Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2008

Flucht aus Carolath

von Klaus Bierfreund

Brief meiner Mutter aus Augustusburg am 15.02.1945 an mich, von den letzten Tagen unseres Heimatortes Reinberg. (Abschrift vom Original) Da ich nun ein bisschen zur Ruhe gekommen bin, will ich Dir mal ausführlich schreiben, wie wir unsere Heimat verlassen mussten. Als am Sonntag, dem 21. Januar, der erste Treck Flüchtlinge aus dem Ort Schwetkau, Kreis Lissa durch unser Dorf kam, da war es uns unmöglich zu glauben, dass uns auch bald dasselbe Schicksal treffen sollte; unsre liebe Heimat, unser schönes Zuhause verlassen zu müssen. Voller Mitleid nahmen wir nachts Leute auf zum Schlafen, soviel wir nur unterbringen konnten. Ich habe immer nur Kaffee gekocht und die Küche warm gehalten, damit sich immer wieder neue Flüchtlinge aufwärmen konnten. Vater wurde Montag nach Neusalz zum Volkssturm eingezogen, bekam aber noch 2 Tage frei, um der vielen Menschen wegen da zu sein. Am Dienstag, dem 23. Januar, früh um 5 Uhr klopfte es: Tante Taube (unsere Nachbarin) kam mit den Worten herein gestürzt:  Ihr schlaft noch und um 6 Uhr soll das Dorf geräumt sein." Vater und ich waren erschüttert. Da wir keinem Wagen zugeteilt waren, zog Vater es vor, mich erst mal mit nach Neusalz zu nehmen. So packte ich in Eile ein Bett, einen Koffer mit den nötigsten Wäsche- und Kleidungsstücken und einen Koffer mit Lebensmitteln, alles auf einen Handschlitten gebunden und obendrauf mein Fahrrad, so zogen wir dann los. Vater am Schlitten vorgespannt, ich sein Fahrrad führend und Frau Kinscher (eine Bekannte) auch mit ihren letzten Sachen auf einem Schlitten. Frau Mertens (die Frau eines Feldmeisters) war auch in aller Eile mit den Kindern vom RAD abgeholt worden, und zwar sollten die Frauen in ein Lager nach Sagan. Vater und ich sind nach Neusalz zu Frau Minklei (einer Bekannten) gezogen und baten sie, uns erst mal aufzunehmen, was sie auch gerne tat. Dann bin ich mit Vater am Nachmittag noch einmal nach Reinberg gefahren, um noch etwas Wäsche von Hannchen und Tante Anna nach Neusalz zu holen. Es wurde schon dunkel, als wir zu Hause ankamen. Auf der Straße boten sich uns schon unschöne Bilder. In unserem schönen Zuhause wurde uns nun erst richtig klar, was es hieß, Alles verlassen zu müssen. Wir konnten und wollten es nicht fassen, dass die Lebensarbeit unserer Familie mit einem Schlag hin sein sollte. So zogen wir abends (unser altes Haus war mit Menschen überfüllt) um dreiviertel Acht mit einem Handwagen (darauf 2 Reisekörbe voller Wäsche) auf Neusalz zu. Als wir in Carolath auf der großen Brücke waren, fuhr ein Militärauto vorbei, bis zum  Jägerhof". Ein SS-Soldat und ein Volkssturmmann kamen auf uns zu und fragten, wo wir denn hin wollten? Vater sagte:  Wir wollen wenigstens noch Etwas retten. Da gab man uns zur Antwort:  Hier ist der hellste Wahnsinn getrieben worden". Aber sie werden wieder in ihr Häuschen zurück können, wir aber niemals in Unsere. Wir kamen nachts gegen 1 Uhr bei bitterer Kälte in Neusalz an. Vater ging um 5 Uhr in seine Unterkunft im Oderbrückengasthaus. Ich ruhte mich am Mittwoch etwas aus, um am Donnerstag mit einem Auto des Volkssturms noch einmal nach Reinberg zu fahren. Wir kamen auf der Straße kaum noch voran. Die Glätte machte auch den Pferden beim Vorwärtskommen schwer zu schaffen. Reinberg war leer. Das arme Vieh brüllte