Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2010

Die Große Oderstraße

 

 

von Hans-J. Gatzka

 

Ein kurzes Stück Glogau, von der Lange Straße leicht abfallend und in geschwungener Linie, etwa 100 Meter bis zum unteren Ende. Dort, wo sich die ziemlich enge Straße nach Norden öffnet, befindet sich der freie und lichte Platz vor dem Glogauer Schloss. Dem Verlauf der Straße über den Schlossplatz folgend, eröffnet sich die Oderbrücke. Hindenburg-Brücke hieß sie zu unserer Zeit, benannt nach dem ehemaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der übrigens in Glogau die Schule besuchte. Die Brücke verbindet die Stadt mit dem Domstadtteil, den wir kurz Dom nannten, weil auf diesem Terrain die im Stil der Backsteingotik erbaute Domkirche stand. Am domseitigen Brückenjoch beginnt die Hauptstraße dieses Stadtteils, der Dom-Steinweg, der sich bis zur Ostlandbrücke hinzieht.
Analog zur Großen Oderstraße gab es die Kleine Oderstraße, eine unscheinbare und kaum bekannte Straße, die an der rechten Seite des Schlossplatzes parallel zur Oder verlief und am Dominikanerplatz endete..
Eine zweite Straßenverbindung vom Domstadtteil zur Glogauer Innenstadt war die Bailstraße, die ebenfalls zur Lange Straße führte.
Als das von mir gezeichnete Straßenbild entstand, das ich nach einer uralten Postkarte gezeichnet und erweitert habe, waren sicherlich Einbahnstraßen noch unbekannt und überflüssig, obgleich die Große Oderstraße bereits damals einem hohen Verkehrsaufkommen standhalten musste, da der gesamte Versorgungsverkehr, auch aus dem Glogauer Umland, über eine der beiden Verbindungsstraßen ablief. Andere Straßenverbindungen, über die man von der Domseite in die Stadt gelangen konnte, gab es nicht, außer einem Fußweg über die Eisenbahnbrücke, etwas weiter westlich gelegen. Leider liegt mir kein Firmenverzeichnis aus dieser Zeit vor, das den Wert der Großen Oderstraße für den Fußgängerverkehr deutlich machte. Am Eingang, von der Lange Straße kommend, befand sich, wie man sieht, die Schlossapotheke. Die unmittelbare Nähe zum Schloss gab hier den Namen und unterstrich gleichzeitig die Wichtigkeit des Unternehmens. Möglicherweise wurde dem Besitzer dieser Apotheke das Recht dieser Namensführung vom Schlossherren verliehen, wie das damals üblich war.
Einen Friseur und eine Buchdruckerei hatte die Straße zu bieten, und bevor man von rechts kommend in die Große Oderstraße einbog, ging man an einer bekannten Glogauer Fleischerei mit Restaurant vorüber, der Fleischerei Wiercijewski.
Die Straße selbst hatte bereits einen Anteil zu bieten und war bei der Dombevölkerung begehrt und beliebt. Wie man sieht, gab es einen Friseur, eine Buchdruckerei und, wie mir persönlich bekannt ist, eine Bäckerei. Sie befand sich am unteren Ende auf der rechten Seite, an der Ecke zur Pfeffergasse, die hier nach rechts zum Dominikanerplatz führte. Eine sehr enge und düstere Straße, in die wohl niemals ein Sonnenstrahl fiel. Bäckermeister Krause, zugleich Innungsmeister der Glogauer Bäckerinnung, war hier anzutreffen. Soviel mir die Erinnerung an diesen Bäckerladen freigibt, soll es dort die wohl größten Glogauer Windbeutel gegeben haben. Mir selbst hat der Herr Obermeister Krause eines Tages eine Lektion erteilt, die ihm eigentlich nicht zustand..
Ich hatte mir als etwa 5 -jähriger Knabe auf einem Stück Papier, das ich rund in Markstückgröße ausgeschnitten habe, ein Hakenkreuz gemalt und mit einem roten Rand versehen, auf meinen Pullover geklebt. Was es damit auf sich hatte, habe ich in meiner kindlichen Unbedarftheit natürlich nicht gewusst.
Herr Krause, der mich kannte, winkte mich zu sich heran, und ich folgte artig seiner Aufforderung. Als ich vor ihm stand und voller Respekt zu ihm aufblickte, nahm er wortlos mein papiernes Abzeichen und warf es zu Boden, wobei er mir mit dem Zeigefinger drohte. Ich muss wohl auch verstanden haben, was das zu bedeuten hatte, wenngleich eine Erklärung des Herrn Obermeisters dazu bis heute ausblieb..
Die Große Oderstraße erlebte ich selbst nur beim flüchtigen Durchqueren auf dem Weg zur Oder. Als Kind dieser Stadt war die Oder für mich wahrhaft eine unverzichtbare Lebensader, die ich fast täglich im Sommer und im Winter berührte. Der Weg nach Kamerun führt zunächst über diese Straße und über die halbe Länge der Oderbrücke. Dort nämlich, wo die Brücke den Hafendamm überquerte, gab es eine Tür im Brückengeländer, die auf eine sehr steile Treppe führte. Am Ende der Treppe befand man sich auf dem sogenannten Treideldamm, der in östlicher Richtung nach Kamerun führte. Damals war Kamerun die einzige Freibadeanstalt am Oderufer. Odersand und Oderwellen, einige grasbewachsene Inseln für das Sonnenbad mit einem freien Blick auf das Panorama der Stadt. Von links über den Strom hämmerten die Niethämmer der Schiffswerft ihr tackendes Konzert, und man sah die Blitze der Schweißgeräte aufleuchten. Eine große Holzbaracke zum Kleiderwechsel und einen Bademeister gab es für 10 Pfennig Eintritt. Für uns, die des Schwimmens noch nicht kundig waren, gab es einen Bademeister, der eine abgesteckte Wasserfläche bewachte. Mit großem Vergnügen sahen wir den vorüberziehenden Schleppzügen zu, deren Schaufelraddampfer uns einen kostenlosen Wellenspaß ins Ufergewässer schickten. Das war der große Badespaß, den wir über die Große Oderstraße erreichten.
Der Krieg hat auch dieses Stück Glogau völlig ausgelöscht und seine Bewohner in alle Himmelsrichtungen vertrieben.

Glogau Große Oderstrasse


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