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Am Ortseingang der Gemeinde Mariental im Kreis Helmstedt befindet sich ein seltenes Denkmal. Am Ende eines sich verjüngenden Gleises steht ein großer runder schwarzer Stein, einem Eisenbahnrad nachempfunden. Er trägt die Inschriften Nie wieder Gewalt, Vertreibung und Unrecht" - Einigkeit, Recht und Freiheit sind unsere Zukunft". Auf den Gleisschwellen stehen - stellvertretend auch für andere - die Namen ostdeutscher Städte: Hirschberg, Königsberg, Sorau/Schl., Kohlfurt, Kolberg, Breslau, Wohlau, Stettin, Danzig und Oels. Auf den Gleisen sollen Begriffe wie einerseits Krieg, Angst, Unterdrückung, Leid, Hunger, Vertreibung an die Vergangenheit erinnern und andererseits Frieden, Glaube, Zuversicht. Hoffnung und Freiheit eine neue Zukunft beschwören. Das große Rad und der Schienenstrang symbolisieren den Transport der aus ihrer ostdeutschen Heimat vertriebenen Deutschen, ihre Herkunftsorte, ihr Leiden und ihre Hoffnung unmittelbar nach Kriegsende. Wie ist es zu dem Denkmal gekommen? Bedingt durch die Nachkriegsfluchtbewegungen wurde auf Anordnung der britischen Militärregierung im November 1945 in unmittelbarer Nähe der sowjetischen und der britischen Besatzungszone das Flüchtlingslager Mariental als Durchgangslager in vorhandenen Baracken errichtet. Zunächst wurden dort im Zuge der so genannten Aktion Honigbiene" Transporte mit Personen zusammengestellt, die während des Krieges in der dann sowjetisch besetzten Zone Aufnahme gefunden hatten und die zurück in ihre westlich gelegenen Heimatorte wollten. Innerhalb eines Vierteljahres waren das in den Wintermonaten 1945/46 weit über 100.000 Menschen. Ab Februar 1946 war es ein reines Vertriebenenlager. Dort kamen fast ausschließlich Transporte unter dem Decknamen Schwalbe" (swallow) an. Es waren die Vertriebenentransporte aus Schlesien, Viehwaggons, die mit ihrer Menschenfracht nach tagelanger, mit unmenschlichen Strapazen verbundener Fahrt eintrafen. Die Transporte bestanden meist aus 55 Waggons mit insgesamt 1.700 bis 2.000 Vertriebenen. Im Lager wurden sie registriert, mit DDT entlaust, notdürftig verpflegt und, soweit nach den damaligen Umständen möglich, ärztlich versorgt. Insgesamt durchliefen nach den amtlichen Unterlagen 750 000 Personen, darunter 533 301 Vertriebene - fast alle aus Schlesien - dieses Lager¹. Einer davon war ich. 50 Jahre nach Schließung des Lagers erinnerte die Gemeinde Mariental mit einer Buchveröffentlichung von Rolf Volkmann Das Flüchtlingslager Mariental (1945 - 1947) und die Vertriebenentransporte aus Schlesien (1946 - 1947)² an das vorangegangene Geschehen. Dazu errichtete sie das beschriebene Denkmal, das ich im September 1997 als damaliger Präsident des Niedersächsischen Landtages enthüllen durfte. Bürgermeister Lothar von Drewitz eröffnete im Beisein zahlreicher Gäste - unter ihnen der Landesvorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Helmut Sauer, und viele Zeitzeugen - die damalige Feierstunde.3 Bürgermeister von Drewitz freute sich, dass wir im Gemeinderat nach ausgiebigen Diskussionen demokratisch und sogar einstimmig die Errichtung des Denkmals sowie die Dokumentation über das Flüchtlingslager beschlossen haben". Im Jahre 2006 waren 60 Jahre seit der Hauptvertreibung vergangen. Deshalb hielt ich es für angebracht und notwendig, dass die Niedersächsische Landesregierung in einer geeigneten Weise - wie sie es auch bei anderen Opfern tut - öffentlichwirksam dieser Tatsache an Ort und Stelle in Mariental gedenkt. Dazu kam es leider nicht. Der Beauftragte der Niedersächsischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, der Landtagsabgeordnete Rudolf Götz, nahm aber die Anregung auf und setzte sich mit der Gemeinde Mariental in Verbindung. Sie erklärte sich in vollem Einverständnis bereit, 10 Jahre nach Aufstellung des Mahnmals im September 2007" eine dem Ereignis angemessene Gedenkveranstaltung durchzuführen. Am 3. Oktober fand im Beisein zahlreicher Gäste auf dem Platz beim Denkmal in Mariental-Horst diese Veranstaltung statt. Sie wurde mit einer musikalisch umrahmten Andacht durch Pfarrer Daniel Kolkmann. eingeleitet. Er sprach über Psalm 139 und verband mit dem Text in einfühlsamer Weise das Schicksal, die Not aber auch die Hoffnung der Vertriebenen zu allen Zeiten. Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser eröffnete der Marientaler Bürgermeister Kurt Bartsch die Veranstaltung und erinnerte mit einem Rückblick an die Lagerzeit. Die Hauptansprache hielt der Beauftragte der Niedersächsischen Landesregierung für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, der Landtagsabgeordnete Rudolf Götz. Er erinnerte an die Schrecken, die den Vertriebenen widerfahren sind, und an den Mut, mit dem sie den Neuanfang in Niedersachsen und anderswo gewagt haben. Dabei brachte er den Wunsch zum Ausdruck, das Thema Flucht und Vertreibung" verbindlich in die Lehrpläne der niedersächsischen Schulen aufzunehmen und dazu ein Zeitzeugenprogramm zu initiieren. Für mich war diese Veranstaltung am Tag der deutschen Einheit" Anlass genug, darauf hinzuweisen, dass die verlorenen deutschen Ostgebiete in der historischen Betrachtung nicht vergessen werden dürfen. Mit meinem Dank an die Gemeinde Mariental für das geschaffene Denkmal verband ich deutlich mein Unverständnis über die bis heute anhaltende Untätigkeit der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag bei der Realisierung des Zentrums gegen Vertreibungen" in der deutschen Hauptstadt Berlin. Dabei geht es darum, nicht nur künftigen, sondern auch der heutigen Generation die Dimension des Wahnsinns jeder Vertreibung auch deswegen aufzuzeigen, weil mit nicht endenden Kriegen immer noch Millionen von Menschen vertrieben werden, ohne dass ein Ende abzusehen ist. Als letzter Redner sprach der auch als Kind aus Schlesien vertriebene Samtgemeindeehrenbürgermeister Johannes Nitschke. Er wies auf die schwere Nachkriegszeit aber auch die von ihm betriebene Versöhnungsarbeit mit Polen hin. Er schloss seine Ansprache mit den Worten: Möge uns dieses Denkmal hier in Mariental ein Mahnmal sein für ein verlorenes Zuhause, das heute anderen zur Heimat geworden ist. Möge dieses Denkmal als Zeichen gesetzt sein für die nächsten Generationen - als Erinnerung an einen unmenschlichen Krieg - als Mahnmal gegen Gewalt - und als ein Symbol für den Frieden". Nach einer Kranzniederlegung - verbunden mit dem Lied Ich hatte einen Kameraden" - endete die beeindruckende Veranstaltung mit der gemeinsam gesungenen Nationalhymne. ¹ Die Unterlagen darüber befinden sich im Niedersächsischen Staatsarchiv Wolfenbüttel ² ISBN 3-00-001801-8, zu erhalten bei der Samtgemeinde Grasleben, Bahnhofstraße 4, 38 168 Grasleben 3 Braunschweiger Zeitung, 22.9.1997, Erinnerung an Durchgangslager für Flüchtlinge in Mariental. Helmstedter Blitz, 24.9.1997, Neues Denkmal wurde feierlich eingeweiht. HORST MILDE Landtagspräsident a.D. 3.Oktober 2007 Grußwort im Rahmen der Feierstunde zehn Jahre Denkmal für das Flüchtlings und Vertriebenenlager Mariental Vor zehn Jahren, am 23. September 1997, stand ich hier und durfte dieses Denkmal enthüllen. Heute - der Tag für diese Gedenkstunde ist nicht ohne Überlegung gewählt worden - wird der Tag der deutschen Einheit" gefeiert. In den Festreden der Regierenden werden die früheren deutschen Ostgebiete wieder einmal mit keinem Wort erwähnt werden. Dabei gäbe es Grund genug, des Verlorenen in Trauer zu gedenken. Wiedervereinigung" hätte im Sinne des Grundgesetzes von 1949 mehr sein müssen. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", so hieß es in der unbeachtet gebliebenen Präambel. Dessen eingedenk stehen wir hier an einem Platz, der in diesem Sinne zur deutschen Geschichte gehört. Er wird zu wenig zur Kenntnis genommen, weil das, was sich hier ereignet hat, von Anfang an vergessen werden sollte. Stattdessen erleben wir, dass die Wege deutscher Politiker an Gedenktagen mit Regelmäßigkeit zu Orten deutscher Schuld führen. Die Orte, die daran erinnern, was Deutschen angetan wurde, spielen keine nennenswerte Rolle. Um so mehr ist der Gemeinde Mariental zu danken, dass sie sich nicht nur über den herrschenden Zeitgeist hinweggesetzt und an dieser historischen Stelle dieses Denkmal errichtet hat. Hier kamen die Züge mit den Viehwaggons mit den ausgeplünderten, verängstigten und geschundenen Menschen an. Es waren die, die eine fürchterliche Zeit überlebt hatten und für die der 8. Mai 1945 kein Tag der Befreiung war. Sie waren bis zu ihrem Eintreffen hier in Mariental unfrei, sie hatten keine Rechte, sie waren vogelfrei, schlimmer noch wie es im Mittelalter