Zur feierlichen Umwidmung im Mai 2000 kamen fast 400 Glogówer und drei Busse mit Glogauern. Der damals 42-jährige Stadtpräsident Zbigniew Rybka sagte: "Wir dürfen nicht vergessen, dass es Konzentrationslager gab und gemordet wurde. Aber man muss auch wissen, dass über den Tod vieler Menschen in Gefängnissen nur ihre Angehörigkeit zur polnischen oder deutschen Nation oder ihr Name auf der entsprechenden "Volksliste" entschieden hat und nicht ihre persönliche Schuld . . . Wenn wir die Inschrift auf diese Weise verstehen, dann sind wir schon einen Schritt weiter."
In Wirklichkeit hatten die Glogówer und Glogauer schon viele Schritte bis zu diesem Tag getan. Als er aber heranrückte, war denn doch etwas Angst vor der eigenen Courage aufgekommen. Die höheren politischen Instanzen hielten sich bedeckt. Gegen mögliche niedere Instinkte aus der Bevölkerung ließen die Stadtväter einen privaten Wachdienst anrücken. Der observierte den steinernen Reichspräsidenten a.D. in den Tagen und Nächten vor der Umwidmung.
Alle Sorge war überflüssig. Bis heute hat niemand das Denkmal mit antideutschen Parolen beschmiert. Auf den Parkbänken am frisch angelegten Rondell sitzen alte Männer und junge Frauen mit ihren Kinderwagen. Das lichter werdende Laub gibt jetzt wieder letzte Zeugen der einst deutschen Stadt frei: das alte Jesuitenkolleg, das klobige Gerichtsgebäude, die Ruine der Nikolauskirche, den Rathausturm, für dessen Rekonstruktion der Glogauer Heimatbund finanzielle Hilfen organisierte.
Als die schlesische Stadt mit ihren heute 75 000 Einwohnern das Ebert-Denkmal umwidmete, hatte die CDU-Abgeordnete und Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach die Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" noch nicht gegründet. Es wäre gut gewesen, wenn sie sich in den Jahren zuvor einmal in der Oder-Stadt umgesehen hätte. Denn Glogów bietet den besten Anschauungsunterricht dafür, dass gerade die "Orte der Vertreibung . . . Orte der Neuverknüpfung, vielleicht auch der Stiftung von Kontinuität über Grenzen und Brüche hinweg sein könnten" (so schrieb es Karl Schlögel in der ZEIT Nr. 31/03). Wohingegen die Pläne für ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin die östlichen Nachbarn misstrauisch befürchten lassen, dass damit deutsche Schuld relativiert werden soll.
In Glogów läuft ein Lehrstück, wie man es besser machen kann und solle - und dieses Stück bleibt weiter auf dem Programm. Um die Akteure zu verstehen, muss man wissen, dass sich die Stadt, die immer nahe der uralten Heerstraße zum stets umkämpften Oder-Übergang gelegen hat, seit je auskennt in bitteren Zeiten. Aus ihr stammt und in ihr starb mitten während einer Sitzung der Glogauer Landstände der große Leidensmann, der Krieg und Vertreibung schon vor 375 Jahren ins Zentrum der deutschen Barockdichtung setzte: Andreas Gryphius. Seine Traurklage des verwüsteten Deutschlands, später in Thränen des Vaterlandes umbenannt, verfasste der Lyriker und Syndikus 1636, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Das Sonett, das mit den Zeilen beginnt "Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret!" und das den Expressionismus längst vorwegnahm, wurde den Deutschen gerade nach 1945 wieder zum apokalyptischen Zeitgedicht.
"Gantz verheeret" wurde Schlesien, das vom 10. bis 12. Jahrhundert noch polnisch beherrscht war, schon durch die einfallenden deutschen Kaiser. Die urbs Glogua, die der Chronist Thietmar von Merseburg im Jahre 1010 erstmals erwähnt, war damals eine tapfere Feste der polnischen Fürsten. Der anonyme Verfasser der ältesten Polen-Chronik schildert 1113 die - erfolglose - Belagerung der Stadt durch Kaiser Heinrich V.:
"Die Deutschen warfen mit ihren Schleudern große Steine und Feuer in die Stadt. Die Polen jedoch ließen Mühlsteine und große Klötze mit spitzen Pfählen von der Mauer herabrollen. Sie gossen siedendes Wasser auf die Feinde. Die Deutschen trieben Sturmböcke auf Wagen an die Mauern und richteten Leitern auf. Die Polen wiederum versuchten, die Feinde mit langen eisernen Haken in die Höhe zu ziehen."
