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Schon die Neunzahl der im griechischen Gewänderstil gehaltenen Friestafeln an der oberen Eingangsfront unseres Theaters verrät, welcher antiken mythologischen Tradition dieses kleine Kunstwerk verpflichtet ist: Es stellt natürlich die neun Musen dar. Sie bildeten im 19. Jahrhundert und namentlich in dessen erster Hälfte, als der Bau des Glogauer Stadttheaters entstand (1838/40), im Zuge der damals vorherrschenden (neo-) klassizistischen Kunstrichtung ein beliebtes Ornament an allen europäischen Theater- und Konzertgebäuden. Meist stellte man sie sich singend und tanzend unter Führung des Licht- und Musengottes Apollon vor (daher auch 'A.Musagetes' genannt). Der Bühnenvorhang auch unseres Theaters in Glogau zeigte bekanntlich den Apoll umringt von den neun Jungfrauen mit ihren sie kennzeichnenden Attributen.
In der griechischen Mythologie waren die Musen - ursprünglich nur drei an der Zahl - die Töchter des Göttervaters Zeus und der Mnemosyne, der Göttin des Dichtersanges und überhaupt aller (nicht-handwerklichen) Künste und Wissenschaften. Die Philosophen der Platonischen Akademie ebenso wie später die Philologen der Alexandrinischen Bibliothek versammelten sich um ein Musen-Heiligtum, das 'Museion'. Aus diesem Wort entstand unser Begriff 'Museum'. Als neun junge Damen erscheinen sie zuerst beim Geschichtsdichter Hesiod um 700 v.Chr. und von da ab durch alle Zeiten und Kunststile hindurch bis auf den heutigen Tag. Goethe etwa überschreibt die neuen Kapitel-Gesänge seines bürgerlich-idyllischen Epos 'Hermann und Dorothea' mit den Namen dieser neun Musen. Ein Beweis dafür, wie lebendig sie noch im Bewusstsein seiner Zeit waren.
Wie er (und viele andere) springt auch der Steinmetz unseres Glogauer Frieses recht willkürlich mit der in der Tradition vorgegebenen Reihenfolge der neun Grazien um. Auch mit deren einst fest verankerten Identifikations-Beigaben nimmt er's nicht so genau. Darin allerdings stand er seit geraumer Zeit nicht allein.
1) Korrekt jedoch beginnt er mit Klio, der Muse der Geschichtsschreibung, erkennbar stets am Symbol der Schriftrolle. Aber schon hier im ersten Bild erweitert er, wie bereits seit der Renaissance gelegentlich anzutreffen, die traditionelle Vorlage um zwei wesentliche Bestandteile: einmal vermehrt er die Einzahl der Muse in eine Vielzahl von Figuren, zum anderen verwandelt er dabei auch das Geschlecht einiger von ihnen ins männliche - wie unschwer an der anderen Gewandung und Haartracht auszumachen. Die Ursache solch einer Mutation liegt nahe: Für einen breitgezogenen Fries eignen sich chorische Darstellungen, dazu mit beiderlei Geschlecht besser, als neun einzelne weibliche Figuren. Und die Vielzahl agierender Gestalten pro Friestafel war ja in der Tradition des griechischen Tempelfrieses habitualisiert (zuerst in den Zwischenfeldern der Metopen).
2) Die zweite Muse ist Kalliope, zuständig für Epos und Elegie - so auch in unserem Fries. Aber als ihr Erkennungszeichen fungiert nicht wie üblich die Schreibtafel, sondern der Prototyp epischer Dichtung, der greise und zumeist als blind dargestellte Dichter der Ilias und der Odyssee, Homer. Hier greift er aus dem Korb des von der Geschichte mitgeteilten Stoffes (siehe die gleiche Materie - Erdklumpen ? - im Gewandschoß der rechten Frauenfigur vom 1. Bild) blindlings die Brocken heraus, die er im Feuer auf dem Altar der Poesie zur reinen Dichtung läutert. Eine äußerst aussagekräftige Allegorie für den poetischen Schöpfungsakt.
