Victor de Lucas Eiswagen

Firma Oskar Tscharnke

Haushaltswarengeschäft

Maßanfertigung von Stiefeln und Schuhen

Friseursalon für Damen und Herren

Uhrmacher Schubert

Bäckerei Münzberg

Meissner Liköre

Werkstätten und Hintergebäude
„Im Winkel”

Fleischereien in der „Preußischen”

Pelzwaren-, Hüte-, Militäreffektengeschäft Konrad Volkmer

Firma Otto Kotzem, Elektromeister

Neuer Glogauer Anzeiger, Nummer 4, April 2001

Die Preußische Straße – Erinnerungen

Reisenden in ihre schlesische Heimat, auch als "Sehnsuchtstouristen" apostrophiert, die in den zurückliegenden Jahrzehnten ihre Heimatstadt Glogau oder von dort aus die Heimatorte im Glogauer Umland besuchten, wird auch ein Blick in die Preußische Straße in Erinnerung sein.

Bis zum Beginn der 90er Jahre war sie in der trostlosen Trümmerlandschaft der ehemaligen Altstadt kaum erkennbar. Später, als man begann die Fundamente freizulegen, säumte beiderseits eines Trampelpfads ein Labyrinth von Kellern die Strecke bis zum Markt. Inzwischen erhebt sich über den alten Grundmauern Haus an Haus und bildet das Gesicht einer Straße. Suchend und vergleichend gehen wir durch dieses einst so lebendige Stück Glogau – suchend nach dem Altvertrauten. Die Straßenführung mit der leicht nach rechts schwingenden Sichtachse über den Markt bis hin zu den abschließenden Türmen der Jesuitenkirche ähnelt verblüffend unserem Erinnerungsbild. Und doch will sich das Gefühl nicht einstellen zu Hause zu sein. Es ist eine fremde Straße, die sich da auftut. Kein Stein spricht noch unsere Sprache. Das einst so Geliebte ist erloschen.

Der Niedergang dieser Straße, zu unserer Zeit voller geschäftigen Treibens, war so verheerend endgültig, dass eine andere Erwartung auch kaum realistisch wäre. Die „Preußische” wurde, wie alles was dieser Stadt ihr liebenswertes Gesicht gab, für immer ausgelöscht.

Uns, die wir inzwischen zu den Letzten zählen, die das Antlitz dieses Glogauer Pflasters gesehen und erlebt haben, ist es gegeben, sie in unserer Erinnerung noch einmal aufleben zu lassen.

Gehen Sie, liebe Heimatfreunde, noch einmal mit mir durch die „Preußische” und schauen wir gemeinsam nach rechts und links auf unserem Spaziergang vom Eingang am Preußischen Tor bis hin zur Marktecke. Von Westen, also von der Hohenzollernstraße kommend, möchte ich hier und dort verweilen und in die Erinnerung rufen, was es bemerkenswertes oder auch ganz banales dort zu sehen gab.

Bis in meine Kindheit zurückblickend, wäre, bevor ich die Straße betrete, auf der rechten Seite ein unübersehbares Gefährt zu erwähnen, nämlich der Eiswagen von Victor de Luca. Ein bunter, kastenartiger Karren auf zwei Rädern. Obendrauf gllänzend zwei oder drei silbern schimmernde Hauben, unter denen sich seine Eissorten befanden. Aus einem Deckelkasten zwischen den Schiebedeichseln des Wagens entnahm Herr de Luca die Waffeln oder Tüten. Für 10 oder 20 Pfennig gab es eine Portion des süßen Labsals.

Hans J. Gatzka, Die Preußische Straße. Ein Klick auf das Bild führt Sie zu einer vergrößerten Darstellung.

Sicher ist es meinen Eltern nicht gelungen, an dieser Eiskarre vorbeizukommen, ohne eine Tüte Himbeer oder Vanille zu spendieren. Herr de Luca war ein großer, breitschultriger Adonis. Er trug einen Oberlippenbart und eine weiße Mütze mit ebensolcher Jacke. Ein richtiger Italiener an der Ecke zur Preußischen Straße. Wenn ich meine Himbeereistüte in der Hand hatte, war mir das aber ziemlich egal.

