Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 7, Juli 2008

Vom Schicksal eines jüdischen Kindes aus Glogau

von E.Loos

Von Anneliese Kochmann, geborene Stargardter, Jahrgang 1926, die seit 1949 in Israel lebt, will ich berichten. Ihr Vater war Mitinhaber des großelterli­chen Modehauses.Pietrkowski in Glogau, das er von Grund auf modernisiert hatte. Es war das drittgrößte Kaufhaus in unserer Stadt. Seit Generationen war die Familie in Glogau ansässig. Ostern 1932, noch zur Zeit der Weimarer Republik, wurden wir mit Anneliese zusammen in eine der l. Klassen der Pestalozzischule" eingeschult. Das war die evangelische Mädchen-Volksschule, die in unserem Geburtsjahr 1926 in Klinkerbauweise an der Königstraße erbaut worden war. Zu damaliger Zeit war es wohl die modernste und schönste Schule in Glogau. Unsere Klasse hatte mindestens 40 Schülerinnen. Viele von ihnen kamen aus sehr armen Familien, in denen Not und Mangel herrschten. 10 Millionen Arbeitslose gab es zu dieser Zeit! In der großen Pause bekamen die Bedürftigsten etwas warme Suppe von der Quäker.Stiftung" in das mitgebrachte Emailletöppel" ausgeteilt. Das waren die Quäkerkinder". Damals war ich mit Anneliese nicht befreundet, habe sie als sympathische, bescheidene Mitschülerin, die immer hübsch gekleidet war, in Erinnerung. Im Gegensatz zu ihr merkten wir damals erst wenig von den antisemitischen Agi­tationen, die das Kind Anneliese kränkten. Noch heute erinnert sie sich an zy­nische Bemerkungen eines Lehrers, die auf sie als Jüdin abgezielt waren. Was mag sie empfunden haben, als wir später unsere Lehrer mit Heil Hitler" und nicht mehr mit Guten Morgen" begrüßen mussten? - In den beiden ersten Schuljahren war Herr Heyse unser Klassenlehrer, ein freundlicher, ruhiger Pä­dagoge, bei dem wir uns geborgen fühlten. Er malte hübsche, kleine Feder­zeichnungen in unsere Poesiealben, die wir ihm gaben. In der 3. und 4. Klasse löste ihn Fräulein Müller ab, die einen strengen Blick hatte und niemals lachte. Unsere Vornamen ignorierte sie grundsätzlich, rief uns nur mit dem Nachna­men auf. Greulich, Fiedler, Fischer, vorkommen", so klingt es noch heute in meinen Ohren. Hatte sie eine von uns geohrfeigt, wusch sie sich danach die Hände. Zur Läusekontrolle mussten wir in langer Schlange mit dem Federhalter in der Hand antreten - wir hatten ja noch keine Füller, schrieben mit Stahlfe­dern. In jeder Bank war ein Tintenfass. Dann stocherte sie mit dem Federhal­terende hinter unseren Ohren herum. Auch danach wusch sie sich die Hände, was verständlich ist. Wegen eines Hüftleidens lahmte sie stark. Vermutlich hat dieses Leiden Spuren an ihrer Seele hinterlassen. Anneliese sagt: Sie war we­nigstens nicht gemein zu mir"! Als wir an Ostern 1936 ins Lyzeum umgeschult wurden, verloren wir Anneliese aus den Augen. Sie blieb in der Pestalozzischule nun in der 5. Klasse. Ihre Eltern meinten, dass sich der zunehmende Antisemitismus an den Volksschulen nicht so krass auswirken würde. Mit dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 nahmen die Drangsale für die jüdische Bevölkerung erheblich zu. An den Parkbänken waren Schilder mit der Aufschrift Für Juden verboten" angebracht. Die Benutzung öffentlicher Ein­richtungen wie Theater, Bibliotheken, Kinos, Sportplätze, Schwimmbäder usw. wurde ihnen verwehrt, ebenso das