Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 6, Juni 2004

Literarische Eisenbahn

-Studienfahrt -

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Das Schlesische Museum zu Görlitz lud ein, am Donnerstag, den 22. April, an einer Studienfahrt zur Wirkungsstätte Gerhart Hauptmann's teilzunehmen. Der Kulturreferent Tobias Weger konnte vor dem Theater in Görlitz etwa 30 Teilnehmer begrüßen, die an einem sonnigen Morgen wohlgelaunt der Exkursion entgegen sahen. Der erste Schritt führte hinein in das 1851 gegründete Theater, wo mit Reproduktionen einer Bahnhofsszenerie bereits im Foyer erste Eindrücke einer Operninszenierung von Gerhart Hauptmann's Novelle "Bahnwärter Thiel" vermittelt wurden. Die Uraufführung der Oper (von Enjott Schneider) fand am 28. Februar 2004 in Görlitz statt, im Laufe des März gab es vier weitere Vorstellungen.

In Augenschein genommen werden konnten einige persönliche Gegenstände Gerhart Hauptmann's, auf einer weiteren Etage gab es inhaltliche Begleittexte zur Novelle selbst, und im dritten Stock fand man Informationen rund um die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn, die im Jahre 1841 gegründet wurde. Dargestellt im Umfeld der Bauentwicklung des Schienennetzes war bereits wenige Jahre, nachdem die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth verkehrte, klar, die Hauptstadt Berlin musste schnellstmöglich mit der Metropole Breslau verbunden werden. Bereits am 23. Oktober 1842 wurde die erste Teilstrecke mit einer Länge von 77,2 km bis Frankfurt/Oder fertiggestellt, für deren Bau noch die Berlin - Frankfurter Eisenbahngesellschaft verantwortlich zeichnete. Durch einen Vereinigungsvertrag erlosch die Gesellschaft am 1. Januar 1845, so dass fortan mit der Unterstützung König Friedrich Wilhelm's IV alle Aktivitäten in der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn gebündelt wurden. 1844 konnte die Strecke Breslau - Liegnitz (63km) fertiggestellt werden, nahezu ein Jahr später dann das Teilstück bis Bunzlau. Wiederum ein Jahr später, exakt am 1. September 1846 erfolgte die Fertigstellung des längsten Teilstückes Bunzlau - Sorau - Guben - Frankfurt/Oder (118 km), so dass ab diesem Zeitpunkt eine Schienenstrecke von 329,5 km Breslau mit Berlin verband. Bereits im gleichen Jahr erhält Glogau über Sagan eine Anbindung an die Berlin - Breslauer Strecke.

Die Notwendigkeit einer weiteren Verbindung Breslaus mit Dresden über Görlitz lässt die kleine, abgelegene Siedlung Kohlfurt zu einem Eisenbahnknotenpunkt werden. Die Bauarbeiten auf der Strecke Kohlfurt - Görlitz dauern über zwei Jahre lang, was auf die Errichtung von 124 Brücken und Schleusen, vor allem aber des Neißeviadukts bei Görlitz zurückzuführen ist. Die Verbindung mit Sachsen konnte so erst am 1. September 1847 aufgenommen werden. Mit dem Bau der schlesischen Gebirgsbahn von Görlitz über Lauban - Hirschberg nach Dittersbach - Waldenburg - Altwasser in den Jahren 1865 bis 1869 beendete die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn zunächst ihre Aktivitäten. Die Bahnbewachung und die Bedienung der Schranken sowie der optischen Signalvorrichtungen gehörte zu den Aufgaben der Bahnwärter. Ihre Häuschen befanden sich alle 1000 m an den Gleisen, zusätzlich noch an Stellen, die einer besonderen Aufsicht bedurften. Der Bahnwärter war dafür zuständig, die Strecke vor der Ankunft jeden Zuges zu begehen, sie auf Unregelmäßigkeiten in der Spurweite, Höhe und Seitenlage des Gleises zu prüfen sowie die Schienen auf Risse, Brüche und ähnliche Schäden zu untersuchen. 1864 waren zwischen Berlin und Breslau insgesamt 538 Bahnwärter- und Weichenstellerhäuser vorhanden.

Nun zurück zu unserer Exkursion, die nach dem Besuch des Theaters mit einer Straßenbahnfahrt zum Görlitzer Bahnhof fortgesetzt wurde. Die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges wurde, nach einem anfänglich unter freiem Himmel stattfindenden Vortrag über die Görlitzer Eisenbahngeschichte, im Saal "Gleis 1" genutzt, dort konnte man einer Lesung Dr. Hajo Hahns aus dem Werk Gerhart Hauptmanns "Das Abenteuer meiner Jugend" lauschen. Pünktlich um 12.24 Uhr ging es nach einer kurzweiligen Kontrolle deutscher und polnischer Grenzbeamten dem Tagesziel entgegen. Beim Überqueren des Viadukts offenbarte sich ein Landschaftsblick, der nicht nur passionierte Fotografen in Entzücken versetzte! Verwundert waren einige Reiseteilnehmer über den Umweg, der von Moys aus anstelle der direkten Verbindung nach Lauban nun erst nördlich nach Kohlfurt führte. Des Rätsels Lösung wurde schnell offenkundig, die zu deutschen Zeiten vornehmlich für Riesengebirgsausflügler betriebene Strecke steht Personenzügen heute nicht mehr zur Verfügung. So wurde nun mit gemächlicher Geschwindigkeit der Eisenbahnknotenpunkt Kohlfurt angesteuert, den Weg säumten in aufkommender Frühlingspracht grünende Wiesen und Wälder ... und wenige Ortschaften, in denen die Zeit teilweise stehen geblieben schien.

