Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2007

Die Räumung von Brostau

von Charlotte Stritzke

 

Vielleicht ist es für die Nachgeborenen von Interesse, wann und wie die Brostauer ihr Heimatdorf verlassen mussten.
Glogau war zur Festung erklärt worden, und Brostau grenzte an diese Stadt. Etwa Mitte Januar 1945 wurde den Einwohnern von Brostau durch den Ortsgruppenleiter Anders öffentlich mitgeteilt, dass Brostau zum Festungsbereich gehört und deshalb geräumt werden muss. Alle müssten den Ort zu gegebener Zeit verlassen. "Wer nicht geht, wird erschossen", waren seine Worte.
Schlesien war ja zum Luftschutzkeller Deutschlands geworden, und auch in Brostau befanden sich viele Evakuierte aus Köln, Berlin, Bremen ect. Es waren auch zwei Schulklassen mit ihren Lehrern in Brostau untergebracht. Eine Klasse war aus Berlin, die andere aus Köln. Jede Klasse bestand aus 40 bis 50 Schulkindern. Der größte Teil dieser Evakuierten und auch die Schulkinder, die nicht rechtzeitig von ihren Angehörigen abgeholt worden waren, mussten mit auf den Treck gehen.
Im Gemeindeamt Brostau wurden alle Bewohner Brostaus, einschließlich der Evakuierten und der Schulkinder, auf die vorhandenen Treckwagen verteilt. Für die Anzahl der Treckwagen waren die vorhandenen Pferde maßgebend. An Gepäck durfte jeder 20 bis höchstens 30 kg mitnehmen. Vor allem musste ja Futter für die Pferde geladen werden. Das hieß auch, dass nur sehr alte und kranke Leute auf den Wagen mitfahren durften. Alle Anderen durften nur ihr Gepäck aufladen und mussten zu Fuß gehen. Als Bestimmungsort für Brostau war ein Dorf im Kreis Sprottau genannt worden. Das bedeutete also etwa 2 Tagesmärsche. Wir alle glaubten fest, dass wir sofort nach Beendigung der Kampfhandlungen wieder nach Hause zurückkehren könnten.
Etwa ab 20. Januar 1945 kamen viele Treckwagen durch Brostau oder machten hier nach Überquerung der Oderbrücke ihren ersten Halt. Der Bürgermeister und viele Helfer waren Tag und Nacht auf den Beinen, um diese ersten Flüchtlinge zu betreuen. Dann wurde es auch für die Brostauer ernst. Am Sonnabend, den 27. Januar 1945, verließen nach einem Hornsignal fast alle Bewohner unter Leitung des Bürgermeisters Oskar Woith und des Ortsgruppenleiters Anton Anders das Dorf Brostau.
Wir, die im Oberdorf wohnten, hatten das Signal nicht gehört und merkten erst später, dass fast alle Häuser und Höfe verlassen waren. Die Freude, dass wir daheim bleiben können, währte nicht lange. Bereits in der Nacht wurden Häuser aufgebrochen, das bereitgestellte Flüchtlingsgepäck durchwühlt und vieles gestohlen. Herbert Stritzke, mein Vater, der Bereitschaftsdienst hatte, war in dieser Nacht noch einmal zu uns gekommen und beschützte uns. Er wusste aber, dass er das künftig nicht mehr tun kann, und veranlasste, dass sein Vater mit seinem Gespann mit uns Familienangehörigen und einem Schulkind aus Köln sowie mit zwei weiteren zurückgebliebenen Treckwagen am nächsten Morgen, Sonntag, 28.1.1945, Brostau verlassen haben. Es geschah bei eisiger Kälte und hohem Schnee. Wir fuhren in Richtung Nilbau bis Buchendamm und am nächsten Tag bis Dittersdorf Kreis Sprottau. Da unser Großvater an diesem Tag gestürzt war und sich am Bein verletzt hatte, suchten wir bei einem Arzt in Sprottau Hilfe für ihn. Der Arzt verordnete 10 Tage strenge Ruhe. Da wir den Kreis Sprottau erreicht hatten und bei einem Bauern in Dittersdorf Aufnahme fanden, blieben wir einige Tage dort und glaubten, dass wir rasch wieder nach Brostau zurückkehren könnten. Wir mussten aber zusammen mit den Einwohnern von Dittersdorf den Ort in großer Eile verlassen, denn am anderen Dorfende waren bereits die ersten Russen eingetroffen. Dann entdeckten wir - es war an einem Sonntag - einen Treckteil aus Brostau auf der Straße und schlossen uns den Brostauern an. Ortsgruppenleiter Anders soll sich bereits am 1. oder 2. Tag vom Treck getrennt haben.