gewesen sein muss. Wer dem widerspricht, der soll die Hasserfüllten, blutrünstigen Aufrufe von Ilja Ehrenburg lesen. Der soll die Dekrete und Texte der Plakate, die in den ostdeutschen Städten und Dörfern angeschlagen waren, lesen, mit denen das zum Himmel schreiende Unrecht der Sieger zum Recht erklärt wurde. Dieser Geschehnisse, die ein Stück deutscher Vergangenheit sind und die nur noch den Älteren unter uns im Gedächtnis haften, wollen wir heute gedenken. So werde ich die Gruppe von Frauen und Mädchen nicht vergessen, die hier im Lager beim ersten Anblick von Helferinnen des Deutschen Roten Kreuzes auf die Knie fielen und Gott dafür dankten, dass sie nun gerettet waren. Wer das nicht selbst erlebt hat, kann sich die Gefühle der befreiten Menschen nicht vorstellen. Die deutschen Heimatvertriebenen haben schon vor mehr als einem halben Jahrhundert in Stuttgart ihren Willen zur Versöhnung in eindeutiger Form öffentlich bekundet. Dieser Wille zur Versöhnung bedeutet aber nicht, dass die Vergangenheit ungeschehen ist und die Opfer vergessen sind. Die Gemeinde Marienthal hat dafür ihren hoch anzuerkennenden Beitrag geleistet. Neben dem Denkmal gilt das genauso für das auch für die Landesgeschichte wichtige Buch Das Flüchtlingslager Mariental (1945 - 1947) und die Vertriebenentransporte aus Schlesien (1946 - 1947)". Mit dem Denkmal und dem Buch hat die kleine Gemeinde alles, was ihre Kräfte hergaben, getan und damit eine vorbildliche Leistung vollbracht. Umso unverständlicher ist es, dass das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin, im Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen als sichtbares Zeichen" peinlich umschrieben immer noch nur auf dem Papier steht. Die bis heute anhaltende Untätigkeit ist nicht zu begreifen. Für einen Staat, der zu seiner Geschichte in ihrer Gesamtheit stehen will, ist dieses Verhalten beschämend und erbärmlich zugleich. Meiner eigenen Partei muss ich sagen, dass der in Kulm an der Weichsel geborene Kurt Schumacher noch deutlichere Worte finden würde. Wenn die deutsche Politik nach der Wiedererlangung der Souveränität sich zwar in der Lage sieht, sich an fremden Kriegen zu beteiligen und sich zugleich aus einem Teil der eigenen Geschichte versucht davon zu stehlen, fehlt mir jedes Verständnis für die anhaltende Verweigerungshaltung. Jede andere Nation würde der mahnenden Darstellung des Geschehenen einen Ehrenplatz in Mitten seiner Hauptstadt einräumen. Dabei muss bedacht werden, dass die im Osten Deutschlands verlorenen Gebiete: Nieder- und Oberschlesien - größer als Dänemark - , Ostpreußen und das Memelland - größer als die Niederlande -, Pommern - größer als Belgien -, Ostbrandenburg - dreimal so groß wie Luxemburg - und das Sudetenland - größer als Hessen mit dem Saarland - waren. Bis auf das Sudetenland waren das alles preußische Provinzen. Schon wegen diesem historischen Hintergrund sollten die Verantwortlichen - sollte es denn in absehbarer Zeit zu einer positiven Entscheidung kommen - den einzig angemessenen Ort für das Zentrum gegen Vertreibungen wählen: das zu errichtende Berliner Schloss. Nun geht es nicht darum, die heute zu Polen oder Tschechien gehörenden Gebiete wiederzuerlangen. Die Zeit ist darüber hinweg gegangen, Verträge sind geschlossen, und wir wollen in Frieden mit Russland, und in einem geeinten und aus Erfahrung hoffentlich gereiften Europa mit Polen und Tschechien, frei von jedem Chauvinismus leben. Es geht also allein darum, nicht nur künftigen, sondern auch den heutigen Generationen die Dimension des Wahnsinns jeder Vertreibung aufzuzeigen. Auch deswegen aufzuzeigen, weil in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und den bis in die Gegenwart nicht endenden Kriegen immer noch Millionen Menschen völkermörderisch vertrieben werden, ohne dass ein Ende abzusehen ist. In diesem Sinne gedenken wir der Opfer. Uns alle eint dabei die moralische Einsicht, dass Kriege und Vertreibungen keine Mittel der Politik mehr sein dürfen. Uns mahnen die Toten der Kriege, der Besatzungszeiten, der Deportationen und der Vertreibungen alles zu tun, damit dieses Bewusstsein Allgemeingut wird. Als einer, der dieses Lager hier erlebt hat, danke ich in diesem Sinne der Gemeinde Mariental für diese Gedenkveranstaltung. |
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