Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2002

Gut Henzegrund

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Die Berichterstattung des NGA hat sich über fünf Jahrzehnte hinweg ausgiebig mit dem Leben in Glogau, unserer Kreisstadt, befasst. Dafür waren alle Heimatfreunde sehr dankbar. Recht wenig erfuhren wir dagegen über die stärkste wirtschaftliche Kraft im Landkreis, die Landwirtschaft. Sie war der entscheidende Arbeitgeber im Kreis und der Versorger der Städte Glogau, Beuthen, Polkwitz und Schlawa. Ich möchte daher einmal versuchen, aus eigener Anschauung und eigenem Erleben das Geschehen auf einem Gut im Kreis zu schildern. Neben einer großen Zahl von Bauernhöfen gab es über einhundert Güter, also landwirtschaftliche Großbetriebe, im Kreis.

Geboren im Ersten Weltkrieg in Berlin, wuchs ich ab 1920 in Weichnitz bei Dalkau auf. Bis zu meiner Einberufung zur Wehrmacht im Januar 1940 hatte ich die Möglichkeit, das Geschehen auf einem kleineren Gutshof zu erleben. Mein Urgroßvater, Hermann Henze, hatte 1862 das Rittergut Weichnitz erworben. Nach meinem Großvater und meinem Vater sollte ich einmal die Erbfolge fortsetzen. Das Schicksal wollte es anders. So erklärt sich, dass ich schon sehr früh ein waches Auge und ein offenes Ohr für alles Geschehen auf unserem Gut hatte.

Um den Rahmen zu nennen, der umfasst, was ich schildern will, vorweg einige wenige Zahlen: Im Dorf gab es 8 kleine Bauernhöfe, einige Rentner und Häusler mit zusammen 68 Einwohnern. Das Gut hatte eine Belegschaft von 72 Personen. Die Zahlen der Dorfbewohner und der Gutsangehörigen hielten sich etwa die Waage. Ganz anders war hingegen das Größenverhältnis bei der Bodenfläche. Während das Gut 212 Hektar bewirtschaftete, verfügten alle Bauernhöfe zusammen nur über etwas mehr als 25 Hektar. Die Zahl der gutsangehörigen Personen erscheint heute im Blick auf die landwirtschaftliche Nutzfläche unglaublich hoch. Sie war aber durch die kinderreichen Landarbeiterfamilien und die verschiedenen Spezialisten gegeben.

Den Kern der Belegschaft des Ritterguts Weichnitz bildeten die sieben Ackerkutscher. Das waren Männer, die ein Gespür für Pferde hatten und bereit waren, große Verantwortung auf sich zu nehmen. Jeder von Ihnen hatte ein Gespann schwerer Kaltblüter zu pflegen und bei allen erforderlichen Arbeiten auf dem Hof, den Feldern und der Straße zu führen. Die Pferde waren die Energiequelle des Betriebs, solange es noch keine Motoren in der Landwirtschaft gab. Die Arbeit der Ackerkutscher begann im Sommer um 5:00 Uhr, also eine Stunde vor dem allgemeinen Arbeitsanfang um 6:00 Uhr. Die Pferde mussten gefüttert und getränkt werden, bevor sie den Stall verließen. Wenn zum Feierabend alle Leute in der Wohnung waren, mussten die Ackerkutscher noch einen Kontrollgang durch den Stall machen.

In der Gruppe der Kutscher bildete sich von selbst eine bestimmte Rangordnung heraus. Der “Erste Kutscher” hatte morgens und mittags als erster mit den angeschirrten Pferden den Stall zu verlassen. Oder musste ein Feld angepflügt werden, d. h. die erste Furche gezogen werden, dann stand das allein ihm zu. Nur er konnte den Pflug führend mit seinem Gespann eine schnurgerade erste Furche ziehen. In freiwilligem Wettbewerb wollte jeder Gespannführer die best gepflegten Tiere haben. Nur regelmäßiges Füttern, Tränken und Putzen zeigten sich in einem matten Glanz des Haarkleides des Pferdes. Das brachte auch mal ein Lob des Inspektors ein.

