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Jahreswechsel 2004/05. Die Glocken werden in dieser Neujahrsnacht klingen wie eh und je und doch so ganz anders - für uns nämlich, die wir bei ihrem Läuten die Zähne zusammenbeißen und mit Gefühlen, die sich kaum schildern lassen, an das letzte Neujahr in der Heimat denken. Sechzig Jahre ist es nun her, seit die meisten von uns mit schwerem Herzen durch ihre Wohnungen wandelten und sich fragten, wie lange noch? Nur Wochen noch, und die Tage jähren sich zum sechzigsten Male, in denen wir mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Bündel unterm Arm losziehen mussten, alles andere aber liegen blieb, was in jahrzehntelanger Arbeit vorangebracht worden war. Und nun sollen wir vor den Heimatfreunden die Bilder jener Zeit vor Augen rücken, die das Zurückgelassene auch noch in Trümmer, in Schutt und Asche legte. Es fällt uns verdammt sauer, das zu tun, Heimatliebe und Heimatsehnsucht werden auch nicht dadurch gestärkt und gestillt, dass wir auf Ruinen schauen, sondern dadurch, dass wir immer wieder die Heimat vor Augen stellen, in der wir glücklich lebten, an deren Wohle wir selbst mitgearbeitet haben. Eine Heimat, von der wir hoffen, dass sie einst wieder ersteht und in der unsere Nachkommen sich als Erben einer schweren, aber hohen Aufgabe betrachten.
Der Druckfehlerteufel hat schwer versagt
Vor uns liegt eine Nummer einer Glogauer Zeitung - nicht etwa des Niederschlesischen Anzeigers oder der Neuen Niederschlesischen Zeitung. Sie trägt den Kopf: "Niederschlesischer Anzeiger, Neue Niederschlesische Zeitung, Sprottauer Wochenblatt, und ist datiert vom 1. März 1934. Damit kündete sich der Untergang der heimatlichen Presse und - noch ungeahnt von den Glogauern in Stadt und Land - der Untergang unserer Heimat an. Eine vierspaltige Balkenüberschrift "trommelte": Auf der Wacht im Osten! In Treue zum Führer - mit der Heimat verwurzelt - das Blatt der Familie - Die "Alte" und die "Neue": die bodenständige Zeitung Nordniederschlesiens und der Grenzmark".
Die "Bodenständigkeit" lief aus in die nationalsozialistische Nordschlesische Tageszeitung, die nach kurzer Zeit die beiden
w i r k l i c h bodenständigen Heimatzeitungen, die seit über 75 und 100 Jahren mit Boden und Bürgern verwurzelt waren, aufgefressen hatte. In jener Nummer vom 1. März 1934 findet sich der lapidare Satz:
"Unter der Regierung Adolf Hitlers darf unsere Heimatstadt Glogau einer neuen für Ihre Entwicklung f r u c h t b a r e n Zelt entgegensehen."
Der sonst stets bereite Druckfehlerteufel hat in diesem Satz schwer versagt! Er hätte statt des Wortes fruchtbar das Wort f u r c h t b a r setzen sollen, und er hätte eine Wahrheit verkündet, die von grausamer Prophetie erfüllt war!
Januarabend 1945
Längst ist das Abendrot hinten am Horizont verglüht, eine klare Nacht kündet sich an. Sonst ist der Markt an seiner Südseite um diese Zeit lebhaft bewegt, die Geschäfte sind geschlossen und der abendliche Bummel führt vor allem die Jugend auf und ab, die sich von der Arbeit in den Büros und hinter den Ladentischen hier erholt. Schon seit Wochen ist diese Stimmung verschwunden, der Markt liegt so gut wie verlassen, nur einzelne Menschen, die ihrem Heim zustreben. Es liegt wie ein dumpfer und stumpfer Druck auf allen, das Vorgefühl von etwas Dunklem, Drohendem, das man wie mit unwiderstehlicher Gewalt herannahen fühlt und gegen das man machtlos ist. Auch ich bin einer von den einzelnen, die sich auf dem Markt und durch die Preußische Straße dahinbewegen, nach der Hohenzollernstraße und nach der Brostauer Straße. Da dröhnt eine Stimme durch die abendliche Stille; ganz im "berühmten" Stil: "Achtung! Achtung! In kurzer Zeit wird aus der Kreisleitung an die Einwohner Glogaus eine wichtige Mitteilung durchgegeben!" Hm, ehe ich daheim hin und den Funk einschalte, ist die wichtige Mitteilung versäumt. Also betrete ich den Vorraum des Lichtspieltheaters "Schauburg" an der Hobenzollernstraße, um dort abzuwarten, was die "oberste Instanz" Glogaus zu verkünden haben wird. Ein Blick in den Zuschauerraum des Theaters: schwach besetzt. Wer hat auch Lust, sich jetzt an bunten oder vielmehr grauen Bildern zu zerstreuen? Es dauert ziemlich lange, ehe draußen die Stimme wieder ertönt:
"Einwohner Glogaus! An die Frauen ergeht die Aufforderung, sich (zu der und der Zeit) auf dem Bahnhof in Glogau einzufinden, um mit ihren Kindern nach Westen transportiert zu werden. Da die Fahrt in offenen Wagen durchgeführt werden muss, wird geraten, sich ausreichend mit warmen Decken zu versehen!"
