Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2015

Die Flucht aus Brieg

von Gisela Seifert geb. Pietsch

 

Unser Heimatdorf Brieg (Kreis Glogau) lag im schönen Odertal, an der Bahnstrecke Berlin -Breslau. Wir hatten einen kleinen Bauernhof mit fruchtbarem Land und saftigen Wiesen. Im Jahre 1939 rollten Militärkolonnen durch unseren Ort gen Osten und im Herbst begann dann dieser sinnlose Krieg. Die ältere Generation sah diesem Geschehen mit Grausen entgegen. Dieser Krieg tobte dann an so vielen Ecken und Enden dieser Welt, bis dann 1944 überall der Rückzug angetreten werden musste.
Es begann dann im Herbst 1944, da wurden im Odertal Bunker gebaut und tiefe Gräben gezogen die der Verteidigung dienen sollten, denn der Krieg und die Front kamen immer näher. "Schänzel1 nannte sich die Abteilung. Sie wurden alle im Dorf einquartiert. In der Waschküche im Kessel wurde das Essen für Sie gekocht.
Um Weihnachten herum hörten wir dann schon dumpfe Kanonenschläge und sogar verirrte Bomben vielen auf unser schönes Schlesien nieder. Die Silbervögel, so nannten wir die hochfliegenden Bomber, zogen am Tage über uns hinweg, die in der Nacht die Städte bombardierten. Die Angst wurde immer größer, dann zogen viele Flüchtlingstrecks durch unser Dorf und jede Nacht hatten wir Einquartierungen. Wir versorgten die durchgefrorenen Menschen mit warmen Essen, und Trinken und die Pferde bekamen in der Scheune eine Unterkunft. Im Dorf wurde immer wieder beraten, ob wir evakuiert werden sollten. Uns wurde gesagt, wir vom Odertal müssen fort weil dort Kampfzone werden sollte.
In den letzten Januartagen 1945 wurde unser Treck zusammengestellt. Die Eltern bereiteten alles für die Flucht vor. Mutter hatte am 26.01. Geburtstag, da gab es nochmal Mohnkuchen und Pfannkuchen (Krapfen). Wer Pferd und Wagen hatte musste noch andere mitnehmen die kein Gefährt hatten. So wurde das nötigste auf den Wagen geladen. Die Betten wurden fest zusammengerollt, ein paar Kleider hauptsächlich warme Sachen, Stiefel, was zum Essen und vor allem Futter (Heu und Hafer) für die Pferde, denn Sie sollten uns ja aus dem Kriegselend bringen.
Vieles wurde vergraben und dem Schicksal überlassen. Wir wussten ja nicht wie lange wir fort sein würden. Uns wurde gesagt, ein paar Wochen dann können wir wieder Heim. Ein paar Männer mussten zurück bleiben um die Tiere zu versorgen und zu melken. Es war ein schrecklicher Gedanke so einfach Haus und Hof zu verlassen, hauptsächlich für meine Eltern. Mein Vater war vom ersten Weltkrieg her schwerbeschädigt, er hatte ein steifes Bein. Mein Bruder Erich war seit Juni 1944 vermisst. Er war in Russland an der Mittelfront bei der leichten Artillerie als Funker und ist beim Rückzug von einem schweren Gefecht nicht wieder zurückgekehrt. Bis heute ist sein Schicksal ungeklärt.
Am 28.01.45 bei klirrender Kälte und leichtem Schneefall war es dann soweit, da mussten wir mit dem Treck fort. Um 9 Uhr kamen aus allen Gehöften die vollbeladenen Wagen, oben drüber ein Gestell mit Läufern und Decken behangen als Schutz vor Kälte und Schnee. Dann fuhren wir los, den ganzen Tag mal stehend und frierend zu Fuß. Unterwegs kamen dann von den Nachbardörfern weitere Wagen, die sich uns anschlossen, sodass unser Treck 5 km lang wurde. Der Treck wurde von dem Brieger Bürgermeister Ernst Menge und Herrn Lehrer Alfred Thiel angeführt. Wir fuhren zwischen Panjewagen und Militärkolonnen, welche auch auf dem Rückzug waren. Am Straßenrand lagen Tote, Erfrorene und kaputte Wagen, welche in den tiefen Schnee abgerutscht waren, und immer wieder die Silbervögel über uns.
Ein paar Männer fuhren voraus um Quartier zu machen, wie man so schön sagt. Die Reise ging über Beuthen nach Lessendorf, dort war unser erstes Quartier. Jeder hatte ein Dach über dem Kopf, die Pferde wurden in der Scheune untergebracht. Es gab auch was zu Essen. Hundemüde und durchgefroren schliefen wir auf dem Lager ein.
