Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 1, Januar 2004

Das Reservelazarett in Glogau

Dr. Karl-Maria Heidecker

Unsere Heimatstadt Glogau war seit 1630 Festungsstadt. Auch nach der sogenannten ,,Entfestigung" 1903 blieb Glogau eine an Militär reiche Stadt mit vier Kasernen, einer Kriegsschule zur Heranbildung von Offizieren, einer Kommandantur, einem Proviantamt und einem Heeresbauamt und einer Heeresbäckerei. In der Hindenburg-Kaserne war das Infanterie-Regiment 54 untergebracht. Das Artillerie-Regiment 18 mit einer bespannten leichten und einer schweren Abteilung war in der Dom-Kaserne stationiert. In die Lüttich-Kaserne in Zarkau zogen 1936 zwei schwere Batterien der Artillerie ein. Nahe der Oder war das Pionierbatallion 18 angesiedelt. Bei so viel Militär war auch schon vor dem ersten Weltkrieg in Glogau ein Lazarett eingerichtet worden, das sogenannte Stern-Lazarett.

Mit der Vergrößerung der Garnison 1935 wurde ein neues Lazarett für Glogau geplant. Dieses Lazarett wurde im Süden der Stadt an der Herzog-Konrad-Straße errichtet. Es war gerade zum 1.9.1939 am ersten Tag des zweiten Weltkrieges bezugsfertig. Das Lazarett hatte eine chirurgische Abteilung, deren Chef mein Vater, Dr. med. Hanns Heidecker wurde, den man zum 1.9.1939 zur Wehrmacht einberief. Er hatte schon am Ende des ersten Weltkrieges beim MiIitär gedient und in den 30er Jahren einige Militärübungen als Reserveoffizier mitgemacht. Chef der inneren Abteilung des Reservelazaretts Glogau wurde Herr Dr. Walter Schulz. So weit ich weiß hatte das Lazarett auch eine Hals-, Nasen- und Ohren Abteilung und eine Abteilung für Hautkranke. Der erste Chefarzt des Lazaretts könnte Oberfeldarzt Kubis gewesen sein. Später wurde dessen Nachfolger der Oberfeldarzt Dr. Seeland. Nach genau dem gleichen Plan wie in Glogau war zur gleichen Zeit auch ein Lazarett in Liegnitz erbaut worden.

Dr. Med. Hanns Heidecker

Reservelazarett, Hauptgebäude

Reservelazarett, Gartenseite

zum Seitenanfang

Dr.med. Hanns Heidecker
* 12.5.1899 in Oberglogau
+ 4.9.1982 in Bingen/Rhein
Der Polen- und Frankreichfeldzug verliefen so schnell, dass es nur wenige Verwundete gab. Unter den Soldaten der Kasernen, die in der Regel gesunde junge Männer waren, kam es gelegentlich zum Auftreten einer Blinddarmentzündung oder zur Feststellung eines Leistenbruches, hin und wieder bei den Wehrübungen auch zu einem Unfall. Aber mit all dem war das Lazarett in seiner Kapazität nicht ausgelastet. Deshalb war es meinem Vater erlaubt, nach halbtägiger Tätigkeit im Lazarett noch seine beiden chirurgischen Abteilungen in den konfessionellen Zivilkrankenhäusern Glogaus im katholischen St. Elisabeth-Krankenhaus und im evangelischen Krankenhaus Bethanien zu versorgen und auch noch in seiner Praxis in der Promenadenstraße Sprechstunden für ambulante Patienten abzuhalten. Dies war ihm möglich durch gute Mitarbeiter und durch ein sehr gutes Zeitmanagement.

