Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2005

Gedanken 60 Jahre danach

Es war in den Tagen nach Weihnachten 1944, als uns Kindern im Haus Holzweberstr. 73 in Glogau ganz massiv deutlich wurde, was "flüchten" heißt und was es bedeutet. Bisher kannten wir es nur vom Erzählen unserer Eltern und anderer Erwachsener.

An einem Nachmittag wurde plötzlich das Hoftor zu dem großen Hof des Mietshauses geöffnet und herein fuhren etliche große Pferdewagen, voll beladen mit Hausrat, vermummten Menschen - es waren 20 Grad minus - und Verpflegung für Menschen und Tiere. Jeder war froh, dass es einen Halt gab, ein Ausruhen und einen warmen Raum und wärmendes Essen und Trinken. Fassungslos sahen wir die durchgefrorenen, müden Menschen, Alte und Junge ins Haus gehen. Jede Familie in unserem Haus nahm bereitwillig die durchgefrorenen Menschen auf.

Schnell stellte unser Vater den noch geschmückten Weihnachtsbaum auf den Balkon, und es wurde ein provisorisches Lager für die Familie hergerichtet. Dann gab es etwas Heißes zu trinken und eine warme Mahlzeit. Nach zwei Tagen zog der Treck weiter, ins Ungewisse. Inzwischen waren noch mehrere Trecks an unserem Haus vorbeigezogen.

Nun waren auch wir Glogauer an der Reihe. Die Dorfbewohner aus dem Kreisgebiet waren schon unterwegs mit Pferden, Kühen, vollbepackten Ackerwagen. In der Ferne war schon Geschützlärm zu hören. Auf dem Bahnhof drängten sich die Menschen und versuchten noch in einem der wenigen, noch abfahrenden Züge, einen Platz zu finden. Die Organisation von einem planmäßigen Abtransport der Bewohner brach, soweit sie überhaupt noch funktionierte, vollständig zusammen. Niemand konnte eine richtige Auskunft geben. In diesem Chaos hieß es Abschied nehmen von geliebten Dingen, im Stillen hoffend, bald wieder zurückkehren zu können. Keiner ahnte, dass es ein Abschied für immer sein würde. Eine Fahrt voller Strapazen und Entbehrungen begann. Wo und wann würde sie ein Ende haben? Viele haben diese Fahrt nicht überlebt, aus Kummer und Gram, Hunger und Kälte.

Alle die irgend ein Ziel erreicht hatten, mussten neu anfangen. Es war nicht immer leicht, denn es gab viel Ablehnung, Nichtbeachtung und Diskriminierung für die aus dem Osten.

All diese Erlebnisse, so traurig, erschreckend, ja grausam sie oft auch waren, sind im Laufe der Zeit etwas verblasst, denn das Leben musste ja weitergehen, und wir durften uns nicht unterkriegen lassen. Aber vergessen haben wir es nicht.

Wenn sich jetzt Ende Januar, Anfang Februar, diese Ereignisse zum 60. Male jähren, werden all diese Erlebnisse in unseren Gedanken wieder an uns vorüberziehen, und wir werden sie wieder erleben. Mit unseren Gedanken werden wir wieder bei dem sein, was wir zurücklassen mussten, bei unseren Lieben, die wir dadurch oder durch den sinnlosen Krieg verloren haben.

Trotz allem hängt unser Herz an unserem geliebten Glogau, an Schlesien, an unserer Heimat.

KHW.

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