Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2008

Winterzeiten in Schlesien

von Elgin Loos, geb. Greulich

Die Einheimischen hierzulande im Südwesten Deutschlands erzählen davon, wie streng die Winterzeit in früheren Jahren gewesen sei. Jedoch ist dies wohl nicht mit unseren schlesischen Wintern zu vergleichen. Unser" Klima im schlesischen Osten war oder ist nämlich kontinental. Das bedeutet heiße und trockene Sommer und harte, lang andauernde Winter: sehr kalt und schneereich! Nicht umsonst gab es in den Zimmern schöne, große Kachelöfen, die wohlige Wärme verbreiteten. Und fast alle Häuser waren mit gut isolierenden Doppelfenstern ausgestattet, also mit doppeltem Rahmen (mit denen sich unsere heutigen, doppelt verglasten Fenster nicht vergleichen können). An den einfachen" Fenstern wuchsen wunderschöne Eisblumen, welche die Raumtemperatur absenkten und die Scheiben undurchsichtig machten. Meine Schwester Doris und ich kamen im Februar 1926 zur Welt. Eigentlich sollten wir in unserem evangelischen Gotteshaus Schifflein Christi" (erbaut von Carl Gotthard Langhans, der auch das Brandenburgische Tor schuf) getauft werden. Damals herrschte aber noch im März eine so strenge Kälte, dass Pastor Grabs auf Bitten unserer Eltern zu einer Haustaufe ins Elternhaus kam. Überliefert ist, dass diesem bitterkalten Winter ein glühend heißer Sommer folgte. Später bewunderten wir Kinder die feinen Batisthemdchen, die unsere Mutter aus diesem Sommer sorgsam aufbewahrt hatte, ein Beweis für die damalige Hitze. In den dreißiger Jahren hatten wir noch 2 Pferdegespanne. Wenn im Winter sehr hoher Schnee lag, fuhren diese nicht zum Langholzfahren in die Wälder, dann kam stattdessen der schöne Pferdeschlitten zum Einsatz, der das Jahr über in der Remise stand. Warme Decken und pelzgefütterte Fußsäcke wurden herbeigeschafft. Wir Kinder, mein älterer Bruder, meine Schwester und ich, wurden darin eingemummelt und bekamen sogar tönerne Wärmflaschen unter die Füße gestellt. Für den Kutscher wurde der knöchellange Kutscherpelz und eine Pelzmütze mit weit nach unten reichenden Ohrenklappen vom Boden geholt, damit auch er auf seinem Kutscherbock einen Kälteschutz hatte. Den Pferden wurden Stollen" unter die Hufe geschraubt, und auf den Rücken bekam jedes Pferd einen prächtigen Schellenbaum geschnallt mit kleinen, hell klingenden Glöckchen und langen, blau eingefärbten Pferdeschwänzen. Bei mäßiger Kälte und meist leichtem Schneetreiben konnte es dann los gehen, immer in Richtung Gurkau, vorbei an der Torstensonlinde (die es heute leider nicht mehr gibt) zu dahinter liegenden Dörfern wie z. B. Quilitz. Wie sehr genossen wir diese winterlichen Schlittenfahrten durch das verschneite Land beim Klingen der Glocken und leisem Schnauben der Pferde. Dies gehört mit zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Rast wurde nie gemacht, viel zu aufwändig wäre es gewesen, uns 3 Kinder aus der Verpackung zu schälen. Nach etwa 2 Stunden kehrten wir wieder zurück, und oft waren wir dann während des sanften Gleitens schon eingeschlafen. Mit dem Pferdeschlitten fuhr unsere komplette Familie im Winter auch zu Einladungen der Familien Neumann nach Rauschwitz und Jätschau, wo diese Brüder Ziegeleien besaßen. Fast immer war Schweineschlachten der Anlass für diese Einladungen, die wir gerne annahmen, denn die Neumanns hatten mehrere Kinder, mit denen wir draußen auf dem Hof spielen konnten. Eigentlich war das die damalige Art der Kundenwerbung! Sobald Schnee bei uns lag, konnten auch die Rodelschlitten, die aus Holz waren und mit Eisen beschlagene Kufen hatten, in Aktion treten. Dann waren wir stundenlang draußen in der frischen Luft unterwegs, fuhren sitzend, liegend oder bäuchlings die Berge hinunter. Gern hängten wir auch mehrere Schlitten aneinander und fuhren als Ankettler", wobei der vorderste Schlitten die Führung übernahm. Ein anderes winterliches Vergnügen war das Schlittschuhlaufen auf der alten Oder, auf zugefrorenen Teichen, am sichersten aber auf der Eisfläche des gefluteten Tennisplatzes am Soetbeer-Ring. Dort herrschte stets reger Betrieb, obwohl es Eintritt kostete. Unsere damaligen Schlittschuhe waren nicht - wie heute üblich - an Spezialschuhen befestigt. Wir mussten sie mittels einer kleinen Metallkurbel mühsamst an den eigenen hohen Schuhen befestigen. Diese Mechanik lockerte sich leider immer wieder