War ein Pferd krank oder verletzt, dann sorgte der Kutscher dafür, dass es im Stall blieb und nach tierärztlicher Verordnung behandelt wurde. An zusammenhängenden Feiertagen, z.B. Ostern, musste der Gespannführer seine Pferde zu Fuß bewegen. Kaltblüter neigen bei ungewohnter Ruhe zu Kreuzschlag, einer Lähmung der Hinterhand. Die Ackerpferde waren die Energiequellen des Betriebes bis sie von Motoren abgelöst wurden. Für ihre sorgsame Pflege brachte der Kutscher mehr Zeit am Tage auf, als die anderen Landarbeiter tätig waren.

Bei ihrer Einstellung verpflichtete sich die Ehefrau zur Mitarbeit auf dem Gut. Sie hatte also künftig für ihre Familie zu sorgen und musste 8-10 Stunden täglich dem Betrieb zur Verfügung stehen. Das war bei kinderreichen Familien, wie bei uns, bis zu sieben Kinder, kaum zu schaffen. Nur wenn eine Oma zur Familie gehörte, war die Mutter etwas entlastet. Allzu gern tobten die Kinder auf dem Hof herum, kletterten auf die abgestellten Wagen, versteckten sich im Stroh der Scheunen oder panschten im Wasser des Hofteiches. Das sah der Inspektor nicht gern, denn überall lauerten Gefahren. Ermahnungen und Strafandrohungen halfen da wenig. Ein Kindergarten konnte erst in den dreißiger Jahren eingerichtet werden.

Feldarbeiten waren Sache der Frauen. Rüben und Kartoffeln hackten sie stets in Gruppen, damit sie sich dabei unterhalten konnten. Mistaufladen verlangte hohen Krafteinsatz, wenn der festgetretene Mist mit der Gabel gelöst und dann auf den Wagen geworfen werden musste. Am schwersten aber war das Zuckerrübenroden mit der kurzen Rodegabel von Hand. Erst Ende der zwanziger Jahre übernahm das ein Rübenroder hinter dem Trecker. Die körperliche Leistung einer Landarbeiterin war deutlich höher als die einer Industriearbeiterin. Auch nach Feierabend fand sie keine Ruhe. Da musste das Schwein, das sich jede Familie in einem Stall des Gutes hielt, gefüttert werden.

Außer den Kutscherfamilien waren noch einige Tagelöhner auf dem Gut beschäftigt. Sie wohnten teils bei ihren Familien oder im Dorf. Junge Leute waren froh, wenn sie bei der ständig steigenden Arbeitslosigkeit auf dem Gut Arbeit bekamen. Sie wurden nur zu Arbeiten eingesetzt, die keine Ausbildung voraussetzten.

Die Betreuung einer großen Kuhherde setzte aber eine gründliche Ausbildung voraus. Wir hatten einen sehr tüchtigen Melkermeister, der für die Haltung von 40 Milchkühen im Kuhstall und das zugehörige Jungvieh verantwortlich war. Ihm zur Seite standen zwei Melkerlehrlinge, die noch in der Ausbildung waren. Die Stallarbeiten erforderten viel Kraft, da sie ohne Ausnahme mit der Hand vollbracht wurden. 40 Kühe mussten mit der Hand gemolken, Berge von Grünfutter auf Schubkarren an die Krippen gebracht und die Kühe mit dem Striegel geputzt werden.

