Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2004

Ein Glogauer Familienbild

zur Erinnerung an die Zerstörung der Stadt

Vielfältig ist das Schicksal der Glogauer Bürger nach Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimatstadt verlaufen. In alle Himmelsrichtungen deutscher Lande und in viele Länder der westlichen Welt wurden sie versprengt. Nicht wenige von ihnen setzten ihren Fluchtweg erneut forf und kamen nie zur Ruhe.

Die Generation unserer Mütter und Väter haben den Verlust ihres Lebenswerkes, vor allem jedoch die Aufgabe der Heimat niemals verwunden. Sie nahmen die Bitterkeit über diese unmenschliche Entblößung mit auf ihren letzten Weg.

Glogauer Familien, deren Töchter und Söhne oft noch als Zeitzeugen unter uns sind, leben im Gedenken an ihre Altvorderen mit der Last und dem Wissen, dass gerade ihre Mütter und Väter einen so hohen Preis zahlen mussten. Die Hingabe eines ganzen Lebensabschnitts wurde ihnen abgefordert und nicht zuletzt zahlten sie auch mit dem Leben dafür, dass sie Deutsche waren. Sie sind noch immer das große Deutsche Tabu und wenn diese Tragödie einmal thematisiert wird, weil nun mal die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht einfach 12 Millionen Menschen verschweigen kann, dann ist ihnen mancher Spott sicher, nicht selten aus den eigenen Reihen.

Die Arroganz und Gewissenlosigkeit, wie aus dem Verlust des geistigen und materiellen Erbes Zuspruch konstruiert wird, ist erschreckend. Lassen sie mich daher, liebe Heimatfreunde, stellvertretend für viele Glogauer Familien ein Erinnerungsbild zeichnen, das sehr deutlich die Apokalypse darstellt, die der Krieg und im hohen Maße das Ende des Krieges entstehen ließ. Es ist eine ganz normale schlesische Familiengeschichte, die ihren Anfang in den zwanziger Jahren in der Nähe von Posen nimmt :

Der Vater, ein gebürtiger Oberschlesier, aus der Umgebung von Oppeln. Als diplomierter Landwirt war er zu Beginn der Familiengründung, als Inspektor auf einem Gut bei Posen tätig. Zusammen mit seiner Ehefrau, die er auf einem Dorf nahe Glogau kennen lernte, begann für die beiden Frischvermählten eine glückliche Zeit. Beide waren dem ländlichen Lebensstil verbunden und so wurde ihr gemeinsames Schaffen für das Wohl eines großen landwirtschaftlichen Anwesens auch ihr Lebensinhalt.

Der erste von drei Söhnen erblickte in dieser Idylle das Licht der Welt, doch fast gleichzeitig fiel alles in Scherben und beendete die Existenz der jungen Familie.

Das Ultimatum, als Ergebnis des Ersten Weltkrieges, für Polen zu optieren oder hinter die neue Grenzlinie zwischen Polen und Deutschland zu gehen, lag auf dem Tisch. Ein Ansinnen weiches aus den bisherigen Erfahrungen nur eine Wahl zuließ, nämlich das Land zu verlassen. Die Weigerung meiner Eltern, war dann auch das sofortige Aus für ein verbleiben am bisherigen Ort und endete in der Aufgabe der bisherigen Existenz sowie aller Grundlagen unter der ständigen, massiven Bedrohung der polnischen Behörden.

Somit hatten meine Eitern die Gelegenheit - wie erst kürzlich zu lesen war : " schon mal für die Vertreibung aus Giogau zu üben ".

Bei dieser ersten Vertreibung, die 1920 aus der Umgebung von Posen stattfand, wurde mein Vater schwer misshandelt und das gesamte, noch im Besitz der Eitern befindliche Mobiliar zerstört. Einzelheiten darüber möchte ich Ihnen und mir ersparen.

Im damals als Reichsgebiet bezeichneten, sächsischen Teil Deutschlands, in Zeithain, einem kleinen Ort zwischen Riesa und Dresden, endete zunächst diese Reise, für die es kein eigentliches Ziel gab. Ein Barackenlager war nun der neue Lebensmittelpunkt.