fürchterlich vor Hunger und Durst, und niemand versorgte es. Das Geflügel war meistens schon abgeschlachtet. Während der Fleischer vom Volkssturm die letzten 3 Schweine geschlachtet hat, habe ich das Vieh gefüttert und abgemolken. Die Kühe wurden von den Flüchtlingen getränkt. Wenn die Taube Tante noch einmal ihre Wirtschaft hätte sehen sollen, ihr wäre das Herz gebrochen. Die Türen waren überall aufgebrochen. Alles, was noch mitzunehmen war, wurde mitgenommen. Alle Kisten auf dem Boden (auch Deine Sachen) waren aufgebrochen und herausgewühlt worden. Nur anfangen konnte keiner etwas damit. So ging es wieder zurück nach Neusalz. Die Einwohner hatten die Stadt meistens schon verlassen. Vater musste seine Unterkunft bald wieder verlassen, da es für Soldaten freigemacht werden musste, und zog mit dem Büro des Volkssturms auf die  alte Fähre" um. Mir gelang es noch, mit dem letzten Zug für Mutter und Kind von Neusalz am 3.2. 1945 wegzukommen. Dieser Zug sollte die Flüchtlinge nach Thüringen bringen. Ich zog es aber vor, in Chemnitz auszusteigen, um zu Tante Anna nach Augustusburg zu fahren. Wegen der dauernden Fliegerangriffe war der Zug 3 Tage unterwegs. In Augustusburg durfte ich bis zum 1.Juni bleiben und habe auch den Russeneinmarsch miterlebt. Auch fand ich die ersten Bekannten wieder. Es war Frau Zimpel mit ihren Kindern. Laufend folgte die Aufforderung:  Schlesier, geht nach Hause, sonst verliert ihr eure Heimat." So ließen wir uns überreden. Einen Handwagen hatte ich erstanden, und darauf packten wir unsere paar Sachen und zogen los in Richtung Schlesien. Fast an der Neiße angekommen, hieß es zurück. Die Grenze war gesperrt. So ging es zurück nach Augustusburg. Wir waren vom 1.6. bis 1.7.1945 unterwegs. Bei Königsbrück nahmen uns russische Soldaten auch noch unsere letzte Habe ab. Ein uns wohl gesonnener russischer Offizier stellte uns noch einen Passierschein aus, der uns aber nichts mehr nützte. (Leider ist die Absenderin des Briefes nicht mehr feststellbar. Gerichtet war dieser Brief an die Inhaberin der Gastwirtschaft Lenchen Schütz). Neusalz, den 14. Juni 1947 Liebe Lenchen, Heute schreibe ich dir, ohne erst auf eine Antwort von Dir zu warten. Es hat seinen besonderen Grund. Du wirst Dich nun wundern, was da los ist. Um es kurz zu machen: Ich war in Carolath. Dieser Brief nun soll ein Bericht über meinen Ausflug nach C. sein. Lange schon hatte ich es mir vorgenommen. Da hatte aber der Eisgang die Brücke weggerissen, dann kam das furchtbare Hochwasser, und dann hieß es: Deutsche werden nicht über die Oder gesetzt. Nun hatten wir uns endlich auf Sonntag nach Pfingsten geeinigt. Ich muss hier bemerken, dass ich mit Herrn und Frau Schäfer gegangen bin. Die wollten doch der Martel Wenske schreiben, wie ihr Haus aussieht. In der Woche kamen einige von meinen Leuten, welche uns sagten, es darf kein Deutscher ohne Genehmigung den Wohnort verlassen. Da ich gerade zur neuen Anmeldung musste, las ich selbst den Anschlag, der zweisprachig war und für die Polen auch gemeint war. Es handelt sich darum, dass keiner seinen Wohnort wechseln darf ohne vorschriftsmäßige Ab- und Anmeldung. Nun lag also nichts mehr im Wege, und so ging es verabredungsgemäß am Sonntag-Morgen um halb neun Uhr Sommerzeit ab meiner Gärtnerei los. Es war ein strahlend schöner Sonntag, 24. Juni 1947, nur etwas heiß. Ich las am Thermometer 43° Grad. An