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Mein Bericht im NGA 1/04 ,,Hitler-Jungen in Glogau..." endete mit der Flucht aus Glogau am 11. oder 12.2.1945 mit dem Ziel Görlitz, wo wir auch wohlbehalten eintrafen. Zwischendurch hätte es allerdings noch einmal brenzlig werden können, denn die Front südlich der Bahnlinie schien ziemlich nahe, worauf Aktivitäten deutscher Kampfflugzeuge hindeuteten.
In Görlitz bezogen wir Quartier in einer Schule im Stadtteil Rauschwalde. Die Jüngeren von uns, also die vom Jahrgang 1930, wurden, wie ich mich erinnere, entlassen; mein Freund Franz H. war jedenfalls nicht mehr mit dabei. Der Rest, aufgefüllt mit Jungen aus anderen niederschlesischen Kreisen, wurde kurzerhand in das System der Wehrertüchtigungslager (WE) eingegliedert. Von nun an stand nur noch die vormilitärische Ausbildung auf dem Plan, geleitet von Wehrmachtsangehörigen mit mehr oder weniger ausgeprägter Schleifermentalität. Kostproben ließ man uns schon mal auf dem Schulhof zuteil werden.
Unser Aufenthalt in Görlitz dauerte etwa 1 Woche. Mit einem ordentlichen Mittagessen gestärkt (Schweinebraten mit Kartoffeln und Gemüse), begaben wir uns am Sonntag, dem 18.2. auf die Landstraße in südlicher Richtung, verabschiedet mit einem Fliegeralarm. Ausrüstung und Verpflegung waren auf leichten Wagen verladen; wegen nicht vorhandener Zugtiere wurden wir selbst davor gespannt. Nach etwa 30 Kilometern, lange nach Einbruch der Dunkelheit, erreichten wir Herrnhut, Stammsitz der ev.-pietistischen Brüdergemeinde. In deren Haus übernachteten wir 2mal mehr schlecht als recht: ich hatte meinen Schlafplatz auf einer der hölzernen weißen Bänke im Andachtssaal.
Beim Aufbruch in Herrnhut lag nochmals ein längerer Marsch vor uns, rund 20km nach Warnsdorf, direkt an der Grenze zum Sudetenland. Von dort aus sollten wir mit dem Zug zunächst nach Königgrätz und im weiteren Verlauf in die Nähe von Brünn/Südmähren gebracht werden. Bevor wir den Personenzug bestiegen, gab es erst einmal tüchtigen Ärger, als entdeckt wurde, dass sich einer oder mehrere unerlaubt an einem mitgeführten Würfel Kunsthonig vergriffen hatten. Da sich kein ,,Sündenbock" freiwillig zu erkennen gab, setzte es für alle eine kraftraubende Bestrafung. Ein weiterer Zwischenfall, der im Gegensatz zum ,,Kunsthonigfrevel" wirklich tragisch hätte ausgehen können, ereignete sich unterwegs im Zug: im unteren Gepäcknetz unseres Abteils lag mein mit scharfer Munition geladener Karabiner, und während ich wechselweise am Sicherungshebel und am Abzug herumspielte, löste sich plötzlich ein Schuss; das Geschoss zischte quer durch den Mittelgang und vorbei an den Köpfen der im Abteil herumstehenden Kameraden in die Wand. Der Schreck war riesengroß, aber zum Glück wurde niemand getroffen und ich kam mit einer gehörigen Standpauke davon.
Von Königgrätz ist nicht viel in meinem Gedächtnis haften geblieben, außer dem Zimmer, wo ich den Anpfiff wegen meiner ,,Schießeinlage" im Zug entgegen nahm. Deutlicher vor Augen habe ich dafür die Weiterreise am 22. 2. in Güterwaggons. Gleich hinter Pardubitz blieb der Zug auf freier Strecke stehen, lange genug für eine Geländeübung auf dem angrenzenden aufgeweichten Feld, einschließlich ,,Volle Deckung!" in Bombenkratern, deren Verursacher vermutlich einem kriegswichtigen Chemiebetrieb in Pardubitz zugedacht waren. Völlig verdreckt kehrten wir in die Waggons zurück und hatten Mühe, Kleidung und Schuhwerk bis zur Ankunft an unserem vermeintlich letzten Etappenziel, in Kiritein, wieder sauber zu kriegen.