Mein Vater nahm eine für ihn völlig ungewohnte Arbeit in einem Stahlwerk auf, nachdem er in langer Pflegezeit wieder auf die Beine gekommen war. Von irgendetwas musste die Familie leben, denn ein "soziales Netz" heutiger Qualität gab es damals nicht. Für einige Jahre hielt dieser deprimierende und bedrückende Zustand an. Es war die Welt in die ich hineingeboren wurde. 1922, bei klirrender Kälte . Wie mir später berichtet wurde, hatte sich auf dem Wasser des Waschbeckens im Geburtszimmer über Nacht eine Eisschicht gebildet.

Zu viert ging es nun leicht aufwärts. Noch im gleichen Jahr zogen wir nach Glogau, wo auch 2 Schwestern meiner Mutter mit ihren Familien lebten. Hier konnte auch das Familienoberhaupt wieder eine angemessene Arbeit aufnehmen, wenngleich diese auch nicht seinem erlernten Beruf entsprach. Die Familie, die fortan Glogau zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht hatte , lebte in dieser Stadt in bescheidenem Wohlstand. Eine Tochter und ein dritter Sohn erweiterten die Plätze am Tisch und man darf dafür den Mut der Eltern noch heute bewundern.

Die nunmehr vier Kinder besuchten die Glogauer Schulen, doch nur für drei von ihnen reichte die Zeit noch aus, eine berufliche Ausbildung zu beenden. Unsere Kindheit, bis in die frühe Jugend wurde geprägt von Freundschaften, kleinen und großen Festen und all dem was uns das gesellschaftliche und kulturelle Leben dieser schlesischen Stadt zu bieten hatte. Allein der Spielplan des Stadttheaters bot mit seinem eignen Ensemble alles was Klassik oder Boulevard zu Bildung und Unterhaltung beizutragen imstande ist, eine bemerkenswerte Vielfalt. Zwei Kinos zeigten stets das Neueste, was aus dieser, damals aufblühenden Unterhaltungsbranche auf die Leinwände kam. Restaurants und Cafes waren beliebte Treffpunkte. Die Oder und eine Badeanstalt, Rodel- u. Eisbahnen, samt eines modernen Sportstadions standen uns neben vielen anderen Einrichtungen zur Verfügung. Das Leben in dieser zur Heimat gewordenen Stadt war lebenswert. Auch die erste Liebe fand ich in Glogau und wie es sich herausgestellt hat, hielt sie bis heute, über all die schrecklichen Jahre.

Das Familienleben fand in engster Verbundenheit zur katholischen Gemeinde statt. Sogar einen, wenn auch bescheidenen Erfolg landwirtschaftlicher Betätigung konnten die Eltern wieder mit großem Eifer und Freude genießen. Gleich zwei Schrebergärten hatte Vater gepachtet und sicherten so den vollen Familienbedarf an täglich frischem Obst und Gemüse, nebst einer Winterbatterie voller "Einmachgläser" - so sagte man wohl in Schlesien.

Vater war darüber besonders glücklich. Seine Gärten waren sein Lebenselixier. Er züchtete darin nur edelste Obstsorten. Noch heute gehöre ich, dank seines Züchterstolzes zu den Feinschmeckern in Sachen Obst und Gemüse.

Die Braune Ära und ihre Folgen, mag von uns Kindern in ihren Auswirkungen zunächst und weit hinein in diese Zeit unerkannt geblieben sein. Da wir in den kath. Jugendverbänden verwurzelt aufwuchsen, erzeugte dieser Zeitgeist, zumindest zu Beginn, eine ablehnende bis abwerfende Haltung, weil wir den Zwang nicht mittragen wollten, der uns durch das Verbot auferlegt wurde. Nach einem kurzen Gastspiel als Trommler in einem Spielmannzug, gelang es mir zwar einfach passiv zu bleiben aber zum Helden hat es nicht gereicht. Die Eltern waren katholisch und sonst nichts.