der Oder wurden wir sofort übergesetzt, und die Polen freuten sich, etwas verdienen zu können. An einer Buhne am Oderbrückengarten landeten wir. Das Lokal ist geschlossen, der Garten ganz verwildert. In dem Försterhaus wohnt ein polnischer Förster. Die Straße nach Zollbrücken ist durch das Hochwasser sehr zerrissen, besonders eine Stelle, wo die Strömung immer so drüber geht. Zollbrücken sieht wie früher aus, nur ein kleines neueres Siedlungshaus hinter der Oberförsterei ist abgebrannt. Letztere und das Försterhaus sind noch genau so von polnischen Forstbeamten bewohnt. Nun ging es weiter nach Carolath (poln. Karolat). Unterwegs war nichts weiter. Die neuen Kreise haben die alten Grenzen, so dass jetzt auch Carolath zu Glogau gehört. Jetzt haben wir C. erreicht, und das Erste, was uns auffällt, ist das abgebrannte Wohnhaus von Koschel, wenn man rauf kommt links das erste Gehöft. An das Wohnhaus ist noch ein Stall angebaut, da ist nichts beschädigt, auch die anderen Gebäude sind erhalten. Dann war kein Gebäude kaputt, nur einige leer und unbewohnt. So auch das Haus von Petruschke, teils die Fenster weg. Das Wachtmeisterhaus ist tadellos sauber bewohnt. Schwesternhaus, Dominiumhaus und Oberförsterhaus tadellos in Ordnung - auch das Däumerthaus. Abgebrannt ist die Bäckerei Dittmann, Fleischer Heinze und, wenn man den Weg zum Kirchhof geht, das Haus an der rechten Seite. Ich lege noch einen Zettel bei von den Häusern, die verbrannt oder sonst wie zerstört sind. Das Tor zur Schlossgärtnerei war zu, die Gärtnerei in Betrieb, das Gärtnerhaus auch in Ordnung. Wir gingen nun zum Friedhof. Tor und Tür stehen offen. Gepflegt wird nichts. Ich war bei Deines Vaters Grab. Das ist noch wie sonst, aber eben ungepflegt. Auch bei Wenskes, Kolandas und Faustmanns Grab war ich. Zerstört ist nirgends etwas. In Woitschachs Grabstelle wachsen meterhohe Brennnesseln. Geöffnet ist die Gruft und alle Särge geöffnet. Wir waren unten, da das eiserne Tor aufgebrochen ist. Alles wahrscheinlich von den Russen. Der fürstliche Bauhof ist vollständig erhalten, auch große Holzstapel sah ich liegen, aber keine neuen. Die Schäferei steht, aber leer. Fiedlers Haus ist ganz ausgeplündert. Faustmanns und Engels Haus nach Lippen zu liegen so sauber da, als wären die alten Besitzer noch drin. Bei Haude auch alles in Ordnung und Dein Haus ist jetzt ein Privathaus geworden. Es hat einen schönen, mattgrünen Anstrich und ist bewohnt. Leider konnten wir nicht rein, aber das ganze Gehöft macht einen guten Eindruck. Dem Saal fehlten allerdings die Fenster. Ob sie nun bloß ausgehoben sind, konnte ich nicht feststellen. Der Zaun an der Straße ist weg, aber sonst alles sauber erhalten. Steins Gehöft ist auch in Ordnung, ebenso das kleine Haus, wo Ihr einmal gewohnt habt. Woitschachs Grundstück ist auch wie früher. Ob das Sägewerk in Gang ist, konnte ich nicht genau feststellen, das Tor stand offen und Wagenspuren gingen nach hinten. Im Wohnhaus hatte bis zum Sonntagabend die Miliz gewohnt die nun aber weg ist. Binners Haus ist ganz abgebrannt. Wenske Martel s Haus und wo wir gewohnt haben, ist auch gut sogar weiß gestrichen. Da soll irgendein Waldaufseher einziehen. Abgebrannt ist dann wieder das Wohnhaus von Otto Lange, das Gehöft; alle Ställe und Scheunen stehen. Jetzt gingen wir in die Weinpresse, das einzige Lokal, was in Betrieb ist. Wir wurden ganz freundlich bedient. Es