Schlagartig änderte sich diese Situation, als nach dem Beginn des Krieges gegen Russland im Sommer 1941 ab dem Winter 1941 die Zahl der Verwundeten und insbesondere auch die Zahl von Soldaten mit schweren Erfrierungen dramatisch anstieg. Das Glogauer Lazarett, das ursprünglich für eine Zahl von 450 Patienten ausgelegt war, konnte die vielen Verwundeten nicht mehr fassen. So wurden nach und nach die beiden konfessionellen Krankenhäuser, das bischöfliche Knabenkonvikt in der Promenadenstraße 15, später das evangelische Gymnasium, das Offizierskasino in der Tannenbergstraße, die Landwirtschaftsschule in der Königstraße und zuletzt die ganze Hindenburg-Kaserne des Infanterieregiments 54 in Teillazarette des Glogauer Reservelazaretts umgewandelt. Diese Teillazarette erhielten jeweils einen Facharzt für Chirurgie als leitenden Arzt. Im St. Elisabeth-Krankenhaus war dies Herr Dr. med. Franz Kampik, der nach dem Kriege Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des St. Elisabeth-Krankenhauses in Dillingen/Donau wurde, und der zurzeit noch dort lebt. Viele junge Glogauerinnen taten in dem Glogauer Lazarett mit seinen Teillazaretten Dienst als Krankenschwestern, so u.a. Frau Gisela Müller von der Promenadenstraße 13, die spätere Frau Senft, die am 12.9.2003 in Lauingen/Donau verstarb. Eine Woche vor ihrem Tode hatte ich sie noch besucht und mit ihr ein intensives Gespräch auch über das Lazarett in Glogau geführt.

Das neue Lazarett war insgesamt dreigeschossig. Im Eingangsbau befand sich in der Mitte des ersten Stockwerkes eine Kapelle, in der ich bei Sonntagsgottesdiensten einige Male als Messdiener gedient habe. Im rechten Flügel dieses Gebäudes lagen die Operationssäle und der Gipsraum. Die Krankenzimmer hatten meist sechs Betten und waren mit großen Fenstern hell und freundlich eingerichtet. Der Chirurg Dr. Hansheinrich Grunert, der als Verwundeter aus Russland 1943 in das Glogauer Lazarett kam, beschreibt in seinem 1962 erschienenen Buch ,,Der zerrissene Soldat" seine Ankunft im Glogauer Lazarett mit folgenden Worten: ,,Wie in einem Film rollten (während seines Transportes) erst die russische, fast schmerzliche Unermesslichkeit und bedrückende Melancholie, dann der ostbaltische Gleichmut und endlich die ostpreußische Stille an den Augen vorbei, und schließlich nahmen uns schlesische Heiterkeit und Freundlichkeit wohltuend auf. Durch das Lazarettfenster winkte das schlesische Land herein. So glitt ich mit behutsamen Ruderschlägen in den deutschen Lenz des Jahres 1943. Da waren mit einem Male behagliche helle Räume, Ordnung, Sauberkeit und klare offene Gesichter. Der Gegensatz zur russischen Trübsal war nie schärfer in mein Bewusstsein getreten."

Das Reservelazarett Glogau hatte mit all seinen Teillazaretten 1943 /44 insgesamt 4.500 Patienten zu betreuen. Dabei gab es spezielle Stationen für besondere Verletzungsarten. Die Schwerstverletzten und die zu Operierenden wurden im Hauptlazarett und in den beiden konfessionellen Krankenhäusern untergebracht, wo entsprechende Operationssäle zur Verfügung standen, während die Nachbehandlung dann in den zu Lazaretten umfunktionierten Schulen oder dem Konvikt und dem Offizierskasino durchgeführt wurde.

