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Wer meinen Bericht "Heimwärts nach Glogau - im Mai 1945" im NGA 7/04 bis zuende durchgelesen hat, konnte erfahren, wie Albert Hoffmann und ich uns von den Polen in Borkau nach Vorbrücken (Priedemost) abgesetzt hatten.
Die dortige deutsche Kolonie unter russischem Kommando bestand aus Leuten, die nach der Kapitulation von Glogau dahin verbracht wurden, aus Rückkehrern der umliegenden Orte, aus solchen, die auf dem Rückweg vom Osten in ihre westliche Heimat vorübergehend hängen geblieben waren und natürlich auch aus "echten" Priedemostern, von denen die meisten in ihren eigenen Anwesen wohnten. Ich weiß nicht, wie viele wir insgesamt waren, es gab ja laufend Veränderungen. So traf etwa 1 Woche nach mir mein Vater, von Spindlermühle via Agnetendorf kommend, bei uns ein. Einige Zeit später erschien zur großen Freude seiner Mutter, die die Belagerung der Stadt überlebt hatte, auch Helmut Seipold aus Schwarztal, nachdem er von den Amerikanern aus kurzer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war.
Eine deutliche Reduzierung erfolgte mit der ersten Vertreibungsaktion durch die Polen Ende Juni 1945, die sich am Sonntag, d. 24. Juni, ankündigte. Mein Vater und ich waren an diesem freien Tag in Glogau zu Besuch bei meiner Tante, Vaters Schwester, einer Rückkehrerin, und ihrem Mann Richard Walter, der die Stadt als Volkssturmmann mit zu verteidigen half. Sie bewohnten nun ein kleines Zimmer in der Hindenburg-Kaserne, der Onkel war bei den Polen in der Küche beschäftigt. Als wir uns am Nachmittag auf dem Heimweg befanden, überholte uns zwischen Zarkau und Urstetten ein großer Trupp polnischer Milizionäre auf Fahrrädern. Uns beschlich ein mulmiges Gefühl, ohne zu ahnen, was das zu bedeuten hatte. Die Aufklärung folgte bald nach unserer Ankunft: Es handelte sich um das "Vertreibungskommando".
Offensichtlich gab es Absprachen mit den Russen, die einen Teil der Deutschen als unverzichtbare Arbeitskräfte für sich beanspruchten. Dazu gehörten u.a. mein Vater und Frau Seipold. Für die anderen hieß es am nächsten Morgen: Ab nach Westen! - Wie die Prozedur ablief, habe ich nicht mitgekriegt, denn ich hielt mich die ganze Nacht mit Helmut in einer bis oben mit Stroh gefüllten Scheune verborgen und tauchte erst wieder auf, nachdem der Spuk vorüber war. Ob es klug war zu bleiben, sei dahingestellt - wer konnte sich damals auch schon ernsthaft vorstellen, dass die Vertreibung von langer Dauer, gar für immer sein könnte?
Unsere Hauptbeschäftigung erstreckte sich nach wie vor auf die Landwirtschaft, insbesondere die Feldarbeit, nachdem in der ersten Juli-Woche, an meinem 16. Geburtstag, alle Kühe zusammen mit einem ausgeruhten Bullen in einem turbulenten Viehtrieb über ca. 8km auf der Landstraße nach Simbsen überstellt worden waren. Zurück blieben nur die Zugochsen, Pferde und ein paar Schweine. Gearbeitet wurde von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, 6 Tage in der Woche, bei Wind und Wetter und in einem Aktionsradius, der über die Gemarkung von Vorbrücken bestimmt noch hinausging.
Besonders unangenehm war es bei schlechtem Wetter schon wegen der Kleidung. Ich besaß ja nicht viel mehr als das, was ich auf dem Leibe trug. Erfreut war ich daher über einen gepunkteten "Tarnanzug" aus amerikanischen Armeebeständen, den ich irgendwann einmal zugeteilt bekam, ebenso über den Fund von einem Paar Fußballschuhen in einer noch nicht völlig ausgeplünderten Wohnung - zwar viel zu groß, aber das ließ sich ausgleichen. Und schließlich wurde ich sogar Besitzer von 2 Frackhemden! Sie stammten neben vielen weiteren Kleidungsstücken, Wäsche, Elektrogeräten etc. aus einem Einfamilienhaus, in dessen oberer Etage ein geheimer Raum so geschickt und unauffällig integriert war, dass er nicht schon bei der erster Plünderungswelle ausfindig gemacht wurde, so wie das Allermeiste, was die Menschen vor ihrer Flucht vergraben oder sonstwie versteckt hatten.