Mit Sicherheit und aus heutiger, ungefährlicher Anschauung, lassen sich darin Fehler ableiten, weil uns eine weltweite Schmach erspart geblieben wäre aber auch der weitere Verlauf der Geschichte , wie wir ihn leider erleben und erleiden mussten, wäre an uns vorüber gegangen.

Der Vorhang zog sich nun sehr schnell zu. Dahinter verschwand das friedliche Leben dieser glückhaften Glogauer Zeit, auch wenn wir es immer noch nicht wahr haben wollten.

Die beiden älteren Söhne wurden Soldaten der Deutschen Wehrmacht, was besonders dem Zweitgeborenen sehr schwer fiel. Für ihn war es ein ungleicher Tausch seiner bisherigen Lebensform. Ein Abschied für 9 Jahre seines Lebens, wie es sich später zeigte.

Schon bald kamen sie auch nicht mehr auf Urlaub nach Glogau und auch aus dem Lazarett das der Zweite Weltkrieg zur Ersatzheimstatt feilhielt, fuhren sie wieder in Richtung Osten. So jedenfalls der Zweitälteste auf dem Familienbild.

Bevor jedoch diese vier Jahre des Krieges zu ende gingen, tobte die Zerstörung schon in Schlesien und erreichte über Steinau an der Oder bald auch den Kreis und die Stadt Glogau. Der größte Teil der Einwohner begab sich auf die Flucht. Das Chaos erfasste die Stadt und ließ sie nicht wieder zur Ruhe kommen. Vater, damals 58 Jahre alt, durfte, weil

kriegsdiensttauglich", Glogau nicht verlassen und Mutter blieb aus Treue zu ihm an seiner Seite, während die beiden jüngsten Kinder mit einem der letzten Züge einem unbekannten Ort entgegenfuhren. Sie landeten schließlich im Harz.

Das infernalische Kriegsgeschehen, das die Mauern in Glogau zerfetzte, die Türme der Kirchen zerbrach und alles Leben niederlegte, ist oft genug geschildert worden. Das Grauen, dass den dort verbliebenen Menschen widerfuhr, kann niemand auch nur annähernd nachvollziehen.

Fazit : Vater fiel in den letzten Tagen auf der Weißenburgstraße, vor dem Hofeingang der Oberrealschule. In der darauf folgenden Nacht wurde er von seiner Frau und zwei weiteren Anwesenden im Massengrab des Schlossgartens vergraben. Dort liegt er noch heute, anonym,

mit etwa 200 Toten aus dem sinnlosen Kampf um Glogau.

Nach der wenige Tage später erfolgten Übergabe der Stadt an die Rote Armee, verblieb Mutter mit sieben ihrer Anverwandten, die ebenfalls das Glogauer Inferno überlebt hatten, in Priedemost. Am 26. Juni 1945, ihrem 56. Geburtstag, wurde sie von dort vertrieben. Es war ihre zweite Vertreibung. Für einige Jahre fand sie mit ihrem jüngsten Sohn eine Bleibe in Sachsen. 1957 begab sie sich das dritte Mal auf den Weg. Diesmal von Ost nach West. Auch dort kam sie nur vorübergehend zur Ruhe. Die Sehnsucht nach der inzwischen nach Australien ausgewanderten Tochter trieb sie dorthin, bis sie schließlich nach Deutschland zurückgekehrt ihre Ruhe fand.

Sie war der Klage unfähig geworden. Wer soviel Leid erleben musste, verliert seine Sprache.

Das Familienbild auf der Titelseite, welchem die Glogauer Trümmerlandschaft unterlegt ist, mag erkennen lassen, wie tief sich die Spuren der Vergangenheit noch heute anfühlen.

Es wurde im März 1941 im Fotoatelier Richard Püscher, in der Potsdamstraße, (früher Bahnhofstraße) aufgenommen. Im gleichen Gebäude befand sich das Hotel Hindenburg. Von den Kellern des Hotels wurde 1945 die Übergabe der belagerten Stadt eingeleitet und vollzogen. Das Foto wurde absichtlich verfälscht.

GA.

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