3) Von der dritten Friestafel ab verläßt der Glogauer Steinmetz die traditionelle Reihenfolge der Musen - vermutlich aus künstlerischen Gründen. Es folgt jetzt bei ihm Terpsichore, die Musengruppe der chorischen Lyrik, die aber als solche nur schwer zu identifizieren ist und auch von der Komposition her sicher das schwächste Bild der Sequenz darstellt. Die Maske in der linken Hand der Frau am rechten Bildrand weist wohl auf die Zugehörigkeit dieser Muse zum griechischen Schauspiel hin, das bekanntlich von längeren Chorgesängen kontemplativer Art durchzogen wird. Der ausgeleerte Krug der ersten Figur und das lodernde Gefäß in der Hand der dritten könnten Zeichen für bestimmte kultische Handlungen oder auch für gewisse Lebensformen und Ideen sein, wie sie der Chor der Tragödie zu artikulieren pflegte.
4) Der Übergang vom dritten zum vierten Feld bleibt unklar. Auf jeden Fall aber signalisieren der Himmelsglobus unter dem Fuß und ein Sternzeichen (?) in der Hand der Hauptfigur die Muse der Astronomie, Urania.
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5) Nicht zufällig steht genau in der Mitte des Friesbandes, dazu über die doppelte Breite ausgedehnt, Melpómene, die Muse der Tragödie. Bildet sie doch in alter wie in neuer Zeit den Höhepunkt dramatischer Schauspielkunst. Für den Eingang zu unserem Stadttheater hat sie der Künstler daher in 5 Figuren (vier weiblichen und einer männlichen) besonders ideenreich und dramatisch vorgestellt. Er verlebendigt das traditionelle Emblem der Tragödie, die zum Zeichen der Trauer an den Mundwinkeln herabgezogene tragische Maske, indem er sie zu abgeschlagenen wirklichen Köpfen stilisiert, offenbar also denjenigen der in der Tragödie getöteten Helden, hier zwei an der Zahl. Der erste von ihnen soll anscheinend auf dem Altar der Poesie - wie im zweiten Bild - geopfert und dadurch idealisiert werden, gemäß der aristotelischen Theorie, wonach die Tragödie Schaudern (nicht Furcht, wie früher angenommen) und Mitleid zu erregen habe. Die auffallend gewaltig und behäbig ausgeführte linke Frauenfigur, wahrscheinlich Athene wegen des Schildes, mutet mit ihrem Helm und Schild wie eine eherne Kriegsgöttin an. Das pathetische Thema vieler Tragödien war ja Kampf und Krieg, wobei der heroische Protagonist zu Tode kam.
6) Im Kontrast zu dieser martialischen Szene strömt die folgende eine heiter gelöste Aura aus mit ihren drei Zimbel-, Schalmei- und Tamburinspielerinnen. Damit kann eigentlich nur Euterpe gemeint sein, die Muse der Musik, die sonst meist mit einer Flöte versehen ist. Dass eine der Damen 'unten ohne' präsentiert wird, ist ebenso ungriechisch wie pikant.
7) Daran schließt sich die am breitesten ausgeführte Szene des ganzen Frieses an, mit der Höchstzahl an Personen, nämlich sieben, drei männlichen und vier weiblichen. Ein bewegtes Treiben mit ebenfalls musikalischen Einlagen bei vier Figuren, mit einer Schirm tragenden Diva, einer anderen mit einem großen Teller (?) und der mysteriösesten von allen: mit einem Schwert durch die linke, die Herzensbrust - Liebesbrunst signalisierend? - - all das lässt eigentlich nur den (immer noch gewagten) Schluss zu, dass es sich hier um Thalia, die Muse der Komödie handeln muss, zu der in neuerer Zeit auch Oper und Operette gerechnet werden müssen. Diese komödienhaften Schauspiele bilden ja nach der Tragödie die zweite große Domäne des Theaters. Insofern passt die überdimensionale Ausführlichkeit des Szenenbildes der Thalia gut zu einem Theaterfries. Das Gaukel- und Schaukelwesen des ganzen Bildes könnte zudem gut aus dem Ursprung der Komödie im alten Griechenland erklärt werden: sie hat sich aus dem heiteren, ländlich-dionysischen Spiel (griech. 'komos') entwickelt. Daher wurde Thalia schon früh mit Hirtenstab und Pauke im Gefolge des Dionysos dargestellt (später jedoch mit der komischen Maske, die Mundwinkel lachend nach oben gezogen).