Spielen auf Spielplätzen. Fortan war der jüdische Friedhof der Spielplatz für jüdische Kinder. Jüdische Geschäfte wur­den boykottiert. Kauft nicht bei Juden, lautete die Parole. Jüdische Geschäfte wurden arisiert, aufgekauft und wechselten den Besitzer. Auch Annelieses El­tern und Großeltern waren gezwungen zu verkaufen. Wer es sich irgendwie ermöglichen und leisten konnte, strebte nach Auswanderung in ein sicheres Land. Mehrmals bemühten sich auch die Eltern Stargardter um die dafür not­wendigen Papiere. Leider scheiterte es jeweils an Kleinigkeiten, die diesen Plan verhinderten. In Glogau verschwanden beliebte und geschätzte Ärzte und Anwälte. Wer auszuharren versuchte, geriet in die Fänge der Häscher, wurde deportiert und starb schließlich in einem KZ; wie auch unser guter Kin­derarzt Dr. Edmund Nathan, der unsere Kindheit fürsorglich begleitet hatte. Und dann kam die Kristallnacht" am 9. November 1938, in der alles zusam­mengeschlagen wurde, was jüdisch war, und im ganzen Land die Synagogen brannten. Jüdische Männer, auch Annelieses Vater, wurden verhaftet. Er kam ins KZ Sachsenhausen. Die vorzeitige Entlassung von dort im Dezember 1938 verdankte er seiner Teilnahme als Frontsoldat im 1. Weltkrieg. Noch während seiner Abwesenheit hatte Frau Stargardter Anneliese für den Kindertransport nach England, der die Rettung von 10.000 jüdischen Kindern aus Deutsch­land, Österreich und Tschechien ermöglichen sollte, angemeldet. Jüdische Familien hatten sich bereit erklärt, die nun heimatlosen Kinder in Pflege zu nehmen. Finanzielle Unterstützung kam dazu auch aus USA. Wie unsagbar schwer mag es den Eltern Stargardter gefallen sein, ihr gerade mal 13 Jahre alt gewordenes einziges Kind in ein fremdes Land mit fremder Sprache ziehen zu lassen. Keiner wusste damals, ob es je ein Wiedersehen geben würde! An­neliese kam zu einem kinderlosen älteren orthodoxgläubigen Ehepaar, das nicht wohlhabend war. Kontakt zu den Eltern gab es ab und zu über Deckadressen entfernter Verwandter, die in der Schweiz und in USA lebten, allerdings nur in der ersten Zeit. Die Eltern waren nach Berlin umgezogen. Die Großstadt ermöglichte eher ein Leben in der Anonymität. Zunächst hatten sie dort noch eine eigene Wohnung. Aber Frau Stargardter wurde verpflichtet, Zwangsar­beit, die sehr schwer war, in einer Fabrik zu leisten. Ihren Mann verschonte man aus Altersgründen. Jedoch wurde die Lage bedrohlicher. Die Deportati­onen häuften sich, und so beschlossen sie, in den Untergrund abzutauchen. Nur mit Hilfe treuer Freunde, die sie mit Nahrung und mit dem Notwendigsten versorgten, war ein Überleben im Versteck überhaupt möglich. Die perma­nente Angst vor Entdeckung erforderte immer wieder den Wechsel in ein an­deres Versteck. Gegen Ende des Krieges verließen sie Berlin und fanden im Elsass eine neue Bleibe, wo sie aber durch Verrichtung niedrigster Arbeiten ihren Lebensunterhalt selbst verdienen mussten. Nach langer Zeit der Ungewissheit und Sorge gelang es einem jüdischen US­Militärarzt, der einst Deutscher war, die Verbindung von den Eltern mit der noch in England lebenden Tochter herzustellen. Groß wird die Freude gewe­sen sein, dass alle drei den Krieg, das Ende des Nazireiches überlebt hatten, aber groß auch die Trauer, als sie erfuhren, wie viel nahe Verwandte und Freunde im KZ umgekommen