In Kiritein (tschech. Krteny?) bei Adamstal (Adamov), ca 15km nördlich von Brünn, erwartete uns ein Schlösschen, auf einer leichten Anhöhe gelegen: eine noble Herberge, sollte man meinen; doch dem war nicht ganz so. Ich war in einem der oberen Räume untergebracht, mit Feldbetten darin und einem schönen Kachelofen. Leider qualmte der mehr, als dass er Wärme ausstrahlte, die nötig gewesen wäre, weil wieder frostiges Winterwetter eingesetzt hatte. Vielleicht war dies mit eine Ursache dafür, dass bald viele von uns unter starker Erkältung litten. Nun sind Erkältungen in dieser Jahreszeit so ungewöhnlich nicht; hier aber waren nicht nur die Atemwege betroffen, sondern auch die Blase, die sich in kurzen Abständen bemerkbar machte: Besonders in den Nächten herrschte daher ein ständiges Gerenne. Da es andrerseits an ausreichend Toiletten mangelte, blieb meist nur der eilige Gang nach unten ins Freie; einige schafften es oft nicht bis dahin.
Das zweite Übel war ein Befall von Kleiderläusen, eingeschleppt entweder mit den angelieferten Schlafdecken oder den Uniformen einer Unteroffizier-Vorschule, mit denen wir ausstaffiert wurden. Alle individuellen Bekämpfungsversuche, weder durch Kochen der Wäsche noch sie dem Frost auszusetzen, blieben letztlich erfolglos.
Ungeachtet aller Beeinträchtigungen lief der Dienstbetrieb in vollem Umfang weiter. Die einzige Abwechslung bestand in einem Kinobesuch, in geschlossener Einheit. Einzelausgang gab es aus Angst vor Partisanen nicht. Auf Grund der alles in allem unbefriedigenden Zustände war niemand traurig, als nach etwa 3 Wochen eine Verlegung nach Petzer (heute Pec), einem Wintersportort unterhalb der Schneekoppe, angeordnet wurde. Irgendwo unterwegs befreite uns eine Entlausungsanstalt von den lästigen ,Quälgeistern.
In Freiheit endete die Bahnlinie. Die letzten 12km bis zum Ziel bestritten wir zu Fuß inmitten einer märchenhaften Winterlandschaft. In Petzer angekommen, wurden wir auf 2 Standorte verteilt: Die Führung, zusammen mit einer größeren Gruppe, bezog einen Berggasthof und der Rest, dem ich zugehörte, eine schmucke Ferienpension (Villa Adolf) unten im Dorf, Hanglage am Waldrand, mit freundlichen Zimmern und einem verglasten Frühstücks- bzw. Aufenthaltsraum. Putzen und Aufräumen besorgte das Hauspersonal. Der Wachdienst nach militärischer Art fiel naturgemäß in unser Ressort, wobei nächtliche Patrouillen durch Doppelposten um das Anwesen herum vorgeschrieben waren. Weil uns der nahe dunkle Wald mit möglichen Heckenschützen darin aber unheimlich vorkam, beschränkten wir die Rundgänge so gut es ging und zogen es vor, uns unbemerkt auf einen sicheren Beobachtungsplatz am oder im Haus zurückzuziehen.
Im scharfen Kontrast zu dem ansonsten recht angenehmen Umfeld stand das straffe und schroffe Ausbildungsprogramm: Bei Schnee und Eis, bei Regen, Wind und sonstigem Wetter wurden wir, inzwischen Inhaber von Wehrpässen, hart herangenommen. Diejenigen, die wie ich, als ROB (Reserveoffiziersbewerber) auserkoren waren, wurden sogar noch zusätzlich gedrillt. Da empfand man selbst einen sonntäglichen gemeinsamen Ausflug auf die Schneekoppe als Strapaze und war dankbar für jede sich bietende Gelegenheit, wenigstens mal für kurze Zeit dem rauen Alltag entfliehen zu können:
Dienstreisen gehörten dazu. Ich erinnere mich besonders an eine davon, die uns zu dritt nach Frankenstein führte mit dem Auftrag, einen Lkw mit Lebensmitteln für das Lager zu übernehmen und den Transport nach Petzer zu sichern. Wir hockten den ganzen Weg auf der offenen Ladung und als wir hungrig wurden, kamen wir an nichts weiter heran als an Zwiebeln; es war kein reiner Genuss. - Der wollte sich auch nicht einstellen, wenn wir bei Zwischenaufenthalten in Freiheit in der Gaststätte gegenüber dem Bahnhof von Mizzi, der Wirtin, eine warme Mahlzeit ohne Marken serviert bekamen:
Muscheln mit Kartoffeln und Sauerkraut; es knirschte immer so eigenartig beim Kauen; aber in der Not...