Betrat man nun endlich die Preußische Straße, lag zur Linken an der Ecke Grütznerstraße das Haus der Firma Oskar Tscharnke, kurz die Tscharnke-Ecke genannt.

„Seit 1862 Tscharnke-Liköre” war überaus werbewirksam an der Fassade des Hauses zu lesen, dessen Giebelseite sich dem Preußischen Tor bzw. der Hohenzollernstraße zuwandte. Der Eingang in dieses alkoholträchtige Gebäude, das so etwas wie eine Oase des „Kleinen Mannes” war, lag an dieser Frontseite. Vornehmlich am Freitag kamen dort die Glogauer Lohntüten in Gefahr.

Gegenüber dem Ausschank geistiger Getränke gab es Haushaltswaren jeglicher Art. Ich sehe noch heute die an der Hausecke zur Alten Wallstraße befestigten und aufgestellten Exemplare. Von der Zinkwanne bis zur Trittleiter bot sich da vieles feil.

Ein Meisterbetrieb für die Maßanfertigung von Stiefeln und Schuhen, später Fischgeschäft, war im gleichen Hause.

Gleich nebenan ein Friseursalon für Damen und Herren. Der Messingteller, immer blitzblank poliert, verkündete weithin dieses altbekannte Gewerbe des Barbiers. Die Damen und Herren der Zunft trugen damals übrigens noch weiße Mäntel mit blauem Oberkragen als äußeres Zeichen ihres Berufsstandes.

Es mag sein, dass meine Erinnerungen einige Lücken haben, ich meine jedoch, dass ich nun an einem kleinen Uhrmacherladen angekommen bin, den man seitlich über einen Hausflur betrat. Der Inhaber, Herr Schubert, war ein kleiner Mann, der immer seine Uhrmacherlupe im Gesicht trug. Der kleine Geschäftsraum, der zugleich Werkstatt war, wurde vom hundertfachem Ticktack der vielen Uhren erfüllt. Sie hingen an allen verfügbaren Wänden im Raum und machten ihr tickendes Konzert. Der Meister schien stets damit beschäftigt, irgendwelchen Zeitmessern zu neuem Leben zu verhelfen. Meine erste Armbanduhr, die ich just unter dem Weihnachtsbaum fand, ging irgendwann auch durch seine heilenden Hände. Bis nach Kurland hat sie mich vier Jahre über viele andere Fronten Russlands begleitet, bis es am Ende einem Rotarmisten gefiel, mich auch davon zu befreien. Ich hoffe und wünsche ihm gute Zeiten!

In der Nachbarschaft von Meister Schubert gab es Gebackenes. Die Bäckerei von Richard Münzberg tat sich auf. Bäckerei Münzberg war stadtbekannt und seine Frau, die Seele vom Geschäft, stand persönlich und sehr ahnsehnlich hinter der Backwarentheke. Mein erstes, zartes Geheimnis, so möchte ich es hier einmal freizügig gestehen, war des Bäckers Töchterchen – und das kam so: Es mag wohl an einem meiner sehr frühen Geburtstage gewesen sein, als sie zu meinen Gratulanten zählte. Der Clou war ihr Präsent in Form einer Riesentüte Apfelsinen, die ebenfalls von bisher unbekannter Größe für mich waren. Es muss wohl zu der Zeit gewesen sein, als die sogenannten Navelfrüchte auf den Markt kamen. So tief beeindruckend konnten damals Südfrüchte sein! Das „Pfefferminzbergel” , wie ich meinen weiblichen Apfelsinengast genannt haben soll, muss mir aber auch aus einem anderen Grunde tief imponiert haben. Sie hatte wohl an diesem Tage vermutlich die Parfümflasche ihrer Mama ein wenig zu weit aufgedreht.

Münzbergs, die über dem Geschäft ihre Wohnung hatten, besaßen auch ein Grammophon. Das erste, das ich je sah und vernahm. Es war in einem hohen Schrank mit einem aufklappbaren Oberteil für den Plattenteller installiert. Einfach ein musikalisches Monstrum aus poliertem Holz. Eine kleine Blechschachtel enthielt die Stahlstifte oder Nadeln für den Tonabnehmer. Die Schallplatten waren sehr empfindliche Scheiben von einigem Gewicht, deren Lebensdauer sich in dem Maße verkürzte, wie man es unterließ, die Nadel korrekt zu wechseln. Spätestens am Sound, wenn man es einmal so nennen soll, merkte man, wie stumpf die Nadel war.

