Dem Schlesier ist von alters her die Liebe zum Gesange eigen. Nichts in der wechselvollen Geschichte hat ihm die Sangeslust und -freude rauben können. Die großen Feste im Jahreslaufe des schlesischen Volkes
"Ostern, Pfingsten, Weihnachten, heil'ge Kirmst und Schweineschlachten"
und die Familienfeste - Hochzeit und Kindtaufe - waren von jeher ohne den Gesang undenkbar. Auch andere Anlässe vermochten einst Kinder wie Erwachsene auf die "Beene" zu bringen. Erst nach der Jahrhundertwende kam mancher alter Volksbrauch, manches Volkslied in Vergessenheit. Den Umzug des Stroh- und Erbsenbäres kennt man nur noch vom Hörensagen. Der Schimmelreiter, der zuweilen den Erbsenbär begleitete, ist uns noch eher erinnerlich.
Noch im vorigen Jahrhundert - und hier und dort in den Dörfern des Glogauer Landes auch noch während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts - nahmen die Dorfbewohner daran regen Anteil, wenn der große Kampf in der Natur ausgefochten wurde, wenn Winter und Sommer um die Herrschaft stritten. Für unsere bäuerlichen Vorfahren bedeutete der Frühling, die höher steigende Sonne, weit mehr als für uns, die wir die Segnungen der Zivilisation mit elektrischem Strom, mit Ölheizung, mit allen Vorzügen unseres Zeitalters kennenlernten.
Für sie war der Winter noch ein harter Gast. Alle Bewohner der Dörfer harrten daher mit großem Verlangen des Frühlings. Mit unendlicher Freude wurde deshalb auch die Wiederkehr der Vögel begrüßt. Mit Singsang und Jubel wurde das erste Veilchen auf der Wiese umtanzt.
Ein uralter Frühlingsbrauch, der weit in die Vergangenheit unseres Volkes - wohl noch bis in die vorchristliche Zeit - hineinreicht, ist das Todaustreiben, das am vierten Fastensonntage - am Sonntag Lätare - begangen und vom Volke auch "Sommersingen" genannt wurde. Auch im Glogauer Lande hat sich dieser Brauch bis in die Zeit kurz vor der Vertreibung aus der Heimat erhalten. In Schrepau zum Beispiel fertigten die Knaben am Vorabend vor dem Sonntag Lätare eine Strohpuppe an, der sie die Gestalt eines Mannes gaben, welche den Totengott darstellen sollte. Dieser Popanz wurde an einer langen Stange befestigt und unter Gejohle und Gelärme die Dorfstraße entlanggetragen. Dabei sangen die Schrepauer Jungen:
"Der Leiske-Tod,
der frißt mein Brot,
den Käse läßt er liegen,
die Butter läßt er fliegen.
Der Leiske-Tod, der Leiske-Tod,
den schlag' ich tot."
Die Jungen zogen bis zur Brücke, welche über den Schwarzgraben führte. Dort wurde die Strohpuppe angezündet und in den Schwarzgraben geworfen.
In anderen Ortschaften des Kreises wurde die Strohpuppe - der "Tod" - bis an die Grenze des Dorfes getragen und dabei gesungen:
"Was haben wir? Was tragen wir?
Den alten Tod begraben wir!"
An der Dorfgrenze angekommen, ward der "Tod" auf die Feldmark des Nachbardorfes geworfen. War dies geschehen, dann liefen die Jungen - und sie konnten rennen, das wisst ihr doch noch alle, liebe Leser? - ins Dorf zurück. Jeder war bestrebt, nicht der letzte zu sein, der im Dorfe anlangte. Der letzte nämlich bekam den "Tod". Er wurde von anderen verlacht und verhöhnt.
Manchmal gab es sogar regelrechte Kämpfe zwischen den Jungen zweier Dörfer. Man fürchtete nämlich, die Strohpuppe - der "Tod" - bringe Unheil und Verderbnis, wenn er von den Jungen des Nachbardorfes auf die eigene Dorfflur geworfen wurde. Man versuchte also, das Hinüberwerfen der Strohpuppe zu verhindern; die Schuljungen bewachten deshalb die Grenzen der Dorffluren. Oft kam es dabei zwischen den Knaben verschiedener Dörfer zu argen Schlägereien.