Der Melkermeister teilte das Kraftfutter pro Kuh nach Leistungsfähigkeit zu und bemühte sich auf diese Weise den Milchertrag der Herde zu steigern. Beim Melken war er auf peinliche Sauberkeit bedacht, um Reklamationen von der Molkerei zu verhüten. Morgens und abends wurden alle Kühe, die nicht trocken standen, gemolken. Pünktlich um 6:00 Uhr früh mussten die Milchkannen (20 l) fertig gefüllt zur Abfahrt in die Molkerei bereit stehen. Am schwersten war jedoch das tägliche Ausmisten mit Mistgabel und Schubkarre zur Dungstätte vor dem Stall. Die Lehrlinge lernten auch die Aufzucht der Kälber, die in kleinen Boxen in einem separaten Stall standen. Besondere Vorsicht war beim Führen der Zuchtbullen am Nasenring geboten. Bei Viehseuchen, wie Bazillus Bang und Maul- und Klauenseuche, entstand durch Schutzmaßnahmen noch zusätzliche Arbeit für das Stallpersonal.

Um von fremden Kräften unabhängig zu sein und Reparaturen auf schnellstem Wege durchführen zu können, beschäftigten die Güter im allgemeinen mindestens zwei ausgebildete Handwerker. Unser Stellmacher war es, der für die Instandhaltung des ganzen Wagenparks verantwortlich war. Brach eine Deichsel, ging eine Runge zu Bruch oder hatte der Sturm ein Scheunentor zerschmettert, dann behob er die Schäden. Die Messer der Mähmaschinen und die Handhacken der Frauen wurden im Gebrauch bald stumpf. Wenn er sie dann vor seiner Werkstatt abgestellt fand, ließ er den Sandstein anlaufen und schärfte sie mit geschickter Hand. Gern sah ich ihm zu, wenn er Radfelgen ausschnitt, Löcher für die Speichen bohrte und schließlich das Rad zusammenfügte. Auf Millimeter genau musste alles passen, damit das Rad nachher nicht “eierte”.

Der Stellmacher arbeitete viel mit dem Gutschmied zusammen. Wenn z.B. neue Räder zu bereifen waren, so ließ der Schmied in einem Kohlefeuer vor der Schmiede den drei und vier Zoll breiten Eisenreifen rotglühend werden. Dann fassten beide Männer mit langen Zangen den glühenden Reifen und ließen ihn aufs Holzrad runter. Eine Rauchwolke besagte, dass der Reifen passte. Durch einen Guss kalten Wassers zog sich der Reifen zusammen und saß fest auf der Holzfelge. Das Werk war geglückt. Natürlich beschlug der Schmied auch alle Pferde des Hofes. Er richtete verbogene Eggezinken aus und wechselte stumpfe oder verbogene Schare an den Pflügen aus. Waren in den Ställen Gitterstäbe verbogen oder Türverschlüsse defekt, dann brachte er sie mit sicherer Hand in Ordnung. Unsere Handwerker kamen selten zur Ruhe. Auch in der Ernte von Getreide, Heu und Kartoffeln mussten sie ihre Kräfte einsetzen.

Unser Gut besaß mit der Brennerei einen technischen Nebenbetrieb. Sie war der Ursprungsort der Erfindung des Henzedämpfers. Während der Brennkampagne (Oktober bis April) leitete der Brennermeister verantwortlich die Fabrik. Die teils chemische, teils technische Verarbeitung der Kartoffeln wurde vom Meister in Gang gehalten und überwacht. Die Erzeugung des Branntweins erfolgte unter strengen Sicherheitsbestimmungen wegen der leichten Entzündlichkeit und unter ständiger Kontrolle des Zollamtes in Glogau. Neben dem Meister war in der Brennerei noch ein Mann beschäftigt, um die notwendigen Handarbeiten durchzuführen. Er heizte den Dampfkessel, beförderte die Kartoffeln in die Spülanlage, wendete das Malz auf der Tenne und reinigte mittags nach Ende des Brennvorgangs die ganze Fabrik mit Besen und starkem Wasserstrahl.

Das Schmuckstück jeden Gutes war sein Park mit dem Herrenhaus. Ein Bestand an alten heimischen und exotischen Bäumen kündete von der Liebe der Vorbesitzer zur Landschaftsgestaltung. Außer der Pflege einiger Blumenbeete machte unser Park dem Gärtner des Gutes wenig Arbeit. Er hatte aber im Obst- und Gemüsegarten reichlich Arbeit. Der Garten, ein Teil des Gutes, musste ja auch produktiv genutzt werden. Die Küche des Gutshauses brauchte viel Wurzel- und Blattgemüse, um Vorräte für den Winter anzulegen. Gefriergut in Kühltruhen gab es noch nicht. Bei Fahrten in die Stadt wurde Obst mitgenommen und beim Einkauf verrechnet.