Am zweiten Tag ging es dann weiter bis Herwigsdorf, dort hatten wir ein gutes Quartier bei Familie Raschle, das waren Großbauern. Es gab zu Essen und die Pferde waren gut untergebracht. Der dritte Tag war ein Ruhetag. Am vierten Tag zogen wir bis Schönbrunn Krs. Sprottau. Bei Frau Schreiber wurden wir gut aufgenommen. Dann gab es zwei Ruhetage. Von dort wurden dann die Frauen mit Kindern und Ältere, die nicht mehr laufen konnten, nach Sagan zum Zug gebracht, der sie irgendwohin ans Ziel bringen sollte. Mühlhausen wurde genannt, das hegt im Thüringerland.
In Großbodungen waren viele von uns untergebracht. Viele von den Nachbartrecks sind in Sachsen geblieben um dort das Ende des Krieges abzuwarten. Wir, bei denen die Pferde noch laufen konnten mussten weiter ziehen. So ging es dann am siebenten Tag weiter bis Hartmannsdorf Krs. Sprottau zu Familie Wonneberger. Dort hatten wir ein Massenquartier, dreizehn Personen in der Stube. Wir aber waren ja froh ein Dach über dem Kopf zu haben. Der 8. Tag war ein Sonntag und Ruhetag. Am 05. Februar 1945 (9. Tag) ging es bis Freiwaldau. Dort waren die Pferde in der Ziegelei untergebracht/ und wir wurden bei Familie Meißner gut aufgenommen. Die Kutscher waren dort bei den Pferden. Am 10. Tag war unser Quartier "in Gärichen Krs. Rothenburg/Oberiarxsrtz bei Familie-Kaubisch einer Fahrradhandlung, gut. Elfter und zwölfter Tag Ruhetag.
Am 09. Februar 1945 ging es nach Altwiese bei Niesky zu Familie Geißler und Schulze, gut. Dort hatten wir sieben Tage Aufenthalt. So dachten wir schon wir sind am Ziel, aber es kamen ja immer noch mehr Trecks. Wir erlebten dort die Nacht an dem Dresden bombardiert wurde. Es war ein schreckliches Schauspiel, der Boden dröhnte und der Himmel war am Horizont ganz hell, obwohl wir noch fast 100 km weit davon entfernt waren.
Es ging dann am 20sten Tag (16.02.45) weiter bis Matschwitz Krs. Bautzen bei Familie Thomas, gut. Am 21.sten Tag fuhren wir bis Kleinbasewitz Krs. Kamenz bei Familie Hämisch, dort wurde wendisch gesprochen, was wir nicht verstehen konnten. Der 22sten Tag war ein Sonntag und Ruhetag. Wir gingen in die Kirche aber verstanden kein Wort. Am 23sten Tag fuhren wir bis Neunkirch Krs Kamenz bei Familie Nickisch, dort war es gut. 24sten Tag nach Mitteloberebersbach bei Radeburg zur Familie Schulze, gut. Am 25sten Tag fuhren wir bei Meißen über die Elbe nach Seeligstadt bei Frau Stelzer, gut. Dort fingen dann die Berge an, da mussten wir uns einen Hemmschuh machen lassen, da unsere Pferde die schweren Wagen an den Bergen nicht mehr halten konnten. 26sten und 27sten Tag Ruhetag. Am 28sten Tag fuhren wir bei Nossen über die Freiberger Mulde. An diesem Tag fuhren wir insgesamt 40 km über viele Berge und kamen zwanzig Uhr bei Familie Richter in Greifendorf bei Hainichen Krs. Döbeln an.
Am 29sten Tag Ruhetag, da gab es ein Soldatenkonzert zu hören. Wie schön für uns, mal etwas Anderes zu hören. Am 30sten Tag nach Ottendorf Krs. Rochlitz bei Familie Winkler, gut. Dort mussten die Pferde beschlagen werden. Durch die vielen Berge und schweres Ziehen hatten sie sich wundgelaufen, da sie doch Ackerpferde waren und das viele Straßenlaufen nicht gewohnt waren. So bekam ein Pferd zwei Beine und das andere ein Bein beschlagen. Denn am nächsten Tag mussten wir wieder weiter. Am einunddreißigsten Tag ging es weiter bis Oberfrohna-Russdorf bei Limbach zur Familie Sebastian Hugo, gut. Am 32sten Tag war Ruhetag, dort sind dann die anderen Beine der Pferde beschlagen wurden.
Am 33sten Tag nach Lipprandis Krs. Glauchau bei Familie Arno Schilling, gut. 34ster Tag war Ruhetag mit Schneegestöber. Am 35sten Tag fuhren wir bis Reinsdorf bei Zwickau zu P. Vogel Poststraße 5, gut. Die nächsten drei Tage waren Ruhetage mit Schneefall und Frost. 39ster Tag nach Brunn bei Reichenbach im Vogtland zu Familie R. Schreiner, gut. 40ster Tag nach Thoßfell Krs. Plauen zu Familie W. Eisel und W. Seidel in eine Bäckerei, dort ging es uns gut. 41ster Tag nach Kleinzöbern Krs. Plauen zu Familie Rothe.Skriebeleit Treck

