Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 10, Oktober 2015

Das unsichtbare Theaterdirektor

von Ottomar in der Au

2. Fortsetzung aus NGA10/15

Nie wieder mach ich das — jammerte ich — dieses viele fette Wellfleisch und dieses viele nasse Freibier!
Ja, siehst du — triumphierte der Kapellmeister — zu Wellfleisch trinkt man ja auch kein kaltes Bier!
Sondern „Kaffeebohnen", nicht wahr — entgegnete ich ihm bedeutungsvoll.
Nee — belehrte er mich, zynisch auflachend — sondern Arrak mit süßer Schlagsahne oder heißes Öl aus der Provence in Süd-Ost-Frankreich mit ungestoßenem Koks!
Koks? - ermannte ich mich zurückzuschaudern — Koks? Bist du verrückt? Koks brauche ich doch nur zum Gurgeln!
Damit war die Probe an diesem Tage zu Ende. Wir gingen alle nach Hause, legten uns alle ins Bett und ließen uns alle von unseren diversen guten lieben netten besorgten Wirtinnen „pferdekurieren". Und abends zur Vorstellung waren wir alle Gott sei Dank wieder einigermaßen frisch, fromm, froh, frei. Ich sagte soeben absichtlich jedesmal „alle"; denn es waren noch mehr, denen es so ergangen war wie mir. —
Eine solche Pferdekur spielte sich übrigens folgendermaßen ab. Zunächst Hände und Gesicht waschen. Dann eine große Tasse dickflüssigen kalten Brei — wohlgemerkt kalt — von graugrüner Farbe rasch in einem Zug austrinken. Diese undefinierbare Masse stellte eine geheime Spezialfabrikation der Glogauer Zimmervermieterinnen für die Herrschaften vom Theater dar und schmeckte unsagbar scheußlich. Dann sofort ins Bett zum Schwitzen. Man wurde nackt mit enganliegenden Armen wie eine ägyptische Mumie fest in heiße Laken und Tücher eingewickelt, mit diversen Wärmflaschen von oben bis unten und seitwärts bepflastert und eingemauert und mit dicken Federbetten und Wolldecken völlig luftdicht zugepackt. Nur Nasenspitze und Stirn durften sichtbar sein, die Nase listigerweise zum Zweck des Atemholens, und die Stirn, um einen Eisbeutel darauf platzieren zu können.
Hier ist hinsichtlich etwaiger moralischer Erwägungen und Bedenken des Lesers zu bemerken, dass die Glogauer Künstlerwirtinnen ausschließlich lebensgeprüfte geläuterte erfahrene gereifte ältere Witwen waren!
Ja, das wäre es im Großen und Ganzen. Alles Übrige geschah ohne persönliches Dazutun.
Man konnte sowieso aus eigenem Willen nicht mehr viel tun. Die einzige Freiheit, die einem noch verblieben war, dokumentierte sich darin, die Augen nach Belieben jeweils eine Zeitlang offenzuhalten, nur um sie danach gleichermaßen wiederum eine Weile schließen zu können. Man konnte vielleicht noch irgendwie wahrnehmen, dass die Wirtin einen Zimmernachtstuhl und einen mittelgroßen Holzbottich neben das Bett gestellt hatte. In diesem Bottich befand sich zunächst nur ein nasser Schwamm. Ein riesiges Badetuch und einige gewöhnliche Handtücher wurden über eine Sessellehne gehängt. Sodann setzte sich die Wirtin ans Fenster und widmete sich mit hintergründigem Lächeln von neuem ihrer durch die besagten vorangegangenen Manipulationen unterbrochenen Strickarbeit.
Allmählich verzerrten sich die ehemals vertraut gewesenen irdischen Dinge des Daseins im aufgewühlten Hirn zu phantastisch verworrenen Nebelgebilden. Was war das für eine grausame Marter, dass sich auch die Wirtin zu alledem vorerst mehrere Ewigkeiten lang grundsätzlich schweigsam verhielt!
Schließlich drangen dann doch ein paar menschliche Äußerungen vom Fenster zum Bett herüber. Aber selbst diese konnten nicht als befriedigende Antworten angesprochen werden auf die sich immer drängender wiederholenden ebenso ängstlichen wie zusammenhanglosen Fragen seitens der augenrollenden Mumie. Denn sie kamen wie aus weiter unbekannter Ferne und gipfelten alle in dem die malträtierten Sinne nur noch heftiger aufreizenden eintönig gleichbleibenden Satz: Ja ja, liegen Sie nur still, Herr in der Au, in zwanzig Minuten ist alles vorbei, und dann wissen Sie überhaupt von nichts mehr was von!