Dass die "Schatzkammer" erst Monate später aufgebrochen wurde, roch nach Verrat von einem, der Bescheid gewusst haben musste, munkelte man. Für ihn, sofern es ihn denn überhaupt gab, vielleicht ein Trost: Wie sich die Verhältnisse in der Folgezeit entwickelten, wäre der rechtmäßige Eigentümer ohnehin nicht mehr an seine Habe heran gekommen - so dagegen konnten sich viele daran erfreuen.
An meine Tätigkeiten in der Feldbrigade kann ich mich heute im Einzelnen nicht mehr erinnern - bis auf einen Fall, dem ich meine erste "Reitstunde" zu verdanken habe: Wir waren beim Getreidedreschen auf einem abgeernteten Feld westlich der Bahnlinie. Wieder einmal riss der Treibriemen zwischen Lokomobile und Dreschmaschine - und der "Spezialist" zur Schadensbehebung, auch ein Deutscher, befand sich gerade auf einem etwa 2km entfernten zweiten Dreschplatz kurz vor Bismarckhöhe. Er musste sofort her, und ich, der ich als Einziger mit einem Pferd zum Wegbefördern des leeren Strohs vor Ort war, sollte hinreiten und ihn holen. Noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen, muss ich mich wohl ein bißchen zögerlich und unbeholfen angestellt haben, denn plötzlich sah ich unter lauten Flüchen des Natschalniks, unserem russ. Aufseher, seine Maschinenpistole auf mich gerichtet, so dass ich mich schleunigst aufs Pferd schwang und davoneilte - ohne Sattel, als Zügel ein paar eilends zusammengeknotete Sackbänder. Auf halber, leicht ansteigender Strecke war der Ritt jedoch jäh zu Ende: das Pferd , ein kleines "Panjepferd", brach unter mir zusammen, und ich musste den Weg zu Fuß fortsetzen.
Derselbe Natschalnik, ein übler Typ namens Karotkjewitsch, meistens betrunken, versetzte mich später noch einmal in Angst und Schrecken. Am Neujahrstag 1946 gegen Mittag sperrte er Helmut und mich von der Straße weg in einen kleinen Raum des Wirtschaftsgebäudes an der Kreuzung bei der Kirche, beschimpfte uns lauthals (ich verstand immer nur Hitler-Armee) und fuchtelte dabei mit der MP wild vor uns herum. Nach etwa 1/2 Stunde ließ er mich gehen. Ich rannte sofort um Hilfe zum schräg gegenüber wohnenden Kommandanten, der Helmut aus seiner misslichen Lage befreite.
Obwohl man sich, wie vorstehendes Beispiel zeigt, nie richtig sicher fühlen konnte, war das Zusammenleben mit den Russen, den militärischen wie den zivilen (hauptsächlich ehem. "Ostarbeiter"), in unserem Umfeld aber einigermaßen erträglich. An gravierende Übergriffe kann ich mich nicht erinnern, auch nicht gegen Frauen, wie dies in Borkau der Fall war. Der Kommandant, ein schlanker, dunkelhaariger, ganz gut deutsch sprechender Offizier im Kapitänsrang, sorgte so gut er konnte für Ordnung. Zum anderen spielte vielleicht eine Rolle, dass ziemlich viele russische weibliche Personen vorhanden waren und möglicherweise ihren Landsleuten genügend Abwechslung boten. Verschiedentlich war auch freiwilliges Entgegenkommen seitens der deutschen Weiblichkeit zu beobachten. Es gab gar eine Szene, bei der sich ein deutsches Mädchen von einer eifersüchtigen russ. Partnerin eines Offiziers ein blaues Auge einfing.
Leider kamen uns aber Ausschreitungen gegen Deutsche in umliegenden Orten zu Ohren. In Marienquell (Quilitz) wurde ein Bauer erschlagen, weil er während des Krieges polnische Arbeiter schlecht behandelt haben soll. In einem anderen Dorf erschossen die Russen einen Bäckermeister, den man für den Tod eines russ. Soldaten verantwortlich machte. In Wirklichkeit hatte der sich an Methylalkohol vergriffen und buchstäblich totgesoffen. Diese Todesart war kein Einzelfall. In der Gier nach Alkoholischem wurde praktisch vor nichts Halt gemacht, auch alkoholhaltige Duftwässer sollen den Weg durch die Kehle gefunden haben.