Also Abtransport der Frauen und Kinder vor den anrückenden Russen! Abtransport in offenen Wagen! Unbestimmt wohin und unbestimmt wie lange die Fahrt! Das furchtbare dieser Zeit vor sechzig Jahren begann nun in der Heimat.
Trecks nach Trecks!
Sind jene Bilder aus dem Gedächtnis entschwunden, die uns die langen Trecks durch Wochen boten? Jene Züge mit Bauernwagen, beladen mit ein paar Möbelstücken, mit Betten, in die Kinder gehüllt waren? Oder jene armseligen Handwagen mit ebenso armseligem Hausgerät, von alten Frauen und Männern gezogen, neben denen Kinder trippelten, oft genug gefrorene Tränen im Gesicht? Fast endlose Züge, einer dem andern folgend, vom Domsteinweg her über die Hindenburgbrücke, vorüber am Kreishaus, die Brostauer Straße entlang. Die Sonne begleitete diese Wanderer auf ihrem Wege, aber sie wärmte nicht. Unter ihren Strahlen schmolz das Eis nicht, das die Straße deckte, und auf dem die Hufe der Pferde und die Füße der Menschen ausglitten. Sollen wir die Bilder ausmalen von denen, die am Wege liegen blieben, die der nächtliche Kältetod vor einem ungewissen Schicksal bewahrte? Nein, nein, es wird noch Bilder aus der Heimat und ihrem Los geben, aber wir wollen es nicht mehr ausdehnen, als chronistische Pflicht gebietet.
Gerüchte - Hoffnungen -Enttäuschungen
Wochen vergingen, Monate glitten dahin, der Frühling, der Sommer 1945 zog ins Land, das besetzt war von fremden Truppen. Da tauchten Gerüchte auf, kein Mensch wusste, woher sie kamen, sie waren einfach da: Wir haben Aussicht, wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Die Hoffenden sprachen hier und dort vor, wann und wie die Rückkehr erfolgen würde, die Anschläge wurden mit den Augen verschlungen, die Passierscheine in Aussicht stellten. Es gab genug, die sich einfach auf den Weg machten, dem Gerücht vertrauend und dem Glück. Es hat auch Vertriebene gegeben, die die Heimat wiedersahen, nur wie lange, dann trieb sie der Pole wieder hinaus. Dem ersten Abschiedsschmerz folgte ein zweiter, noch bitterer. Aus der engen "Freundschaft" der Gegner Deutschlands wurde nahezu Feindschaft, ein eiserner Vorhang senkte sich über die weltpolitische Bühne, es gab eine neue Form des Krieges, bisher unbekannt, wohl noch nie dagewesen - man nannte sie "Kalter Krieg". Es gab Konferenzen, diplomatische Noten in Mengen. Und wir harren, harren, wie lange noch?! Ungewiss ist, wie immer im Leben, was am Ende des Jahres stehen wird, das jetzt seinen Einzug zu halten hat. Aber trotz des Ungewissen heißt es, Zuversicht, Vertrauen zu haben, dass uns doch unser Recht auf die Heimat wird. Dem Verlust des Krieges und unserem Verlust der Heimat folgten auf Feindesseite Pläne des Morgenthau, die vollends Vernichtung bringen sollten. Wo sind sie geblieben?! Aus dieser Frage erwächst unsere Zuversicht!
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