42ster Tag nach Oberhartmannsreuth Krs. Hof zu Familie Strunz. Am 43sten Tag, es war ein Sonntag, ging es nach Wölbattendorf Krs. Hof zu Familie Spitzbart, gut. Zwischen Plauen und Hof sind wir mal ein Stück Autobahn gefahren.
44ster Tag nach Solg bei Münchberg zu Familie Seiferth, schreckliches Quartier, wir wurden "sogar bestohlen. 45ster Tag Ruhetag mit Schneefall. 46ster Tag nach Nemmersdorf Krs. Berneck zu Familie Wagner. Dort hatten wir gute Verpflegung und Unterkunft bei schönen Wetter. 47ster Tag nach Mistelbach Krs. Bayreuth bei Familie Schilling mit guter Verpflegung. Am 16. März 1945 (48ster Tag) ging es nach Pfaffenberg in die Fränkische Schweiz mit ihren vielen Bergen und Felsen, zu Familie Böhner mit guter Verpflegung. Nur die Pferde haben das Wasser nicht saufen können, es gab keinen Brunnen sondern nur eine Zisterne. Das Wasser war dort so schlecht, dass wir es von weit herholen mussten.
Von dort aus wurden wir nach drei Ruhetagen (19./20.03.1945) zur Endstation nach Allersdorf bei Gößweinstein Krs. Pegnitz geleitet. Wir wurden bei Familie Lang und Geck gut aufgenommen. Dort mussten wir dann das Kriegsende abwarten.
Als wir die Amerikaner kommen sahen, die human mit uns waren, konnten wir glücklich sein, den Russen entronnen zu sein. So ist uns die Fränkische Schweiz zur zweiten Heimat geworden.
Wir jungen konnten ja eine Arbeit finden, aber für die Eltern und Älteren war es sehr schwer in der Fremde zurecht zukommen. Ich habe immer eine Arbeit gehabt und 1954 den Georg Seifert aus Gutendorf-Grünbach (Weckelwitz) geheiratet und nach Glashütten Krs. Bayreuth gezogen. 1964 haben wir uns hier ein Siedlungshaus gebaut und waren glücklich und zufrieden als Neubürger. Kinder haben wir keine. 1974 verstarb mein lieber Georg.
Meine Eltern liegen hier in Glashütten auf dem Friedhof, Vater Pietsch starb 1966 und Mutter 1970. So bin ich allein übrig geblieben von der Familie Pietsch aus Brieg.
Ich habe einen lieben Menschen als Lebensgefährten gefunden, der Schlesien auch schon gesehen hat, als im Jahr 1978 unser Döring Heinz aus Brieg eine Busfahrt nach Brieg organisierte.
Mit einem wehmütigen Gedanken an unsere schöne alte Heimat geht es mir gut. Der Herrgott hat uns den neuen Weg geführt und vor allem Unheil beschützt in guten und in schweren Tagen mit dem schönen Spruch am Ende:

Weiß ich den Weg auch nicht
Du weißt ihn wohl,
wie man wahrhaftig wandeln soll.

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