Nur wenige Jahrzehnte später begannen Polens Fürsten, deutsche Mönche und Bauern in Schlesien anzusiedeln. Dieser Zustrom, später Ostkolonisation genannt, schwoll bis zum 14. Jahrhundert stetig an. 1253 - vor genau 750 Jahren - ließ der Polenherzog Konrad II. seine Residenz Glogau mit Magdeburger Stadtrecht und nach deutschem Muster ausstatten. Nach der Herrschaft der schlesischen Piasten gehörte die Oder-Stadt nacheinander Böhmen und Habsburgern. 1740 kam sie zu Preußen.
Im Zweiten Weltkrieg gingen die Zeugen aus sieben Jahrhunderten Baukunst unter. Trümmer der Altstadt dienten als "Steinbruch" für Ziegel zum Wiederaufbau Warschaus. Erst 1980 entwickelte eine Gruppe von Architekten ehrenamtlich ein Konzept für den Wiederaufbau der Altstadt. Was die jungen Polen dazu bewog, formulierten sie in der Kronika Glogówska: "Die Glogówer leben in anonymen städtebaulichen Strukturen, ohne das Bewusstsein eines durch Jahrhunderte gestalteten Stadtbildes zu besitzen, ohne sich auf eine in die Mauern eingefasste Geschichte ihrer Vorgänger stützen zu können."
Fünf Jahre später begann der Wiederaufbau - und zugleich die vorsichtige "Neuverknüpfung" mit den "Vorgängern". 1985 besuchte Klaus Schneider zum ersten Mal nach der Evakuierung 1945 wieder seine Heimatstadt. 1937 in Glogau geboren, hatte er in der Bundesrepublik Altphilologie studiert, sich später als IT-Berater betätigt und sich nicht übermäßig für die Heimat interessiert. "Aber wenn man erst einmal in Glogau gewesen ist, sieht alles plötzlich ganz anders aus", erinnert er sich heute. Schneider begann, Polnisch zu lernen, kontaktierte den Glogauer Heimatbund, schrieb dem Direktor einer staatlichen Baufirma in Glogów, ob man den Wiederaufbau der Stadt nicht unterstützen könne. Der Direktor lud ihn gleich ein und wollte den Gast sofort zum damaligen Stadtpräsidenten bringen. Der aber kniff - die "Vorgänger" waren in der schlesischen Provinz noch höchst suspekt.
Drei Jahre später rief der polnische Baudirektor den deutschen Glogauer an: "Wir haben jetzt einen neuen Stadtpräsidenten, mit dem kann man über alles reden." Jacek Zieli´nski hieß der Mann - und alle Furcht vor "Revanchisten" war ihm fremd. Mit Schneider redete er 1989 sogleich über offizielle Kontakte zu den Organisationen der Heimatvertriebenen. "Ich bin doch auch vertrieben worden", sagt Zieli´nski, inzwischen Vorsitzender der Gesellschaft des Glogówer Landes, noch heute. "Fünf Jahre war ich alt, im September 1939 in Gnesen. Fünf Minuten hatten wir, um mitzunehmen, was wir an uns reißen konnten. Ich kann mir genau vorstellen, wie die Deutschen litten, die in 15 Minuten packen mussten. Nur eines darf man nicht verdrängen: Wer all das ausgelöst hat . . ."
Noch Ende 1989 lud Zieli´nski die Vorsitzenden des Glogauer Heimatbundes ein. Schneider auf der anderen Seite bat die Stiftung Kulturwerk Schlesien, die Künstlergilde Esslingen und das Sozialministerium in Düsseldorf um kulturelle Zusammenarbeit mit seiner Heimatstadt.
So hob sich der Vorhang zum Lehrstück von Glogau & Glogów. 1. Akt: 80 Glogauer kommen im Oktober 1991 in das wiederaufgebaute Schloss. 2. Akt: Der Glogauer Heimatbund vermittelt Glogów die Partnerstadt Langenhagen bei Hannover. 3. Akt: 1992, 1994, 1996 wird der Andreas-Gryphius-Preis nicht wie üblich in Düsseldorf, sondern in der Heimatstadt des Barockdichters verliehen. 4. Akt: Im Dezember 1995 wird der rekonstruierte Turm auf das Rathaus gesetzt. Für seinen Wiederaufbau im historischen Stil hat der Glogauer Heimatbund Mittel aus dem deutsch-polnischen Fonds besorgt. In die neue Turmspitze kommt zu den Zeugnissen des Jahres 1995 auch ein Exemplar des in Hannover gedruckten Heimatblattes Neuer Glogauer Anzeiger.
"Herzlichen Dank unseren deutschen Freunden", sagt später der Stadtpräsident Rybka bei der Eröffnung des Rathauses im Jahre 2002. "Der Wiederaufbau des Rathausturmes hat uns ein unvergessliches Erlebnis beschert, vergleichbar den Empfindungen der mittelalterlichen Stadtbürger, als ihr Rathausturm über die niedrigen Dächer herausragte als Inbegriff des städtischen Lebens."