Es ist unmöglich, die passenden Worte zu finden für das, was sich jetzt im Innern des Körpers vorbereitete, der von außen her bereits wie im eigenen siedenden Safte schwamm. Jener graugrüne Tapetenkleister, dieses giftige Höllengesöff, begann im ganzen Gebein zu gären. In Leib und Kopf entwickelte sich ein immer stärker werdendes Rauschen und Dröhnen. Gedärm und Adern drohten zu platzen. Wie sollte das enden? Die Augen kreisten verzweifelt im Zimmer umher. Dieser klägliche Raum wurde zu eng. Die Augen wurden zu glühenden Kugeln. Sie sprengten die Wände, flogen hinauf ins All, um dort sich verwandtschaftlich einzuordnen in den freieren Rhythmus des Kosmos, um grandios sich zu messen mit dem gigantischen Wirbel
der Sterne . . . Die Wirtin strickte und lächelte - -
O, dieses Lächeln konnte ebenso gut die demütigste Hoffnung eines Engels wie der gemeinste Zynismus einer Hexe sein! Man glaubte an nichts mehr auf der Welt. Was war denn die Welt überhaupt noch!? Ein elendes Jammertal! Niemals würde es je wieder anders werden!
Aber prompt nach zwanzig Minuten legte die Wirtin das Strickzeug beiseite, stand auf, trat ans Bett, und in Blitzesschnelle war man von der teuflischen Wicklung befreit, gnadenlos mit dem kalten nassen Schwamm abgenibbelt, in trockene Tücher gehüllt, auf den Zimmernachtstuhl gestaucht, mit dem Gesicht hart über den Holzbottich gestoßen; und genau in diesem vorberechneten Augenblick — keine Sekunde früher oder später — fand vermittels einer sowohl nach oben wie nach unten gleichzeitig wirkenden urgewaltigen, man möchte fast sagen atomaren Naturexplosion eine unbeschreibliche Generalentleerung des Delinquenten statt.
Durch dieses Wunder fühlte sich „derselbe" schlagartig wie ein neugeborenes unschuldiges Kind, so dass er eben jetzt keineswegs mehr „derselbe" war wie ehedem.
Das war die sogenannte Pferdekur; eine „unbezahlbare" Angelegenheit, die deswegen auch niemals einen Aufschlag auf die Miete zur Folge haben konnte, sondern die einem von den unvergleichlich aufopfernden und gepriesenen Glogauer Zimmervermieterinnen in jahrelang gewohnter Übung an immer wieder neuen Objekten aus purer Liebe zur Kunst appliziert wurde. —
Während Mutter Seebald eine treue Seele war, die immerhin einiges vom Theater verstand, war meine Zimmerwirtin in der Brauhausgasse wohl ebenfalls eine treue Seele, aber vom Theater hatte sie absolut keine Ahnung.
Eines Morgens fragte sie mich unvermittelt: Sagen Sie, Herr in der Au, ich wollte Sie schon längst mal fragen, wo gehen Sie eigentlich vormittags immer hin?
Na, ins Theater — antwortete ich.
Ins Theater? Wieso ins Theater? Was tun Sie denn vormittags schon im Theater? Sie spielen doch erst abends!
Ich wollte ihr erläutern, dass wir Proben hätten, aber sie ließ mich zunächst nicht zu Worte kommen. Sie musste ihre anscheinend mühsam aufgespeicherten Fragen gleich auf einmal loswerden: Und wenn Sie nun abends ins Theater gehen,
wissen Sie dann schon immer, was sie spielen? Und wie kommt es, dass dann abends während der Vorstellung alles immer so schön klappt? Ich meine, woher weiß ein Schauspieler immer schon, dass er aufhören muss, wenn der andere auch gerade mal was reden will?
Da konnte ich nur sanft antworten: Wissen Sie, Frau G . . . , das erkläre ich Ihnen mal, wenn ich etwas mehr Zeit habe. Jetzt muss ich zur Probe! Vielleicht darf ich Sie morgen mit ihrem Mann nachmittags zum Tässchen Kaffee bei mir einladen? Ja? Ich weiß doch, Sie trinken ihn gern süß, nicht wahr?
Ja, ja, das ist wahr — sagte sie erfreut — na ja, dann auf Wiedersehen!