einmal, so dass der Schlittschuh abging. Mit steif gefrorenen Fingern musste man dann versuchen, ihn wieder anzuschrauben. Oder man ging zu den dick vermummten Aufsehern", die am Rande der Eisfläche wachten und einem für ein paar Pfennige beim Befestigen halfen. In späteren Jahren während des Krieges, als wir schon Teenager waren, durften wir in den Weihnachtsferien ohne Eltern, aber mit 2 Freundinnen zusammen, per Bahn ins tief verschneite Isergebirge nach Bad Flinsberg fahren. Das war die Kinderheimat unserer Mutter. Unser Großvater war Zollbeamter und bewachte damals die nahe Grenze nach Böhmen. Gute Freunde von damals führten in Flinsberg ein großes, gediegenes Gasthaus, den Kretscham. Seit Jahren war dort unser Feriendomizil im Sommer, Herbst und Winter. Unsere Eltern wussten uns dort in guter Obhut, und wir kannten uns in der Umgebung gut aus. Oft waren wir dort mit den Eltern gewandert, zum Hasenstein", auf den Haumberg", zur Tafelfichte", nach Groß-Iser" oder auf die Heufuderbaude" (1107 m hoch), die einer Familie Kober gehörte. Lest diesen Namen mal rückwärts!" sagte unsere Mutter. Rebok", das prägte sich dem kindlichen Gedächtnis ein. Und nun in den Kriegswintern waren wir im Isergebirge mit unseren Schlitten unterwegs. Die Skier hatten wir längst für die kämpfenden Truppen an der Ostfront abgegeben. In Flinsberg gab es damals einen mit Pferden bespannten Lastschlitten", der von 2 Männern betreut wurde und die Verbindung nach Groß-Iser" und zu den hoch gelegenen Bauden gewährleistete. Von ihm ließen wir 4 Mädels uns auf etwa 800 m mit hoch fahren, um dann die lange Abfahrt ins Tal hinunter zu erleben. Das ersparte uns den mühsamen Aufstieg - es war gewissermaßen unser Schlittenlift". Eines Tages hatten wir die kühne Idee, von der Höhe aus weiter hinauf zur "Heufuderbaude" aufzusteigen. Der Schnee lag 50 - 60 cm hoch! Das erforderte bei jedem Schritt Kraft, und oft versanken wir auch in hüfthohem Schnee. Immer langsamer kamen wir voran, und immer öfter mussten wir stehen bleiben. Die Angst, womöglich stecken zu bleiben und im Schnee erfrieren zu müssen, stieg in uns hoch. Da nahten plötzlich 2 Schutzengel in Gestalt von kräftigen Männern, die als Kellner in der Heufuderbaude arbeiteten. Sie erkannten unsere missliche Lage und bahnten uns den Weg, indem sie uns Spuren traten, denen wir erleichtert folgten. Frohgemut traten wir nach einer längeren Rast in der Baude die Heimfahrt an. Viele Schlesier, die früher im Sudetengebiet gewandert sind, kennen die gemütlichen Bauden, die dem Wanderer mit einer besonders heimeligen Atmosphäre Schutz und Unterkunft bieten. Es sind schlichte Gasthäuser, oft in sehr einsamer Lage. Nur einige seien hier genannt: Schneekoppenbaude, Schlesierhaus, Hampelbaude, Mälzergrundbaude, Kleine Teichbaude, Schneegrubenbaude, Spindlerbaude, Davidsbaude usw.. Wie viele davon wird es wohl heute noch geben? Wohl kaum eine von ihnen wird noch in deutscher Hand sein, denn auch ihre Besitzer wurden vertrieben, wie wir anderen Schlesier auch. Viele, viele Jahre später - ich war längst erwachsen und mit meiner Familie im Auto Richtung Süden unterwegs - sollte die Erinnerung ans Heufuder" noch mal aufblitzen. In Ulm rasteten wir vor dem Münsterplatz, suchten nach einem Restaurant, um Mittag zu essen, was bald gefunden war. Gemütlich um den Tisch sitzend, fiel mein Blick auf ein Ölgemälde an der gegenüber liegenden Wand. Das ist doch die Heufuderbaude! Wie kommt dieses Bild hierher?" fragte ich den Kellner. Sie gehörte früher in Schlesien dem Chef, der dieses Restaurant hier führt. Das müsste dann Herr Kober sein , folgerte ich. Und er war es tatsächlich, kam an unseren Tisch und begrüßte uns freundlich. Dann erzählten wir eine Weile das, was sich Vertriebene, die sich begegnen, auszutauschen haben. Wie gern würde ich auch jetzt im Alter noch mal in unseren schlesischen Bergen unterwegs sein. Aber der Bayerische Wald, wo ich jedes Jahr einige Urlaubstage verbringe (der übrigens geologisch den gleichen Ursprung hat, wie unsere schlesischen Gebirge), tut es schließlich auch! Dort entdecke ich Moose, Gräser und Gesteine, die ich aus dem Isergebirge kenne, und freue mich darüber. Das stillt dann ein wenig die Sehnsucht nach unseren schlesischen Bergen.

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Januar 1943 – Bad Flinsberg 4 Teenager aus Glogau auf dem „Iserschlitten“