Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 2, Februar 2007

Der Treck von Rostersdorf

von Hans J. Gatzka

Als gegen Ende Januar 1945 die Rote Armee bei Steinau an der Oder die Front am Fluss durchbrach, wurde auch für die Rostersdorfer Bürger der Zusammenbruch letzter Hoffnungen und Illusionen zur Gewissheit. Das Fluchtgepäck, eine eilig und nicht selten ohne Sinn zusammengepackte Habe, wurde auf die Fahrzeuge verladen, und am 27. Januar kam in den frühen Morgenstunden das Zeichen zum Aufbruch. Die Menschen, die sich in diesem Tross bewegten, zu Fuß oder als Mitfahrer in irgendeiner freien Ecke eines Wagens, waren meist sehr alt oder sehr jung. Frauen, alte Männer und viele Kinder gehörten zu dieser traurigen Kolonne.
Männer im wehrfähigen Alter gab es im Ort schon seit Jahren nicht mehr. Nicht wenige dieser einst so fleißigen Menschen lagen bereits auf dem „Felde der Ehre", wie es damals hieß. Als sie gehen mussten, um im grauen Rock ihrem Vaterland zu dienen, begann schon einmal das große Leid und die stetige Angst um ihr Leben. Amputiert und zerrissen wurde Rostersdorf bereits, ehe es nun endgültig der Vernichtung entgegen ging.
Alles, was in Jahrhunderten geschaffen und mit Liebe erhalten wurde, war nun dem Schicksal von Feuer und Zerstörung preisgegeben. Der Krieg, von der Clique in der Reichskanzlei in die Welt getragen, schlug nun zurück. Er war nun hier auf unseren Feldern angekommen, deren Äcker von Granaten umgepflügt wurden.

Rostersdorf

Rostersdorf Winter
Als im Morgengrauen des 27. Januar das Signal zum Aufbruch dieser elendigen Kolonne kam, waren unter den Zugtieren nicht wenige, die von Natur dem nicht gewachsen waren, was auf sie zu kam. Die Straßen waren hart gefroren und mit Schnee bedeckt. Es herrschte klirrender Frost, dessen Härte auch den Menschen zu schaffen machte. Winterkleidung, wie wir sie heute in jedem einschlägigen Geschäft kaufen können, gab es damals nicht. Dass trotzdem nicht das Chaos ausbrach und alle Pläne zunichte machte, ist zwei tapferen Frauen zu verdanken, die mit Umsicht und festem Willen alles in ihrer Hand behielten.
Gräfin von Roedern und ihre Tochter Erdmute, die Bewohner des Rostersdorfer Schlosses, waren es, die dem Treck voran gingen und, wenn es nötig war, Zurückgebliebene wieder der Kolonne angliederten.
Fast 2 Monate war der Rostersdorfer Treck auf den Straßen unterwegs, rund 850 Kilometer. Jede Nacht ein anderes Quartier, eine andere Scheune für Mensch und Tier. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es manch` helfende Hand gab. 51 Tage gingen so ins Land, bis es letztlich in Oberfranken ein Finale gab. Noch heute wohnen viele Rostersdorfer und ihre Nachkommen in Forchheim und dessen Umgebung.
Die Geschichte des Trecks ist jedoch umgeben von Ereignissen, von Verlusten und schier unüberwindlichem Geschehen, dass an dieser Stelle auch daran erinnert werden soll:
Immer wieder gab es Verluste, vor allem bei den Tieren, aber auch bei den Wagen und Gerätschaften, deren Kräfte nicht mehr durchhielten. Sie mussten zurückgelassen werden und das Gepäck auf andere Fahrzeuge verteilt und ebenfalls aufgegeben werden. Durchgelaufene Hufe bei den Ochsengespannen gab es, insbesondere an der Bergstrecke nahe Kulmbach. Dort kapitulierten auch Pferdegespanne auf der vereisten Straße. Der Traktor musste liegen gelassen werden, auf dessen Hänger alte Menschen und Kinder untergebracht waren. 120 Kinder wurden von Flöha in Sachsen mit der Bahn nach Ölsnitz vorausgeschickt, um ihnen Tage voller Strapazen zu ersparen. Der Gräfin und ihrer Tochter ist es zu danken, dass sie, auf Fahrrädern des Weges, in Ölsnitz nach dem Rechten sahen und sich dort für die Unterbringung der Kinder einsetzten.
Die Bewohner des Dorfes, die zurückblieben, weil sie glaubten, dass ein Überleben auf dem eigenen Hof möglich ist, oder weil sie ihrem Alter gehorchen mussten, haben eine Hölle erleben müssen. Vergewaltigungen bis zum Tod durch Erschießen, das Niederbrennen aus purer Lust brachten Furcht und Entsetzen. Eine qualvolle Zeit, die nichts ließ wie es war.
Niemand wird jemals mit den Mitteln der Sprache das Leid dieser Menschen deutlich machen können. 4 Millionen haben dieses Schicksal erlitten, und etwa 1 Million davon fanden dabei den Tod, nicht selten auf grausamste Art und Weise.
Dass man im Deutschland unserer Tage den Mantel des Schweigens über das Geschehene ausbreitet, ist eine unverzeihliche Schuld. Wir wenigen Überlebenden müssen unsere Vergangenheit töten, wie man unsere Mitmenschen getötet hat.
Für die Unterstützung danke ich Frau Christa Schlurick, ihren Aufzeichnungen und Briefen und Hfrd. Erich Gliesche.

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