Stadttheater Glogau

>So sah unser Glogauer Stadttheater nach dem letzten Umbau bis 1945 aus . . .<

In Gedanken versunken ging ich über den Stadtwall. Dann hörte ich wie aus weiter Ferne jemand zu mir sprechen — ich war es selbst, der halblaut vor sich hinsagte: Und vor solchen Leuten spielt man nun Theater . . . Aber sie können ja nichts dafür. Und sie brauchen auch eigentlich nichts davon zu verstehen. Sie machen ihre Arbeit und wollen nichts anderes sein als einfache bescheidene Menschen und sind vielleicht glücklicher dabei als wir unruhigen Bühnenleute. Aber der Künstler darf ja gar nicht ruhig oder geruhsam sein. Bei ihm wäre Ruhe Rückschritt. Er ist ein ewig Suchender. Er muss es sein, sonst wäre er kein Künstler. Es gibt bei ihm kein Abschlussziel. Es muss immer weitergehen. Man kann nicht sagen: so, nun bin ich fertig, weiter kann ich nicht mehr! Wenn ein Künstler das sagen wollte, dann wäre es auch sofort aus mit seiner ganzen Kunst. Und das Publikum? Ich glaube, man kann es nie zu etwas erziehen, was es nicht versteht, und auch nicht zu verstehen braucht, weil ihm die Vorbereitung und damit die Bereitschaft zum Verständnis mangelt. Ein Kind freut sich und empfindet Wohlbehagen, einfach nur so, ohne zu verstehen, warum das so ist. Und so verhält es sich auch mit dem natürlichen naiven Zuschauer. Und wir müssen vor ihm ebenso gern und ernsthaft Theater spielen, wie wir vor Kindern mit besonderer ernsthafter Lust und Liebe Märchen spielen müssen, unter Einsatz unseres Könnens. Wir dürfen die — man darf es wohl getrost so nennen — heilige Hingabe des Kindes beim Zuschauen nicht enttäuschen. Wir müssen immer daran denken, dass der erste Theaterbesuch für ein Kind ein Kunsterlebnis sein kann, das es vielleicht sein ganzes Leben lang nie vergisst. Mir selber ist es als Kind ja eigentlich auch so ergangen. Schauspieler sein heißt: Verantwortung tragen . . .
Ja, meine Wirtsleute in der Brauhausgasse waren ordentliche Menschen. Den Mann konnte ich ebenfalls gut leiden. Er war Gelegenheitsarbeiter und sie Zigarrendreherin in einer kleinen Tabakfabrik. Sie hatten unverbildete gesunde Ansichten und ein gutes Herz. Sie hatten vor kurzem ihr einziges Kindchen verloren. Sie kannten allen Schmerz des Lebens wie andere Menschen auch. So kannten sie auf der anderen Seite auch ihre Freude und ihre Zufriedenheit. Und sie waren so glücklich zu wissen, welche Art von Freude für sie allein in Frage kommt. Und das ist auch eine Kunst. Denn das wissen viele von den gebildeten Menschen oftmals nicht. Sie waren also reicher als solche Menschen, die möglicherweise mehr Geld besaßen, und doch unzufrieden. Sie waren gebildet im Herzen. Sie besaßen ein unverdorbenes Gemüt. Ich wohnte immer gern bei braven Leuten, die wissen, dass sie nichts anderes sein können als einfache anständige Arbeiter, und die deshalb auch nichts anderes sein und scheinen wollen. Solche Menschen besitzen stets meine uneingeschränkte Sympathie.
Schlimm ist es dagegen, wenn man bei den sogenannten Halbgebildeten, die mehr scheinen wollen, als sie sind, die abwegigsten Ansichten über das „Künstlervölkchen" erfahren muss. Hier begegnet man oft der mehr oder weniger geringschätzigen und schädlichen Meinung, die Tätigkeit eines Schauspielers bestehe nur darin, leicht auf der Bühne hin- und herzugehen und unnatürlich zu reden dabei.