gab dort ein gutes Glas Bier, den Kaffee hat man uns gar nicht berechnet. Nach einstündiger Mittagspause gingen wir weiter auf Entdeckung. Zunächst zur Adelheidshöhe. Dort fanden wir nur einen Steinhaufen. Der muss gesprengt worden sein. Eine von den Holzsäulen ist über des Fürsten Grab geschleudert worden und liegt quer davor. Das Grab ist z.T. von den Steinen zugeschüttet. Eine Beschädigung der Gräber habe ich nicht festgestellt. Es waren dort drei Stellen, die 2 großen Gräber sind unberührt, aber das Kindergrab scheint geöffnet zu sein, oder ist es nur irgendwie ein Loch? Das große Birkenkreuz steht noch. Wir sahen nach Beuthen hin, da grüßten die drei Türme friedlich herüber. Von Glogau sahen wir nur eine Spitze. Scheinbar sind die anderen Türme zerstört. Jetzt ging es zur Kirche. Erst besuchten wir das Mausoleum, das in der Ecke in Richtung Adelheidshöhe steht. Die eiserne Tür ist aufgebrochen, von allen Särgen sind die Deckel abgerissen. Niemand macht Ordnung, und dreißig Schritte neben dieser Leichenschändung halten die Polen Gottesdienst. Man hört von drinnen die Litaneien singen. Im Kirchgarten standen viele junge Leute, die wohl nachher auch noch Kirche hatten. Begafft wurden wir, aber nicht belästigt. Vom Kirchhof gingen wir auf die Schule zu. Wo Ostermanns ihren Laden hatten - alles geplündert und leer. Um Dominium, Schule und Apotheke rum ist alles in Ordnung, dagegen das Pastorhaus abgebrannt, und da es ein altes Fachwerkhaus war, ist fast nichts übrig geblieben. Die hohe Birke ist noch da, der Jägerhof ausgeplündert und leer. Das hohe Haus, wo Dr. Fischer und der Rentmeister wohnten, also neben dem Jägerhof, ist auch abgebrannt. Der Wasserturm ist auch zerstört, scheinbar durch Sprengung. Das Direktorhaus ist heil und bewohnt. Jetzt gingen wir den Weg zum Amtsgericht hinunter. Das Portalgebäude des Schlosses ist unversehrt. Das Tor war zu, sonst wären wir hinein gegangen. Wie ich hörte, sind die unteren Räume des Schlosses erhalten. Es soll ja ein Bibliothekar aus Warschau hier gewesen sein und die Bibliothek des Schlosses nach dort geleitet haben. Die Villa ist in Ordnung, ebenso das Gebäude, in dem früher der Amtsrichter gewohnt hat. Die Gärtnerei ist in Betrieb. Das Amtsgericht steht auch noch, ich glaube aber leer. Nun gingen wir auf dem Oderdamm weiter. Vom Schloss sieht man nur die ausgebrannten Giebelwände. An der Oder war großer Badebetrieb. Wir wanderten nun zur Költschbuschbrücke zu. Das Niederdorf steht unversehrt. Im Hegewald sah man auch ein ausgebranntes Gehöft. Am Koschelberg angelangt, begann unser Rückmarsch. Als wir in Neusalz an die Oder kamen, holte man uns sofort, nachdem wir gewinkt hatten, mit einem Kahn ab. Damit war offiziell die Tour beendet. Wir sind überall höflich begrüßt worden, und wer etwas deutsch sprach, redete uns auch meistens an, denn dass wir Deutsche waren, sah man uns ja gleich an der Nasenspitze an. Wir kamen dann noch an der Treskow-Villa vorbei, dort stehen nur noch die vier Wände und das Dach, Parkett-Fußboden, Treppen, Türen, Fenster - alles rausgerissen und als Feuerung nach Hause geschleppt. Herr Woitschach hätte auf Jahre noch in Carolath zu tun. Nun hoffe ich, dass Euch dieser kleine Bericht von Carolath Eure Frage: " Wie mag es dort aussehen?" beantwortet hat. Deutsche gibt es in Carolath nicht mehr!

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