Am Straßenrand reckten ein paar Pferdekadaver ihre Beine in die Höhe. Eine Stunde standen wir im Stau und bekamen kalte Füße. In der Schule, die als Massenquartier hergerichtet war, fanden wir Unterkunft. Wegen der überanstrengten Pferde und der zugewehten Straßen blieben wir am nächsten Tag auch noch dort. Ich hatte 38,8 Grad Fieber. Hans (mein 3 Jahre älterer Bruder) schoss mit Schober Siegfrieds Tesching ein Rebhuhn. Es war nichts dran. Geschmeckt hat's trotzdem.
Am Mittwoch, dem 31.1., trennten wir uns vorübergehend vom Treck. Meine Mutter machte sich wegen meiner Erkrankung Sorgen. Ein Militärauto nahm uns Drei mit nach Sagan, von wo es ihr trotz der auf der Bahn herrschenden chaotischen Zustände gelang, einen Zuganschluss nach Kohlfurt und von da aus nach Horka O/L (damals Wehrkirch), dem Wohnsitz ihrer Eltern, zu erlangen. Auch Großmutter war krank. Sie litt unter einer fortschreitenden Nervenlähmung mit dementen Nebenerscheinungen und war inzwischen fast völlig gelähmt.
In Wehrkirch hofften wir, eine vorläufige Bleibe zu finden. Nach 3 Tagen erholte ich mich langsam. Der Anblick der Straße war beängstigend. Durchs Fenster sahen wir endlos Trecks vorüber ziehen. Sie durften nur die rechte Seite benutzen. Die linke war für Militärkolonnen reserviert. Am 5.2. hörte man in der Ferne schon wieder Kanonendonner, und es ging das Gerücht, dass auch Wehrkirch bald geräumt werden sollte. Was tun? Bleiben oder erneut flüchten? Für's Bleiben sprach die Krankheit der Großmutter. Aber - wie würden wir den Einmarsch der Russen überstehen? Andrerseits: Wer von den uns unbekannten Horkaern würde sich schon gern mit der kranken Großmutter und drei ,zugereisten' Fremden belasten? Bleiben oder flüchten? Wir wussten keine Antwort. Ein unerwartetes Ereignis half uns weiter: Am 8.2. trauten wir unseren Augen nicht, als wir durch Zufall unter den vielen vorbei ziehenden Trecks auch die Schönauer entdeckten. Die Wiedersehensfreude war groß. Ihr Zielort für mehrere Tage sollte das nur 8 km entfernte Rengersdorf sein. Sie wollten uns gern wieder mitnehmen. Besonders nett fanden wir, dass sie sofort bereit waren, auch den Großeltern im Treck einen Platz zuzuweisen. Eine schwere Sorge war uns genommen.
Wir haben uns später oft über den oben genannten glücklichen „Zufall" unterhalten. Von den 4 möglichen Neißeübergängen Forst, Bad Muskau, Podrosche und Rothenburg war der letzt genannte eigentlich der unwahrscheinlichste; denn jeder Treck war in jenen kritischen Wochen bestrebt, wegen der besonderen Gefährdung der Brücken auf dem schnellsten und direktesten Weg das Westufer des betreffenden Flusses zu erlangen. Dass der Schönauer Treck den Umweg über Rothenburg/Horka nahm, empfanden wir nicht nur als „glücklichen Zufall ", sondern viel mehr als „gnädige Fügung", auch die Tatsache, dass Großvaters Wohnung an der Hauptstraße lag, die alle Trecks passieren mussten, und dass gerade in den 10 Minuten eines langen Tages jemand von uns zum Fenster hinaus schaute, als unter den vielen, vielen Flüchtlingen ausgerechnet auch die Schönauer vorüber pilgerten. Das war in der Tat höchst merkwürdig, besser wohl „wunder-bar ". Zufall als Fügung Gottes. Noch ein Tatbestand versetzte uns in freudiges Erstaunen. Es hatte sich herumgesprochen, dass am Sonntag, dem 11.2., in der Horkaer Kirche ein Flüchtlingspfarrer predigen sollte. Als wir erwartungsvoll zum Altar schauten, staunten wir nicht schlecht, als aus der Sakristei wiederum ausgerechnet unser Schönauer Pfarrer Schulz heraus geschritten kam. Er war nur vorübergehend zum Treck gestoßen und hatte sich für den 11.2. zum Vertretungsdienst gemeldet, „wo man ihn gerade braucht". Wiedersehen in der Fremde ! Nach der Predigt kündete er das in Schönau so oft gesungene Paul Gerhart-Lied „Befiehl du deine Wege "an. Es sprach uns allen aus dem Herzen und ließ uns neu nachdenken über Gottes gnädige Fügungen, der durch alle vermeintlichen „Zufälle" hindurch sein Werk unbeirrt ans Ziel bringt.
„. . der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann... "
Gestärkt gingen wir aus diesem Gottesdienst in die zweite Etappe unserer Flucht.
Fortsetzung folgt …
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