zum Seitenanfang

Reservelazarett, Hauptgebäude ca. 1943
Die oben genannte Schwester Gisela Müller war Stationsschwester auf der Station für Lungenverletzungen. Dr. Grunert, der nach seiner Genesung von meinem Vater als Arzt in das Lazarett übernommen worden war, schreibt in seinem Buch dazu: ,,Unsägliche Beschwerden für die Verletzten und viele Mühen für uns brachten die großen übelriechenden Eiterhöhlen mit sich, die Lungen- und Brustverletzungen meist hinterließen in dieser Zeit, in der es noch keine Antibiotika gab. Diese oft eine ganze Brustseite einnehmenden starrwandigen, jauchenden Hohlraumbildungen waren oft die Ursache widerwärtiger Vergiftungserscheinungen und äußerst bedrohlicher Herzstörungen. Wir versuchten durch ständiges Spülen und Absaugen, die Höhlen zu säubern und zu verkleinern. In einzelnen Fällen gelang es auch, sie auf diese Weise zur Ausheilung zu bringen. Meist aber waren dazu große, verstümmelnde operative Eingriffe nicht zu umgehen." Einer dieser Verletzten, die in Glogau behandelt und von Schwester Gisela betreut wurden, war Herr Jacob Heuser, der meinem Vater noch heute dankbar dafür ist, dass er mit seiner schweren Lungenverletzung so gut behandelt wurde, dass er später Opernsänger werden konnte.

Auf einer anderen Sonderstation wurden Verletzte mit sog. traumatischen Aneurysmen betreut. Hierbei wurde durch einen Granatsplitter die Wand einer Schlagader teilweise angerissen, so dass sich an dieser Stelle eine dünne Aussackung der Gefäßwand bildete, die platzen und zu tödlicher Blutung führen konnte. Mein Vater hat solche Patienten durch schwierige Operationen behandelt in einer Zeit, in der es noch kein atraumatisches Nahtmaterial, keine Gefäßprothesen und keine Antibiotika gab, so dass, wie Dr. Grunert berichtete, immer wieder Infektionen nach solchen Verletzungen auftraten. Mein Vater leistete auf diesem Gebiet erfolgreiche Pionierarbeit und konnte mit der von ihm entwickelten Operationstechnik viele dieser Verletzten retten. Verwundete mit dieser Verletzungsart wurden aus ganz Niederschlesien auf diese Abteilung verlegt. Notwendig war für diese Behandlung der Aufbau eines funktionierenden Blutspendedienstes, der in Händen von Herrn Dr. Hermann Schmücker lag. Es gab damals noch nicht die Möglichkeit, Blut zu konservieren. Das Blut musste im Bedarfsfall direkt vom Spender zum Empfänger übertragen werden. In der Stadt Glogau wurde eine ausreichende Zahl von Blutspendern erfasst, die auf Telefonanruf zur Blutspende kamen. Im Herbst 1944 konnte Herr Dr. Schmücker mit seinem Blutspendedienst die tausendste Bluttransfusion feiern.

Deprimierend war dagegen der Dienst auf der Sonderstation für Querschnittsgelähmte, weil man damals noch keine Möglichkeit gefunden hatte, diesen Schwerstverletzten ein Überleben zu sichern. Dr. Grunert berichtet: ,,Die Rückenmarksverletzten mit ihrer Störung von Darm- und Blasenfunktion und ihrer gefürchteten Neigung, sich durchzuliegen und septische Zustände zu bekommen, erforderten eine hingebungsvolle Pflege."

Mein Vater verstand es, unter seinen Patienten solche herauszufinden, die die Arbeit im Lazarett verbessern konnten. Als alle mit dem Essen unzufrieden waren, entdeckte er den Chefkoch eines großen Wiener Hotels. Der durfte sich über die Einrichtung der Küche und über die angelieferten Mengen und Qualitäten der Verpflegung genau informieren. Es stellte sich heraus, dass das Lazarett genug an guter Nahrung erhielt, und dass nur das KüchenpersonaI nicht in der Lage war, daraus ein schmackhaftes und auch abwechslungsreiches Essen zuzubereiten. So erreichte mein Vater, dass dieser Chefkoch nach seiner Ausheilung die Leitung der Lazarettküche übernehmen konnte. Danach waren alle Patienten und Mitarbeiter mit dem Essen sehr zufrieden.