Die Bahnstation Kohlfurt, die planmäßig um 13.02 Uhr erreicht wurde, ließ erahnen, welches Zugaufkommen hier früher bewältigt wurde. Eine Vielzahl von Gleisen umsäumte den als "Inselbahnhof" angelegten Eisenbahnknotenpunkt. Ein weiträumiges Bahnhofsgebäude mit Überbleibseln preußischer Stilelemente gewährte den Reisenden angenehme Aufenthaltsmomente, wo sicher auch Gerhart Hauptmann, auf seinen Reisen von und nach Berlin, manche Stunde verbracht haben dürfte. Als Bahnhof der ersten Generation ragen noch zwei Flaggentürme dem Himmel entgegen, ein Relikt aus Zeiten, als der Signalaustausch eintreffender Züge auf Sichtweite beschränkt war und die Telegrafie erst noch erfunden werden musste. Als Besonderheit am Rande sei erwähnt, dass die Strecke von Kohlfurt nach Breslau sehr früh elektrifiziert wurde, was vornehmlich auf die Energiegewinnung durch die Bober-Talsperre zurückzuführen war. Endstation in Breslau war der Freiberger Bahnhof. Eine Lesung aus dem Kinderbuch "Die Lokomotive" (von Julian Tuwim) trug nicht nur bei unserem jüngsten Mitreisenden, dem Sohn des Kulturreferenten, zur Erheiterung bei.

Um 13.37 Uhr setzten wir die Bahnfahrt über Lauban, Langenöls, Greiffenberg, Rabishau nach Hirschberg fort. Am fernen Horizont begleiteten uns bald die Höhenzüge des Riesengebirges, die Schneegruben, die große Sturmhaube und anschließend die "ale Gake" selbst. Noch bevor die Bahn Hirschberg in einer weiten Schleife umrundete, sah man von weitem bereits die Türme der ehemaligen Zellstofffabrik.

Ein gut gelaunter Busfahrer empfing uns freundlich und brachte uns auf dem kürzesten Weg über Bad Warmbrunn und Hermsdorf, vorbei an der Burgruine Kynast, dem Stammsitz der Grafen Schaffgotsch, nach Agnetendorf. Im Haus Wiesenstein, dem Ziel der Studienfahrt, begrüßte uns die Leiterin des Museums - Dagmara Sosnowska - mit einer kurzen Einführung in die Entstehungsgeschichte des Hauses und der Außenanlagen sowie über deren Verwendungszweck nach dem Ableben Gerhart Hauptmanns im Jahre 1946 bis zur heutigen Nutzung als Museum und Begegnungsstätte. Letzere obliegt der Leitung Dr. Hajo Hahns, der im Auftrag der Robert Bosch Stiftung seine Aktivitäten entfaltet. Der Rundgang durchs Haus zeigte Aufnahmen der Entstehung in den Jahren 1900/1901, ebenso wie Aufnahmen über die Ausgestaltung der Paradieshalle, deren Wandgemälde (...von Avenarius) zum 60. Geburtstag des Eigentümers im Jahre 1922 entstand. Die farbenfrohen Wandmalereien zeigen paradiesische Landschaften und Vegetationen, Szenen aus Hauptmanns Werk und Biographisches aus seinem Leben. Ein weiterer Raum war dem 110-jährigen Bühnenjubiläum des Dramas "Die Weber" gewidmet. Auf eine große Leinwand gedruckt, trennt die Grafik Sturm aus dem berühmten Käthe-Kollwitz-Zyklus "Ein Weberaufstand", den Raum in zwei Bereiche. Der prachtvolle Kaminraum hebt die Gegenüberstellung von Reich und Arm noch stärker hervor. Auf der einen Seite sieht sich der Besucher mit der reichen Welt des Fabrikanten Dreißigers in Form einer im Großdruckformat abgebildeten Wohnung konfrontiert. Auf der anderen Seite begegnet er der armen Welt der Weber, deren schwere Arbeit ein originaler Webstuhl veranschaulichen soll.

Abschließend gab eine multimediale Präsentation mit Originalbild- und Tonaufnahmen Gerhart Hauptmanns tiefere Einblicke in sein Leben, sowohl im privaten Umfeld als auch auf öffentlichen Bühnen. Gute Verbindungen zu Nachkommen dieses für die Kulturgeschichte bedeutenden Dichters und Nobelpreisträgers machen manches wertvolle Relikt aus privatem Besitztum heute der Öffentlichkeit zugänglich. Etwa 25.000 Besucher zählte das Museum im Jahre 2003.

Am Abend ging es dann mit dem Bus zurück zum Ausgangsort unserer Tagesreise. Auf der landschaftlich sehr reizvollen Strecke durchquerten wir über Schreiberhau, Bad Flinsberg und Friedeberg das sagenumwobene Isergebirge, wobei noch manch herrlicher Ausblick auf das Riesengebirge möglich wurde. Bei Greiffenberg erreichten wir wieder die Bundesstraße 356, auf der es - vorbei am Schloss Friedersdorf - dann flugs nach Görlitz ging. Unser polnischer Busfahrer überraschte uns entgegen der Vereinbarung (Endstation Grenzübergang) mit dem Vorschlag, einige Stationen im deutschen Görlitz anzufahren. Nach augenscheinlich kompetenten Bemühungen mit den Staatsorganen beider Nationen offenbarte sich so wenige Tage vor dem EU-Beitritt Polens die absehbare Reiseerleichterung, die uns künftig der Heimat ein Stück näher bringt.

TK.

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