Im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1945 wurde uns eine Entlohnung angekündigt. Gespannt saß ich im Büro des "Zahlmeisters", verfolgte das flinke Hin- und Herschieben der Kugeln auf der Rechenmaschine und erfuhr schließlich meinen Verdienst: 86 Zloty, netto, nach Abzug der Verpflegungskosten. Nach welchen Bemessungskriterien der "Lohn" ermittelt wurde, blieb mir weitgehend unklar. Große Schwankungen gab es nicht, wie man so hörte, war ja letzten Endes auch ziemlich egal. Wo hätte man denn einkaufen können - und was? Zum Vergleich: 1/2 Pfund Butter kostete zu dieser Zeit 120 Zloty.
Die Verpflegung, die wir erhielten, bestand neben einer warmen Mahlzeit aus der Gemeinschaftsküche aus einer bestimmten täglichen Ration Brot, Öl und Rohzucker (aus der Zuckerfabrik Zarkau). Zum Verhungern war es nicht, zumal man manchmal das eine oder andere zusätzlich ergattern konnte. Schlau stellte es z.B. ein nicht mehr ganz junger Professor an. Wenn er den Hof des Kommandantenanwesens zu fegen hatte, nahm er sich stets viel Zeit, und um diese, wenn nötig, noch zu strecken, verteilte er die schon zusammengefegten Häufchen wieder, um dann von neuem zu beginnen, wie er mir einmal verriet. Am Ende winkte ihm eine gute Suppe aus der Küche des Kommandanten, geführt von einer mütterlich wirkenden deutschen Köchin. Ich selbst kam auch in diesen und jenen Genuss. Besonders lecker waren die Pfannkuchen (Krapfen), die eigens für den Kommandanten gebacken wurden.
Mein Vater und ich hatten außerdem das Glück, dass wir vom Onkel in Glogau ab und zu eine Fleisch- oder Schmalzdose bekamen, die Ortskundige in Glogauer Kellern aufgespürt hatten. Auch gab es reichlich Obst. Ich sehe mich noch auf einem Baum mit herrlichen roten, wohlschmeckenden Äpfeln in einem Obstgarten nahe Bismarckhöhe, sehe aber auch noch eine nicht weit vom Baum entfernt liegende Tretmine.
Das Thema "Sattwerden" hatte sich für mich endgültig erledigt, als ich im Oktober 1945 ganz überraschend in die Bäckerei abkommandiert wurde. Man brauchte eine neue Hilfskraft. Das Bäckerteam bestand aus Richard Münzberg, Bäckerobermeister aus Glogau, Georg Richter und Paul Gräsche, beide aus Vorbrücken. Meine Aufgabe war es u.a., Wasser und Brennstoff heranzuholen - Wasser von der Pumpe im Nachbarhof (ehem. Gasthof?) und Brennstoff aus der nahen Mühle. Gebacken wurde des Nachts, je 5 Schübe runder Brote. Jeder Backvorgang dauerte 2 Stunden, dann musste der Ofen neu aufgeheizt werden. Es waren lange Nächte, und die Bäcker verrichteten Schwerarbeit, denn es gab keine Maschinen, der ganze Teig musste mit der Hand kräftig und lange durchgeknetet werden.
Eines Nachts bettelte mich eine inzwischen auf dem Nachbargrundstück angesiedelte Polin um Brot an - im Tausch gegen Tabak. Die Bäcker waren einverstanden, und so schmuggelte ich manches Brot, im leeren Wassereimer versteckt, hinüber, vorbei an unserer russischen Aufseherin, die in der Bäckerei wohnte, aber nicht allgegenwärtig war. Die Aufteilung des Tabaks in 4 Portionen übernahm Herr Münzberg. Er tat dies so akribisch, dass ich einmal bemerkte, dass es doch nicht nötig sei, es gar so genau zu nehmen. "Doch, doch", war seine Antwort, "Gerechtigkeit ist die Grundlage eines jeden Staates". Wohl wahr, wenn auch wegen der paar Krümel Tabak etwas weit gegriffen - aber so war er, immer korrekt.
Im April 1946 wurde der Backbetrieb in Vorbrücken eingestellt und an unsere neue Wirkungsstätte, in die Bäckerei Härtel in Ehrenfeld (Tschirnitz) verlegt. Wie es dort weiter ging, wird in einer der nächsten Ausgaben des NGA berichtet.
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