Scharfe Getränke gabe es auch hinter der Hausnummer 32. Die Destillation von Augustin Meissner befand sich dort. Ein Schaufenster voller großer und kleiner Flaschen mit hochprozentigen Inhalten, mit Probierstube, die man von der Straße her betreten konnte, gehörte mit zu diesem Betrieb. Die zahlreiche Laufkundschaft, besonders an Markttagen, mag den feuchten Tresen wohl öfter mal schwankenden Schrittes verlassen haben.
Zum Teil reichten die Hinterhöfe der Häuser an der Preußischen Straße in der Tiefe bis in eine schmale Gasse, die von der Alten Wallstraße abzweigte. „Im Winkel” hieß die recht unscheinbare Sackgasse. In diesen Hinterhöfen befanden sich die Werkstätten, Wurstküchen und sonstige Gewerberäume der Geschäfte von der „Preußischen”.

Gleich drei Fleischereien waren zwischen der Ecke Alte Wallstraße und Mohrenstraße angesiedelt. Paul Blume, Max Wolf und Paul Mittelstaedt betrieben ihr Handwerk dort. „Frische Blut- und Leberwurst”, fein säuberlich in rot und Kreuzstich auf weißem Leinen gestickt, so stand es auf der Fahne zu lesen, die am Schaufenster hing. Oder vielleicht: „Heute Wurstsuppe”! Mit solchen Mitteilungen zeigten sich die Schlachttage an. Wurstsuppe war nichts anderes als der Kesselinhalt nach Beendigung der Kochwurstproduktion, die Kochbrühe, in der sich die Füllung der geplatzten Würste mit der Brühe des Kochfleisches zu einer recht schmackhaften und fettreichen Suppe verband. Da schwammen die Fettaugen nicht nur obendrauf. Die Fleischereien gaben diese sehr begehrte und beliebte Löffelmahlzeit umsonst aus.

Pelzwaren-, Hüte-, Mützen- und Militäreffekten-Geschäft von Konrad Volkmer, so der Firmentitel im nächsten Haus. Glogau war Garnisonsstadt und der Bedarf an sogenannten Militäreffekten war vermutlich riesig. Vom Unteroffizier an aufwärts trug man Extrauniformen. Von oben bis unten, einschließlich der Stiefeletten, brillierten die Litzen, Biesen und sonstige Aufnäher in Silber oder gar in Gold. Die pelzgefütterten Mäntel der Herren Offiziere oder die schlicht-eleganten Nutrias oder Persianer der Damen. Das alles konnte Herr Volkmer im eigenen Atelier anfertigen. In der Auslage an der Preußischen lagen die Edeldinge, in Schönheit reizvoll drapiert.

Herr Volkmer hat den totalen Niedergang seiner Existenz aus nächster Nähe miterleben müssen.

Im gleichen Hause, dessen Hinterhaus bis zur Straße „Im Winkel” durchgängig war, hantierte der Herr Victor de Luca mit seinen fruchtigen Mixturen an der Eismaschine. Mit der Hand wurde der Eisbottich in Drehungen versetzt, was sicher nicht ohne Anstrengung war. Aus respektvoller Entfernung habe ich ihm manchmal dabei zugeschaut. Immer in der Hoffnung mal probieren zu dürfen.

Radios und alles, was damals schon Musik aus dem Äther empfing, gab es bei der Firma Otto Kotzem, Elektromeister. „Saba”, „Mende” oder „Blaupunkt”, so hießen die Radioempfänger wohl in unserer Zeit. Manche dieser Produkte sahen aus wie kleine Mausoleen. Auch aus einem Kasten in echtem Schweinslederdesign konnte man den Reichssender Breslau hören. Sicherlich hat der Meister auch schon mal das elektrische Bügeleisen oder den heimischen Lichtschalter repariert.

Hans Gatzka
Fortsetzung im NGA 01/05

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