Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 10, Oktober 2004Die Beuthener Borstenindustrie! |
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An einem schwülen Juliabende stieg ich vom Oderstrome die Neustadt hinauf. Eine merkwürdige Stille drückte die Straße. Alle Fenster waren geöffnet. Die Wohnräume schienen ausgestorben zu sein. Die Zimmerschwüle hatte die Menschen ins Freie getrieben. An der Oder hofften sie, Abkühlung und frische Luft zu finden.
Ein altes Mütterchen war das einzige Lebewesen der ganzen Straße. Ihre gekrümmte Gestalt hockte in einer Fensternische. Die Augen starrten auf das Fensterbrett, und die Hände bewegten sich emsig hin und her. In Gedanken trat ich an das Fenster heran. "Noch so fleißig, Mütterchen?" "Wie Ihr seht! Man muss sich regen, wenn man das tägliche Brot verdienen will." "Was habt Ihr denn da Schönes vor?" "Ihr seid wohl kein Beuthener Kind?" "Allerdings nicht!" "Na, dann kann ich's Ihnen nicht übelnehmen, wenn sie meine Arbeit nicht verstehen. Ich lese Borsten." "Borstenlesen?" "Freilich! Ich suche alle farbigen Schweinehaare heraus aus dem Häufel und sortiere sie nach der Farbe." "Und was wird damit?" "Die Borsten werden in der Fabrik sortiert, geputzt, zu Bunden gebunden, gekocht, getrocknet, gehanfelt und zu 10 cm starken Büscheln für Pinsel- und Bürstenfabriken vereinigt oder für die Zahnbürstenindustrie passend geschnitten." "Und welche Fabrik verrichtet diese Arbeiten?" "Kennen Sie die "Borste" nicht? Aber der Name wird Ihnen ja auch fremd sein. Ich meine die Beuthener Borstenzurichterei." "Die kenne ich nicht." "Herrje! Die kennen Sie nicht? Na, dann will ich Ihnen davon etwas erzählen!" "Für Belehrungen bin ich immer dankbar." "Nach dem französischen Kriege lebte in unserer Nachbarstadt Neusalz ein tüchtiger Bürstenbinder, Richard Rathmann war sein Name. Der hatte so viel Kundschaft, dass er gar nicht genug Ware herstellen konnte. Dann kam er auf den Gedanken, die Herstellung der Borstenbüschel, die er zur Anfertigung der Bürsten brauchte, durch Maschinenarbeit zu vereinfachen und zu verbessern. Er kaufte ein Grundstück, baute einige Maschinen und verschiedene Vorrichtungen zur Reinigung und Behandlung der rohen Schweinehaare ein und gründete damit die erste Borstenzurichterei. Bei diesem Rathmann trat der zehnjährige Schiffersohn Karl Garitz als Laufbursche ein. Die Gewandheit und Anstelligkeit des Knaben veranlasste Rathmann, denselben nach Beendigung der Schulpflicht in das Fabrikbüro zu versetzen. Dort zeichnete er sich durch Umsicht und eisernen Fleiß aus, so dass er in kurzer Zeit in die Stelle eines ersten Disponenten aufrücken konnte. Doch befriedigte die Angestelltenlaufbahn seinen regen Geist nicht. Er machte sich deshalb 1897 selbständig und eröffnete in diesem Jahre in Grünberg eine eigene Borstenzurichterei. Als ihm aber die Stadt wegen der Ableitung der Fabrikabwässer fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitete, gab er den Betrieb wieder auf. Da bot ihm sein ehemaliger Chef die Leitung seiner Fabrik an und beauftragte ihn später mit dem Verkauf derselben. Garitz gelang es, das Unternehmen an die "Striegauer Bürstenindustrie" zu veräußern. Diese beauftragte ihn mit der Leitung der Fabrik und ernannte ihn zum technischen Direktor. |
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Oltmanns Strandhof in Belegschaft der Fa. Garitz |
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Die Belegschaft der Fa. Garitz bei einem Betriebsausflug an den Schlesiersee im Jahre 1937. Das Foto wurde uns freundlicherweise von Frau Viktoria Schunk, Völklingen zur Verfügung gestellt. |
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Jeder andere Mensch hätte sich gefreut, eine solche Stellung errungen zu haben. Garitz befriedigte sie nicht, denn sein Selbständigkeitstrieb drängte ihn zur Gründung eines eigenen Unternehmens. Die Stadt Beuthen schien ihm die günstigste Voraussetzung für die Errichtung einer eigenen Borstenzurichterei zu bieten. Und deshalb eröffnete er dort im Jahre 1903 seinen selbstständigen Betrieb in dem Hause Junkernstraße Nr. ... Bald darauf erfand er Verfahren zur Herstellung einer besonders für die Zahnbürstenindustrie geeigneten Borste. Diese Erfindung erwarb ihm bald einen so großen Kundenkreis, dass das Gebäude auf der Junkernstraße für seine Zwecke nicht mehr ausreichte und er an der Freystädter Chaussee die heutige Borstenzurichterei bauen konnte.
Sorgenvolle Jahre brachte ihm die Inflationszeit. Aber es gelang ihm, aller Schwierigkeiten Herr zu werden und das Unternehmen nach der Einführung der Goldmark wieder auf eine sichere Grundlage zu stellen. Bald darauf verwandelte er es in eine "Familien-Gesellschaft mit beschränkter Haftung". Zu seiner persönlichen Unterstützung trat um diese Zeit sein Schwiegersohn, der Zollinspektor Anton Seiler, in die Firma ein. Als die Firma am 1. Juli 1928 ihr 25jähriges Geschäftsjubiläum feierte, da belieferte sie nicht nur ganz Deutschland, sondern auch das Ausland mit Borstenfabrikaten. Ihre Erzeugnisse gingen nach Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Türkei, Jugoslawien, Griechenland, Italien, Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Nord- und Südamerika, Asien, Neuseeland und Australien. Im Jahre 1925 baute er ein weiteres Fabrikgebäude in Neusalz. Für seine Mitarbeiter schuf er einen Unterstützungs- und Pensionsfond in Höhe von 15.000 Reichsmark." "Wieviel Arbeiter beschäftigte denn die 'Borste'?" fragte ich. "Ganz genau kann ich Ihnen die Zahl nicht angeben, aber vor einiger Zeit verdienten 200 Arbeiter durch die Garitz'sche Borstenindustrie ihr tägliches Brot. Und wie viele Groschen fließen in die Häuser der Heimarbeiter, die wie ich, alle Tage mit Kind und Kegel Borsten lesen. Und stolz bin ich darauf, dass die Schweinehaare, die ich sortiere, vielleicht alle Morgen dem Schah von Persien die Zähne putzen dürfen." "Wo wohnt denn der Fabrikbesitzer Garitz? In der Nähe seiner Fabrik oder in der Stadt?" "Gott ja! An der Freystädter Chaussee steht die Villa, die er einst für sich baute. Jetzt wohnt seine Frau darin. Er selbst ruht seit 1934 auf dem Beuthener Friedhofe." "Recht schönen Dank, Mütterchen! Kaufen Sie sich für das Geldstück Brot, Butter und ein Stück Wurst und machen Sie für heut Feierabend. Etwas frische Luft am Oderdamm wird Ihnen gut tun." Ich wandte mich ab und stieg die Freystädter Straße hinaus. Von Wolfgang Fröhlich, Großörner |
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