8) Bleiben noch die beiden Schlussfelder: Zuerst das der (attributlosen) Muse Polyhymnia, die die Künste der Pantomime und des ernsten Liedes vertritt - hier als einziges aller Bilder ohne weibliche Beteiligung, nur von zwei Männern vorgestellt, die sich an den Armen halten. Verwirrend genug!
9) Und zuletzt als neunte Muse - von der Vorlage des Schlesischen Kunstführers her nur fragmentarisch überliefert: Erato, die für Tanz und Liebeslied steht (meist mit einem Saiteninstrument in der Hand), daher von unserem Künstler sinnigerweise von zwei Frauen symbolisiert. Das reigentänzerische Element dieser Muse wird noch durch den Handgriff der ersten Frauengestalt mit der Rechten des halbnackten Mannes aus dem vorigen Bild hervorgehoben.
Damit schließt dieser Zyklus von neun Musengruppen am Fries unseres Stadttheaters. Zwei Bemerkungen dazu noch zum näheren Verständnis des Werkes. Erstens ist daran zu erinnern, dass die neun Musen des (vor-) klassischen Altertums von ihrem mythologischen Ursprung her natürlich einen anderen Stellenwert einnehmen, als es der heutige Begriff der 'Muse' bezeichnet: nämlich einen rein kultischen, in dem Künste und Wissenschaften noch nicht voneinander getrennt sind, und der lediglich eine höhere, quasi idealische Geistigkeit beim Namen fassen will. Spätere Künste wie Malerei, Architektur, Skulptur u.a. fehlen daher ebenso wie die Septem Artes, also die sieben freien Wissenschaften einer weit späteren Epoche.
Zweitens und noch wichtiger: Der eigenwillige Künstler des Glogauer Theaterfrieses verfremdet die traditionelle Darstellung der neun Musen - wie hier wiederholt aufgezeigt - in einem Maße, dass der Eindruck entsteht, als ob er der vorgegebenen Schablone der Musen-Wiedergabe eine oder mehrere andere mythologische oder Theater-Szenen aufstülpen wollte. Die Mutation der Einzahl jeder Muse in eine Mehrzahl von zwei bis sieben Personen pro Feld; ferner die Ignorierung der meisten traditionellen Musenattribute, statt dessen die Einführung von gänzlich neuen Vorgängen und Figuren (Homer für Epos, Elegie / Krug und loderndes Gefäß für chorische Lyrik / Kriegsgöttin, Opferaltar, Männerköpfe etc. statt tragischer Maske für die Tragödie / groteske Szenerie statt komischer Maske für die Komödie / Männer- bzw. Frauenduo für Pantomime bzw. Liebeslied statt Saiteninstrument u.a.) - all diese und mehr Umgestaltungen der mythologischen Thematik führen zu dem Schluss, dass der Steinmetz des Frieses eine oder wahrscheinlich mehrere andere Szenen bzw. Symbole der Gattung Schauspiel hier miteinflechten wollte. Dies zu klären wäre Aufgabe eines Kunsthistorikers.
Für uns Glogauer bleibt vorläufig und vor allem ein herzliches Danke an unseren anderen Künstler, an Hans Joachim Gatzka, der mit der ihm eigenen minutiösen und anschaulichen Wiedergabe von 'Baustoff' unserer Heimat wiederum ein für die meisten von uns längst verschollenes, wenn überhaupt jemals wahrgenommenes kleines Kunstdenkmal zu neuem Leben erweckt hat.
Prof. Dr. Ferdinand Urbanek
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