Die Arbeitseinteilung und –beaufsichtigung war Aufgabe unseres Inspektors. Wenn morgens am Hoftor die “Bimmel” ertönte, versammelten sich dort alle Frauen und erwarteten seine Einteilung zur Arbeit. Dann gab er im Pferdestall den Kutschern Anweisung, wo geackert, geeggt oder gedrillt werden sollte. Kurz darauf hatten alle Gespanne und Frauen den Hof verlassen.

Traten bei der Arbeit draußen auf dem Feld oder auf dem Hof Schwierigkeiten auf, dann wurde nach ihm gerufen. Er musste Hilfe wissen. Das setzte eine vielseitige und sehr gründliche Ausbildung voraus. Er durfte sich mit seinen Ratschlägen auf keinen Fall blamieren, denn dann war sein Ansehen in der Belegschaft schnell verdorben. Als Betriebsleiter und Stellvertreter des Besitzers war er eine Respektsperson auf dem Gut.

Der Inspektor musste außer fachlichen Kenntnissen aber auch solche in Menschenführung haben. Schon die Art und der Ton der Anrede konnte ihn bei einem Mitarbeiter beliebt oder unbeliebt machen. Musste er eine nachlässig durchgeführte Arbeit rügen, dann zeigte er dem Mann oder der Frau möglichst gleich selbst, wie sie richtig zu machen ist. So vermied er Worte, die beleidigend wirken konnten. Es ist nicht leicht für den Inspektor, das richtige Taktgefühl zu finden, da er mit seinen Leuten gut auskommen aber dem Gut zugleich gut dienen will. Ich habe das auch gespürt, als ich vor meinem Kriegseinsatz unseren Inspektor vertrat.

Wie in jedem größeren Unternehmen so gibt es auch auf einem Gut Menschen, die ihm viele Jahre treu gedient haben und mit Erreichen der Altersgrenze aus dem Betrieb ausscheiden und in den Ruhestand treten. In der recht traditionsbewussten Landwirtschaft bemühte man sich früher, alten Menschen diesen krassen Bruch in ihrem Lebenswandel zu erleichtern. Man ließ sie im allgemeinen in den Betriebswohnungen wohnen, wenn sie nicht dringend für neue Arbeitnehmer gebraucht wurden. Auf eigenen Wunsch ließ man sie durch leichte Arbeiten eine kleine Zulage zur Rente verdienen. Ich habe im Lauf von zwanzig Jahren nicht erlebt, dass eine Betriebswohnung gekündigt wurde. Bei uns herrschten keine amerikanischen Verhältnisse. Zwei Fälle mögen das bestätigen.

Unser herrschaftlicher Kutscher, der schon meinen Großeltern gedient hatte, versorgte auch als Rentner die drei Kutschpferde. Er hätte es nicht überstanden, wenn ihm diese Arbeit genommen worden wäre. Die Pflege der Pferde war seine Lebensaufgabe. Er übte sie bis kurz vor seinem Tod gewissenhaft aus. Ein anderer, noch drei Jahre älterer, Rentner übernahm Mitte der 20er Jahre die Stelle des Nachtwächters auf dem Gut. Durch häufige Brandstiftungen im Landkreis war diese Stelle notwendig geworden. Der Wächter machte regelmäßig seine Runde durch die Ställe. Wenn sich eine Kuh am Krippengitter eingeklemmt oder ein Pferd im Halfterstrick eingeklemmt oder ein Pferd im Halfterstrick verfangen hatte, weckte er den Melker oder Kutscher, um Abhilfe zu schaffen.

von H.-J. Lau-Henze

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