waren. Nie wieder wollte die Familie Stargardter zurück nach Deutschland! Die Eltern bekamen 1948 die Erlaubnis, nach Paläs­tina auszuwandern. Den Staat Israel gab es noch nicht. Anneliese meldete sich von England aus freiwillig zur Teilnahme am Befreiungskrieg und kam im Februar 1949 auf nicht ganz legalem Weg in das Land ihrer Hoffnung, wurde erst 1950 zum Militär eingezogen und diente fast 2 Jahre bei der Airforce In­telligence". Nach 10 Jahren endlich konnte sie 1949 ihre Eltern wieder in die Arme schließen, von denen sie als Kind Abschied nehmen musste, die sie nun als junge Frau wiedersahen. - Später lernte sie ihren Mann Gerd Kochmann kennen, einen deutschen Juden aus Berlin, der bereits 1933 mit seinen Eltern, die das Unheil vorausahnten, nach Palästina ausgewandert war. Mit ihm gründete sie eine Familie und führte eine lange, gute Ehe. Immer haben sie deutsch miteinander gesprochen, und auch die Tochter und der Sohn lernten deutsch zu verstehen und zu sprechen. Anneliese lebt heute verwitwet in Herzlia, etwa 20 km nördlich von Tel Aviv. Sie hat eine Tochter, einen Sohn und 5 reizende, wohlgeratene Enkel, die ich alle auf Fotos kennen gelernt habe. Der Zusammenhalt in der Familie ist vorbildlich. Keiner von ihnen ist orthodox­gläubig, aber es gibt kein jüdisches Fest und keinen Schabbat, an dem sie sich nicht auf festliche Weise zusammenfinden und althergebrachte Traditio­nen pflegen. Als ich in früheren Jahren im Glogauer Anzeiger" die Namen der Ge­burtstagskinder durchsah, war im Juli stets der Name Anneliese Kochmann, geb. Stargardter, und ihre Adresse in Israel dabei. Gern hätte ich Näheres von ihrem Schicksal gewusst. Erst 2002 fasste ich den Entschluss, ihr zu schreiben, als ich sie auf einem Klassenfoto, das mir Eleonore Bader, geborene Werner, zum 75. Geburtstag geschickt hatte, in der Mitte der vordersten Reihe sitzen sah. Nun schrieb ich an Anneliese, formulierte behutsam und sensibel. Ich wusste ja nicht, wie sie es aufnehmen würde. Schon bald kam eine Antwort, die sehr positiv klang. Natürlich konnte sie sich an uns Zwillinge erinnern, und mein Brief hat sie sehr gefreut. Damit begann eine Brieffreundschaft, die in den zurückliegenden 6 Jahren immer schöner und reicher wurde. Unzählige, recht ausführliche Briefe haben wir uns seither geschrieben, Fotos ausgetauscht und lange Telefonate miteinander geführt. Nicht von Glogau sprechen wir dann, zu schmerzlich sind ihre Erinnerungen an diesen Ort, son­dern wir erzählen von unserem Leben im Alter, von unseren Kindern und En­keln, von Altersbeschwerden, die nicht ausbleiben, von schönen Reisen, die wir früher unternommen haben und manchmal auch vom aktuellen politi­schen Geschehen. So ist in den vergangenen Jahren eine ganz besondere, schöne Freundschaft entstanden, die keine von uns beiden mehr missen möchte. Sehr gerne hätten wir uns noch mal wiedergesehen, vielleicht in Deutschland oder Israel. Aber nun mangelt es an der Kondition, die für solch eine Reise zwingend not­wendig wäre. Wie gut, dass ich Israel, Annelieses wirkliche Heimat, 1984 bei einer Studienreise näher kennen, verstehen und überaus schätzen gelernt ha­be. Das schafft zwischen uns eine gewisse Nähe, verbindet uns, auch wenn ein Wiedersehen nun nicht mehr möglich sein wird.

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