Selbst die Ämter in Glogau wussten mit uns nie etwas Rechtes anzufangen. Künstler gab es für sie nicht. Einmal sollten wir in Steuersachen angeben, wieviel Stunden in der Woche wir eigentlich arbeiteten. Die Beamten wunderten sich sehr, als wir das mit dem besten Willen nicht tun konnten. Sie wurden äußerst misstrauisch. Sie verstanden das durchaus nicht und meinten, jeder andere ehrliche Mensch wisse doch, wieviel Stunden er zu arbeiten habe. Als wir erklärten, dass wir unsere Tätigkeit wirklich nicht so nach abgemessenen Stunden berechnen könnten, da wir ja auch manchmal nachts lernen müssten und oft — wie sie wohl wüssten — auch sonntags zu spielen hätten, und dass dieses sogar noch anstrengender sei als wochentags, wenn wir zum Beispiel Matineen hätten, nachmittags Märchen und dann noch die Abendvorstellung, da schüttelten sie nur ungläubig die Köpfe und sagten, dann müssten sie uns in die Rubrik „Binnenschiffer" einstufen.
Nun hätte ich ja gern einmal so einen „Kollegen" von der Binnenschiffer-Fakultät kennengelernt, aber ich hab nie einen zu Gesicht bekommen.
Am nächsten Tag hatte ich also meine guten Wirtsleute in meinem Zimmer zum Kaffee. Sie hatten mal geäußert, dass sie auch gern viel Kuchen dazu aßen. Ich hatte die Schnittchen gekauft, die sie am liebsten mochten. Ich hatte extra feinen Kaffee gekauft und viel feinen Zucker, denn sie liebten ja den Kaffee auch recht süß. Ich hatte sogar für alle Fälle Sahne besorgt, obwohl ich wusste, dass sie den Kaffee lieber schwarz tranken.
Ich schenkte ein, forderte sie zum Zulangen auf und begann versuchsweise ein Gespräch, von dem ich annahm, dass es sie interessieren würde. Ich erzählte so das Übliche vom Theater, für einfache Außenstehende berechnet. Die beiden hörten stumm und andächtig zu.
Nach einer geraumen Weile stellte ich fest, dass sie wohl jeder, zaghaft, ein Stück Kuchen gegessen, aber noch keinen einzigen Schluck Kaffee zu sich genommen hatten. Ich fragte, warum sie denn den schönen Kaffee kalt werden ließen, sie tränken ihn doch auch wie ich am liebsten heiß, und Zucker sei doch ebenfalls genügend vorhanden.
Ja, das schon — erklärte jetzt Frau G. zögernd, als die gewandtere Sprecherin
von beiden — das schon, aber das sei es ja eben, sie mochten doch keinen feinen Zucker, doch nur Würfelzucker! Sie nähmen bei jedem Schluck immer ein Stück in den Mund und ließen dann den Kaffee so darüberlaufen! Und wenn sie keinen Würfelzucker hätten, dann tränken sie auch den besten Kaffee nicht!
Bums, da machte ich ein langes Gesicht! Die von mir so gutgemeinte Kaffeestunde war also für diesmal geplatzt.
Und damit wollte ich nur sagen, so ehrlich und wahrheitsliebend waren diese einfachen und bescheidenen Wirtsleute. So ordentlich, sauber und ohne Winkelzüge wie in ihrem Haushalt, so waren sie auch in ihrem Innern. Sie äußerten ungeschminkt das, was sie auch wirklich meinten. Und das — meine ich — sollten alle Menschen tun, dann gäbe es nicht so viel Missverständnisse in der Welt.
Als ich dann die Kaffeestunde später noch einmal wiederholte, aßen sie, kindlich erfreut, fast ein ganzes Pfund Würfelzucker dabei auf; was nun auch mir wiederum einen mächtigen Spaß bereitete.

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