Eine Zeit befanden wir uns im Kampfgebiet zwischen russischen und deutschen Einheiten, sind aber - es erschien wie ein Wunder - immer wieder heil durchgekommen. Als wir die Elbe in Riesa überquert hatten, begannen vereinzelt Tieffliegerangriffe. Zum Glück wurde von unserem Treck niemand getroffen. Unterwegs teilte sich der Treck aus mir nicht bekannten Gründen einige Male. Als unser Treckteil in Waldkirchen/Vogtl. eintraf, waren bereits einige Brostauer und Oderhorster dort. Das waren die, die mit Ortsgruppenleiter Anton Anders zuerst zusammen waren. Er hatte ihnen das eigentliche Ziel, nämlich Waldkirchen/Vogtl., bereits genannt. Wir anderen fuhren sozusagen "blind", erfuhren nur täglich den jeweiligen Zielort. Es waren große Strapazen für die Menschen und für die Pferde. Wir kamen aus dem Flachland und unsere Wagen hatten keine Bremsen. Zur Bewältigung des bergigen Geländes mussten wir uns Hemmschuhe besorgen oder mit großen Knüppeln bremsen. In Sachsen waren wir dann froh, wenn wir gegen unsere Lebensmittelkarten ein wenig Brot kaufen konnten. Auch das Futter für die Pferde war ein nicht leicht zu lösendes Problem.
Nun hofften wir, in Waldkirchen/Vogtl., erst einmal zur Ruhe zu kommen. Die Gemeindeverwaltung von Waldkirchen behielt aber nur den zuerst eingetroffenen Treckteil, der andere musste weiter. Diese Fahrt unter Leitung von Bürgermeister Oskar Woith führte bis nach Steinfeld Kreis Bamberg. Bei einigen Bauern in Steinfeld, aber auch in Massenquartieren wurden die Brostauer untergebracht. Viele der älteren Leute starben, weil die Strapazen zu groß waren. Auch einige Pferde starben nach den großen Anstrengungen an Erschöpfung.
So oder ähnlich ist es wohl allen Treckteilen ergangen.
Die in Waldkirchen/Vogtl. verbliebenen Brostauer wurden im Herbst 1945 wegen der so angespannten Ernährungslage im Vogtland nach Thüringen in den Raum Triptis, Niederpöllnitz weitergeleitet. Treckführer war hier Paul Seifert, ein Brostauer Antifaschist, der kurz vor der Räumung Brostaus aus dem KZ Groß Rosen (Rogoznica) zurückgekehrt war. Ein weiterer Treckteil - geführt von Franz Zanke - fand dann eine Bleibe in Unterleiterbach Kreis Bamberg.
Ein Treckteil hatte in Niesky kurz gerastet. Dort wurden vom Treck durch die Wehrmacht 28 Pferde eingezogen. Diese sollten durch den Volkssturm in die Festung Glogau zurückgebracht werden. Die Brostauer, deren Wagen nun ohne Pferde waren, wurden mit ihren Habseligkeiten auf Trecker verladen und in den Raum Münchberg/Ofr. gebracht.
Bei der Räumung von Brostau gab es im Dorf 11 ganz kleine Kinder. Zum Teil waren sie erst wenige Tage alt. Für sie und ihre Mütter wurden Kutschen aus Beständen der Besitzer bereitgestellt. Einige dieser Säuglinge haben die Flucht nicht überlebt. Ein Teil der Brostauer und auch der Evakuierten hatte Glogau mit der Bahn verlassen können. Sie kamen zum Teil in den Großraum Hannover, nach Hildesheim, Raum Bielefeld, Essen etc.
So wurden die Brostauer buchstäblich in alle Winde verstreut. Wir hatten Brostau bei großer Kälte, viel Schnee und eisigen Straßen verlassen müssen. Wir lebten von gefrorenem Brot und von kleinen Vorräten, die wir mitgenommen hatten, übernachteten auf unseren Treckwagen oder in einem Massenlager. Tagsüber waren wir durch die Anstrengungen der weiten, unfreiwilligen Wanderung voll gefordert, aber nachts kamen die Ängste und Sorgen um die Angehörigen auf, die durch das Kriegsgeschehen nicht bei uns sein konnten.
Es waren schwere Wochen und Monate, bis wir unsere Reise ins Ungewisse beenden konnten. Es dauerte lange, bis wir wieder eine Bleibe fanden, bis wir uns mit viel Fleiß und Mühe eine Existenz aufbauten und bis die Familien sich so nach und nach wiederfinden konnten.
Einige, die sich zu alt oder krank fühlten, oder die, die sich nicht trennen konnten und auf die Humanität der russischen Soldaten hofften, waren heimlich in Brostau zurückgeblieben. Sie haben unendlich viel Schweres durchgemacht. Es gab Vergewaltigungen und Misshandlungen. Einige Zivilisten wurden erschossen.
Einige, die diese Drangsal nicht mehr ertragen konnten, sind freiwillig aus dem Leben geschieden. Es dürfte nie wieder einen Krieg geben.
Dem Krieg und den Wirren danach fielen auch sehr viele Brostauer zum Opfer. Sie sollen nicht vergessen sein. Ich habe mich bemüht, die Namen all der Frauen und Männer festzuhalten, und habe die Nachforschungen 1996 abgeschlossen. Ich habe eine EHRENLISTE für diese Opfer vom Krieg und seinen Folgen angefertigt. Sie hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit und enthält 90 Namen ehemaliger Brostauer. Hinter jedem Namen steht ein Schicksal. Neben Ehrfurcht und Trauer soll diese Liste auch ein Mahnmal für Frieden sein.