Noch zu Anfang in Petzer erhielt ich ganz unverhofft einen Anruf meines Vaters aus Spindlermühle, wohin er mit seiner Firma evakuiert worden war; er hatte mich über die HJ-Gebietsführung ausfindig machen können. Ich erfuhr nun auch, wo sich meine Mutter nach ihrer Flucht befand. - Fortan wurde es mir ermöglicht, an den ab und zu anstehenden Kuriergängen zu unserer obersten Führung, ebenfalls in Spindlermühle, teilzunehmen und bei meinem Vater im Hotel zu übernachten. - Petzer und Spindlermühle liegen Luftlinie 10km auseinander, aber ohne direkte Straßenverbindung. Daher kam für uns nur die "Bergroute" mit Überquerung eines Gebirgsrückens, der die beiden Orte voneinander trennt, in Frage. Wegführung und Geländebeschaffenheit waren so, dass 1 Tour mehrere Stunden in Anspruch nahm. Oben auf dem Kamm in bestimmt über 1000m Höhe bot die ,,Geiergucke", eine Baude, in der zu jener Zeit russ. Hilfswillige (Hiwi) der Wlassow-Armee stationiert waren, Gelegenheit zu einer kurzen Verschnaufpause, ehe es am Steilhang hinab ins tiefe Tal gen Spindlermühle, vorbei an einer Skisprungschanze, weiterging, und froh, nicht von einem der gefürchteten plötzlichen Wetterumschwünge im Berg mit Nebelbildung und der Gefahr, sich zu verirren, überrascht worden zu sein.
So verstrichen die Tage und Wochen, in denen auch uns in unserem Refugium nicht verborgen blieb, wie sich die Kriegslage zusehends verschlechterte und zuspitzte.- Da rief uns am Abend des 1. Mai die Führung zu sich auf den Berg. Uns schwante schon gleich nichts Gutes, und so war es dann auch. Mit betretenem Schweigen nahmen wir die Mitteilung vom ,,Heldentod" des Führers entgegen und zogen die Köpfe ein, nachdem wir aufgerufen wurden, uns freiwillig an der Fortsetzung des Kampfgeschehens zu beteiligen - keiner wollte mehr den Helden spielen - und mit trüben Gedanken an eine ungewisse Zukunft schlichen wir zurück in unsere Unterkunft. Knapp 1 Woche später, am 7. Mai, brachen wir unsere Zelte in Petzer ab; meine Ziehharmonika, die mich bis hierher begleitet hatte, überließ ich einem Zimmermädchen unseres Quartiergebers.
Die Nacht zum 8. Mai verbrachten wir in Arnau und warfen dort am nächsten Morgen alle Waffen und Munition von einer Brücke aus in das glasklare Wasser der an dieser Stelle nur wenige Meter breiten und ziemlich seichten Elbe. Auf dem Weitermarsch Richtung Hohenelbe mühten wir uns so dahin und freuten uns, dass sich eines der zahlreichen Militärfahrzeuge bereit fand, einen Teil unseres Gepäcks mit ein paar Kameraden bis nach Hohenelbe mitzunehmen.
Als wir selbst in Hohenelbe ankamen, schickten wir uns an, in geschlossener Formation und mit einem Lied auf den Lippen in die Stadt einzuziehen. Protestierende Anwohner ließen uns aber sehr bald verstummen und warnten uns vor den Tschechen, die bereits damit begonnen hatten, das Regiment in der Stadt zu übernehmen. Ohne das vorausgesandte Gepäck samt Kameraden wiedergesehen zu haben, wurde das WE in einer unbelebten Seitenstraße schließlich sang- und klanglos aufgelöst.
In einzelnen Gruppen von 7-8 Mann und einem Ausbilder als ,,Beschützer" verließen wir Hohenelbe, stets darauf bedacht, nicht einem der auf offene LKWs mit wehenden Fahnen durch die Straßen brausenden tschechischen Kommandos in die Fänge zu geraten, und machten uns auf den Heimweg nach Glogau bzw. Schwarztal. - 9 erlebnisreiche Tage später und nach ungefähr 180 zurückgelegten Kilometern hatten wir es geschafft.
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