War nun der Tod "ausgetrieben", so gingen die Jungen in das nächste Gebüsch, in den nächsten Wald, um einen "Sommerbaum", ein kleines Fichten- oder Kiefernbäumchen, abzuschneiden, das sodann geschmückt und geputzt wurde, mit aneinandergereihten Strohröhrchen mit bunten Papierblumen, mit farbigen Stoffrestchen.
Am frühen Morgen des Sommersonntages, des Sonntags Lätare, zogen die "Sommerkinder" von Haus zu Haus und sangen ihre Sommerlieder". Da erklang es:
"Den Tod, den haben wir ausgetrieben,
den lieben Sommer bringen wir wieder,
den Sommer und den Maien,
der Blümlein mancherleien."
Oder auch das andere Sommerlied war zu hören:
"Ich bin ein kleiner König,
gebt mit nicht zu wenig;
lasst mich nicht so lange stehn,
ich muss noch ein Häusel weitergehn."
Nicht selten sang man auch:
"Ich steh' auf einem Stein,
mich friert ins Bein,
gebt mir ein Gackel,
dass ich kann weiterwackeln."
Dem Hausherrn - und auch seiner Frau -schmeichelte man, indem die Kinder das Lied anstimmten:
"Rote Rosen, rote Rosen,
blühen auf dem Stengel;
der Herr ist schön,
der Herr ist schön,
die Frau ist wie ein Engel."
Dem immer freundlichen Hausherrn gilt das Verslein:
"Der Herr, der hat 'nen hohen Hutt,
er ist den jungen Madeln gutt.
Er wird sich wohl bedenken
und wird uns wohl was schenken?"
Und die Frau des Hauses - an die "Frau Wirtin" - wandten sich die Sommerkinder mit dem Liede:
"Rot Gewand! Rot Gewand!
Schöne grüne Linden
suchen wir, suchen wir,
wo wir etwas finden.
Wir gehn in einen grünen Wald,
da singen die Vöglein jung und alt.
Frau Wirtin, sind Sie drinnen?
Sind Sie drin, so komm'n Sie raus
und teilen Sie uns 'ne Gabe aus!"
Die "Sommerkinder" erhielten von den Hausherren und "Frau Wirtinnen" Schaumbrezeln und Pfeffernüsse, Eier und auch Kupfermünzen. Das Singen dauerte vom frühen Morgen bis zum Mittag; nur während des Gottesdienstes herrschte Ruhe. Die Kinder ließen bei ihrem Rundgang kein Bauerngehöft aus. In Eile zogen sie von einem zum anderen. Immer neue Scharen singender Kinder näherten sich den Bauerngehöften. Freilich, manchmal artete das "Sommersingen" in gewöhnliche und lästige Bettelei aus. Aus entfernteren Dörfern kamen ganze Horden von Sommerkindern. Der alte Brauch wurde deshalb - offiziell - polizeilich verboten. Und trotzdem war er nicht zum Absterben zu bewegen. Immer wieder zogen am "Summersunntich" singende Kinder durch die Dörfer und die Polizeigewaltigen mussten wohl oder übel ein Auge oder gar beide Augen zudrücken und die Gaben heischenden Sänger in Frieden ziehen lassen.
Solange sich das "Sommersingen" auf die Kinder des Ortes beschränkte, gaben Bauern und Bäuerinnen auch gerne ihre Sommersonntagsgaben. Freilich, Geizhälse hat es auch in Schlesien - auch im Glogauer Lande - zu allen Zeiten gegeben. Die, welche ihre Hand zu fest auf den Beutel hielten, mussten sich dann auch wohl oder übel den Spottvers anhören:
"Hühnermist, Taubenmist,
in dem Hause kriegt man nischt!
Ist das nicht 'ne Schande
in dem großen Lande?"
Die Kinder trugen bei ihrem Umgange durchs Dorf ihre geputzten und geschmückten "Sommerkinderbäume" mit sich, die sie hier und dort zurückließen und die von den Landwirten über der Türe des Kuhstalles befestigt wurden, weil man meinte, dass das Vieh dann gesund bleibe, dass die Kühe viel und gute Milch gäben und dass Gesundheit und Wohlstand auf einem solchen Bauerhofe regierten.
|