 

 

Wir Brostauer wurden zwar in alle Winde verstreut, aber wir haben uns nie ganz aus den Augen verloren. Zuerst waren wir alle bemüht, uns wieder ein Heim zu schaffen und eine Existenz zu finden; aber dann haben wir wieder Kontakte zu unseren lieben Brostauern gesucht.
Leider trafen wir uns meistens bei der Beerdigung einer lieben Brostauerin oder eines Brostauers. Dann aber fassten wir den Entschluss, dass wir uns nicht nur bei einem traurigen Anlass wiedersehen sollten, sondern dass wir uns in gewissen Abständen regelmäßig treffen wollen.
Von 1983 bis 1995 haben wir uns alle 2 Jahre in Staffelstein/Ofr. getroffen. Diese Treffen begannen immer am Freitag Mittag und endeten am Sonntag Nachmittag. In den Jahren ohne Treffen wurde jeweils eine Busreise in die alte Heimat unternommen. Diese Fahrten in unser liebes Brostau, nach Glogau und Schlesien weckten stets Freude und Wehmut zugleich.
Die Treffen in Staffelstein waren jedesmal ein großes Erlebnis. Die Teilnehmerzahlen betrugen zwischen 84 und 145 Personen. Wir waren zwar älter, aber uns nicht fremd geworden. Überwältigend war die große Herzlichkeit, die Wiedersehensfreude. Man spürte, wie eng verbunden noch heute die ehemaligen Brostauer sind, was ihnen die gemeinsam verlebte Kindheit und Jugendzeit bedeutet. Quer aus dem Bundesgebiet, vom Bodensee, aus Düsseldorf, Duisburg, Berlin etc. reisten die ehemaligen Brostauer an. Es kamen die Rentner aus der ehemaligen DDR, nach der Wiedervereinigung dann ehemalige Brostauer und Beichauer aus den neuen Bundesländern. Sogar aus den USA war Herbert Tietz einige Male gekommen. So trafen sich über einen langen Zeitraum die Brostauer und Beichauer in der Adam-Riese-Stadt Staffelstein. Wir wurden von der Stadt sehr freundlich aufgenommen und haben uns immer wohl gefühlt.
Seit 1996 haben wir uns jedes Jahr einmal, allerdings dann nur immer an einem Tag in Staffelstein getroffen. Ab 1998 bis 2003 wurde auch jährlich eine Busreise in die alte Heimat durchgeführt. Eine kleine Gruppe von Brostauern nahm an den Bundestreffen des Glogauer Heimatbundes teil und besuchte auch die Treffen der Bezirksgruppe Franken des Glogauer Heimatbundes im Mai in Lichtenfels und im Oktober in Forchheim.
Zum Glogauer Heimatbund in Hannover und zur Bezirksgruppe Franken werden gute Kontakte gepflegt. Leider werden wir alle älter und nicht gesünder. Die Vorbereitung und Durchführung so umfangreicher Treffen, wie wir sie hatten, erfordern vollen Einsatz, und den kann ich leider nicht mehr leisten. Meine Gesundheit hat sich rapide verschlechtert. Ich bitte herzlich und dringend, dass sich jemand findet, der meine Bemühungen um den Zusammenhalt der Brostauer fortführt. Unsere Gruppe ist zwar kleiner geworden, aber die Herzlichkeit und Wiedersehensfreude sind geblieben und sollten doch erhalten bleiben. Zu unterstützender Hilfe bin ich gerne bereit.
Allen, die mir bei der Vorbereitung und Durchführung unserer Brostauer-Treffen so hilfreich zur Seite standen, will ich an dieser Stelle von Herzen Dank sagen. Es sind viele Namen, in besonderer Weise denke ich dabei aber an Helmut Zanke, der leider am 12. September 1994 verstorben ist.
Unser Einsatz gilt unserem unvergessenen Heimatdorf Brostau und den Brostauern.

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