zum Seitenanfang

Reservelazarett, Gartenseite Sommer 1980
Mein Vater war nicht nur der leitende Arzt für alle chirurgischen Patienten der Glogauer Lazarette, sondern er wurde zum Hauptchirurgen bestellt. Das war kein militärischer Rang, sondern eine ärztliche Funktionsstellung. Er war damit beratender Chirurg für mehrere Lazarette in Nachstädten, wie Neusalz und Grünberg. Diese Lazarette musste er in bestimmten Zeitabständen besuchen, bekam dort schwierige FäIIe vorgestellt, zu denen er seinen fachlichen Rat geben musste. Er konnte auch bestimmen, diese Verwundeten in sein Lazarett zu übernehmen. Damit war er herausgehoben über die übrigen Abteilungsleiter als ein besonders erfahrener und zuverlässiger Chirurg. Um diesen enormen Anforderungen gewachsen zu sein, hatte er einen Stab sehr guter Mitarbeiter um sich geschart. Leiter seines Schreibbüros waren der Berliner Rechtsanwalt Alfred Rosenthal und der Dresdner Volksschullehrer Herbert Richter. Seine Sekretärinnen konnten so schnell mit stenographieren, wie mein Vater sprach. Wenn neue Lazarettzüge von der Front aus Russland ankamen, wurde oft Tag und Nacht durchoperiert, um durch akut notwendige Operationen noch erfolgreich behandeln zu können. Dr. Grunert berichtet dazu: ,,Wir hatten von Verwundung und heimtückischer Infektion verwüstete Gliedmaßen in hoher Zahl zu amputieren, um das Leben noch zu retten. Manchmal kamen wir zu spät, weil die Verwundeten nicht rechtzeitig bei uns eingetroffen waren. An manchen Tagen mussten wir, wenn ein Lazarettzug angekommen war, Arme und Beine zu Dutzenden aus ihren Gelenken herauslösen, damit nicht die Infektion auf den Rumpf übergriff und den Menschen vernichtete."

Bei der Glogauer Hitlerjugend war ich seit 1941 Feldscher, also in der Sanitätseinheit. Diese wurde 1942/43 an Wochenenden zu Hilfsdiensten im Lazarett herangezogen, so zum Wickeln gewaschener Mullbinden und zum Drehen von Mulltupfern.

Als im Januar 1945 vom militärischen Oberkommando Glogau zur Festung erklärt wurde, erhielt mein Vater den Befehl, alle Verwundeten mit improvisierten Lazarettzügen nach Mitteldeutschland zu transportieren. Ärzte, Sanitäter und Schwestern seines Glogauer Lazaretts begleiteten diese Lazarettzüge. Nachdem diese logistisch schwierige Aufgabe gut gelöst war, musste er am 23. Januar sein ganzes Reserve-Lazarett an die nachrückende Besatzung eines Kriegslazarettes übergeben. Er selbst mit seiner Restbesatzung von 16 Mann musste sich zuerst in Sachsen melden, danach wurde er nach Halle kommandiert, wo er erneut leitender Chirurg eines Lazarettes wurde. Die ihm zugeteilten Verwundeten waren in dem Gymnasium Thomasius-Schule und mehreren Turnhallen untergebracht. Operationen mussten in Hallenser Krankenhäusern vorgenommen werden. Aber es fehlte meinem Vater an Instrumenten und medizinischer Ausrüstung. So versuchte mein Vater erst in medizinischen Geschäften in Halle Instrumente zu kaufen. Da das am Ende des Krieges nicht sehr erfolgreich war, schickte er ein Kommando seiner Leute nach Glogau, um von dort nach Möglichkeit Instrumente und medizinische Ausrüstungsgegenstände herauszuholen. Dies gelang aber nur in geringem Umfang, weil die Besatzung des nachgerückten Kriegslazarettes nach sehr kurzem Aufenthalt in Glogau den Hauptteil der Ausrüstung mit abtransportiert hatte. Dass mein Vater dann im April 1945 maßgeblichen Anteil an der Rettung Halles vor der angedrohten Zerbombung hatte, habe ich in einem eigenen Artikel im Neuen Glogauer Anzeiger 1998 beschrieben.

Dr. Karl - Maria Heidecker

zum Seitenanfang